Meinungen

23.11.2015: Tausende Flüchtlinge landen täglich auf Lesbos an, meist unter dramatischen Umständen. Nur dank der internationalen Helfer gerät die Lage nicht völlig außer Kontrolle. Menschen aus vielen Nationen arbeiten Hand in Hand. Tamino Wecker aus München ist einer von ihnen. Er berichtet aus Lesbos:


Geschrei. Das kleine Schlauchboot ist angekommen. Panisch hüpfen die Menschen heraus. Erleichtert, dass sie die 15-kilometerweite Odyssee, vom türkischen Festland zur Ostküste der Insel Lesbos, überstanden haben, helfen sie ihren Familien und Freunden aus dem Boot. Unsere Aufgabe ist es, den Kindern, den Alten und den Behinderten zu helfen.

„Excuse me? Do you have clothing for my baby?“ fragt mich eine Frau mit ihrem gerade mal ein- bis zweijährigem Kind auf dem Arm. Das Kind zittert am ganzen Leib. Ich beschreibe ihr den Weg zur Kleidungsausgabe.

Ein Mann bittet mich seinem Freund aus dem Boot zu helfen. Mit seinen Händen versucht er mir mitzuteilen, dass sein Freund blind ist. Ich helfe dem Blinden aus dem Boot und vergewissere mich, dass es ihnen gut geht.

Eine junge Frau rennt weinend umher. Sie sucht ihr Kind, das sie im Gedränge verloren hat. Nach wenigen Minuten finde ich ihr weinendes Kind. Nachdem ich es ihr zurück brachte, sehe ich Erleichterung in ihren Augen. Mit ihren eingeschränkten Englischkenntnissen bedankt sie sich bei mir von Herzen.

Viele Geschichten wie diese spielen sich auf der griechischen Insel Lesbos und auf dem weiteren Leidensweg der Flüchtlinge durch Europa, ab. Nicht alle dieser Geschichten enden mit einem happy-end. Allein in den fünf Tagen die ich dort verbracht habe, sind vier Menschen gestorben, darunter ein Kind. Es ist eine Insel voller Elend und nur wenige fleißige freiwillige Helfer aus ganz Europa sind hier um den Menschen zu helfen. Diese werden von der griechischen Bevölkerung tatkräftig unterstützt, denn in Griechenland und insbesondere auf Lesbos mit seinen 87.000 Einwohnern erlebt man eine weltoffene Gesellschaft. Vielleicht liegt es auch daran, dass mehr als 30.000 Flüchtlinge aktuell vor Ort sind. Und dass Angst meistens die Angst vor dem Unbekannten ist, ist ja auch daran zu erkennen, dass in Dresden, der Stadt wo sich laut Studien mehr als 60 % als „Asylkritiker“ bezeichnen, gerade mal 4,9 % der Bürger Ausländer sind. Jedenfalls habe ich noch nichts von einer griechischen Pegida gehört, und wenn es doch so etwas gibt, dann stoßen sie jedenfalls auf wenig Verständnis Seitens der griechischen Bevölkerung.

Auf dem kleinen Strand, bei dem Fischerdorf Molivos kommen täglich bis zu zwanzig vollgestopfte Boote an, welche empfangen werden müssen. Unser kleines Auffanglager ist sehr provisorisch gestaltet. Eine Küche wo Suppe und Tee gekocht werden, ein Container wo die Ärzte den Kranken und Verwundeten helfen, eine Kleiderausgabe wo man etwas Trockenes zum Anziehen bekommt und ein sehr kleines Camp zum Schlafen. Dieses Camp dient nur dazu, den Menschen Schutz für gerademal eine Nacht zu bieten, dann müssen sie auch schon weiter zum Registrierungscamp. Es gibt Busse, welche sie dorthin bringen - doch wir mussten an die gesunden Männer und Frauen appellieren zu Fuß zu gehen, damit es noch Platz für die Hilfsbedürftigen gibt.

 

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Giannis Mouzalas, Griechenlands Minister für Migrationspolitik:

"Es ist sehr wichtig, dass man in Deutschland versteht, was hier geschieht. Man hat Griechenland beschuldigt, nicht angemessen auf die Krise zu reagieren. Aber wir versuchen, alle unsere Verpflichtungen gegenüber Europa zu erfüllen. Etwa achtzig Prozent der Ankommenden sind Flüchtlinge, nicht Migranten. Von den Flüchtlingen wiederum kommt die Mehrheit, etwa sechzig Prozent, aus Syrien. Ungefähr ein Fünftel stammt aus Afghanistan. Aber wenn ein Boot auf eine Insel zusteuert, lässt sich nicht erkennen, wer von den Passagieren Migrant und wer Flüchtling ist. Auf See können wir nicht unterscheiden zwischen Einwanderern und Flüchtlingen. Es gibt auf See auch keine Möglichkeit, die Menschen zurückzuschicken, denn sie nehmen ein Messer und schlitzen ihre Boote auf, und dann müssen wir sie retten. Das ist oft geschehen. Gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention, den Gesetzen Europas und unseres Landes müssen wir den Menschen einen humanitären Ausweg aus ihrer Lage ebnen. Es ist illegal, sie abzuweisen. Wir müssen die Leute retten, und dann erst können wir sie identifizieren. Jedes andere Land, das unsere Grenzen hätte, stünde vor der gleichen Schwierigkeit. ...
Eine erste Identifizierung findet also auf den Inseln statt, und danach werden die Menschen in die Aufnahmelager auf dem Festland gebracht, wo das Verfahren abgeschlossen wird. Manche verlassen das Land allerdings vorher illegal, aber wir können die Menschen nicht von Soldaten bewachen lassen. Wir werden unser Land nicht in ein Konzentrationslager verwandeln. Wir haben nicht vor, die Leute einzusperren.
"
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In derselben Nacht, in der wieder mal ein Boot gesunken ist und zwei Menschen starben, haben ein junger Schweizer, eine Münchnerin und ich, einen schwer erkrankten Achtzehnjährigen ins Krankenhaus gebracht. Er war so erschöpft, dass er es nicht einmal schaffte sein Alter zu nennen, sondern es mit letzter Kraft an die beschlagene Scheibe des Autos schrieb. Danach haben wir eine syrische Familie auf einer Landstraße gefunden, welche wir in das nächste Camp brachten.

Dieses war ein unbekanntes Camp, niemand von uns hatte auch nur davon gehört. Wir fanden heraus, dass es hier keine Helfer gab. Die Flüchtlinge waren in diesem riesigen Camp sich selbst überlassen. Nur wenige bekamen einen Platz in den vielen Zelten. Obwohl ich Atheist bin, kann ich diesen Ort nur als einen von Gott verlassenen Ort beschreiben. Die Fliehenden hier sind ausgelaugt, haben keine Kraft, kein Geld, keine Heimat. Es berührt einen. Manchmal fließen auch mir, einem verwöhnten Jugendlichen aus Deutschland, die Tränen, wenn ich dieses Elend zu sehen bekomme. Dieses Elend, das so einfach verhindert werden könnte, wenn die Menschlichkeit einen höheren Stellenwert als der Profit hätte.

Diese eigentlich so malerische Insel Lesbos, ein beliebter Urlaubsort für Deutsche, verkörpert aktuell einen Ort voller Leid. Es ist unbegreiflich, dass es hier in Deutschland Menschen gibt, die einfach weg schauen, oder womöglich noch dagegen auf die Straße gehen, dass diesen Menschen geholfen wird. Ich rate jedem „besorgten Bürger“ oder „Asylkritiker“ sich umgehend auf den Weg zu machen und sich ein Bild davon zu machen, wie es heute in Griechenland und auf dem Balkan aussieht. Wenn sie auch nur einen Funken Anstand im Leibe haben, dann bezweifle ich, dass sie sich dann noch montags an den abendlichen Hetzveranstaltungen beteiligen würden.

Natürlich ist unstrittig, dass die große Zahl von Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben werden und in Europa und Deutschland Schutz suchen, erstmal eine enorme finanzielle und logistische Herausforderung ist. Aber die Wirtschaftskraft Deutschlands reicht leicht aus, um diese Herausforderungen zu bewältigen, ohne dass bei den Armen gekürzt werden müsste. Es ist nicht die Frage, ob "Deutschland das schaffen kann", sondern ob die Regierenden dies wollen. Und sind nicht gerade die Länder, die mit ihrer Wirtschaftspolitik, ihren Waffenlieferungen und Versuchen des "regime change" zu diesem Elend in den Fluchtländern beitragen, geradezu verpflichtet, die Flüchtlinge würdig aufzunehmen? Doch die Europäische Union, die ihre "europäischen Werte der Humanität und Solidarität" in Feiertagsreden vor sich herträgt, zieht die Festungsmauern hoch, sperrt die Menschen aus und macht das Mittelmeer zu einem Massengrab.

Es geht nicht nur um eine wirtschaftliche oder politische Angelegenheit, sondern es geht vor allem um Menschlichkeit; um die Empathie und den gesunden Menschenverstand, den Ärmsten der Armen zu helfen. Das sind die universellen Werte, die wir verteidigen – ob Christ, Moslem oder Atheist.

Tamino Wecker


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