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Oktoberrevolution07.11.2017: Im Jahr 1990, die Gegenrevolution war in vollem Gange, beschäftigte sich Thomas Metscher mit ersten Schlussfolgerungen aus "dem Scheitern des etatistisch-administrativen Sozialismusmodells … für die Entwicklung einer komplexen, historischen wie aktuellen Anforderungen Rechnung tragenden Revolutionstheorie". Wir veröffentlichen diesen Text anlässlich des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution.

 

 

 

ÜBERLEGUNGEN ZUM REVOLUTIONSBEGRIFF

I.

Revolution - was heißt das? Für einen an Marx anschließenden Revolutionsbegriff meint «Revolution» mehr als ein isoliertes Ereignis politischer Machtergreifung oder politischer Gewalt, mehr auch als den durch dieses Ereignis bewirkten Wechsel der Produktions-, Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse. Revolution meint, historisch-materialistisch verstanden, Bruch, Umbruch und Neuformierung einer ganzen gesellschaftlichen Formation, darin eingeschlossen: der ganzen Lebensweise (der Begriff verstanden im Sinne neuerer Kulturtheorie) der in dieser Gesellschaft lebenden Menschen. Revolution bezieht sich also auf eine differenzierte Totalität von Ökonomie, Politik und Recht, Alltag und Lebensweise, Kultur und Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Religion. Dabei ist nicht an ein Modell hierarchischer Schichten gedacht, sondern an ein vermitteltes, strukturiertes, in sich differenziertes, sich prozessual bewegendes Ganzes, in dem die Produktionsweise allein den Charakter einer «Determinante letzter Instanz» (Engels) besitzt: einer fundierenden, doch nicht im einzelnen determinierenden oder gar die Entwicklung des Ganzen prädestinierenden Struktur. In diesem Sinn allein kann von Einheit und Ganzheit einer ökonomischen Gesellschaftsformation gesprochen werden.

Die den historisch-materialistischen Revolutionsbegriff auszeichnende Qualität von Bruch, Umbruch und Neuformierung ist dabei als prozessual (nicht solitär), d. h. als Resultat und, bewirkender Vorgang, oft auch als Prozess in langen Zeiträumen vorzustellen. So bezieht sich Marx' revolutionstheoretischer Grundbegriff einer «Epoche sozialer Revolution» (Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort, MEW, Bd. 13, S. 9) auf die qualitative Umgestaltung des gesellschaftlichen Ganzen als langfristigen geschichtlichen Prozess. Auch die Französische Revolution etwa, gerade in ihren europäischen, ja weltgeschichtlich-globalen Folgen kann nur dann angemessen verstanden werden, wenn sie als Resultat eines langfristigen Prozesses und zugleich als wirkendes Glied in diesem Prozess, als Ursache weiterführender Veränderungen begriffen wird. In dieser Perspektive stellt sich die Geschichte der Neuzeit als ein - von Phasen der Stagnation oder Restauration unterbrochener - Prozess revolutionärer Kontinuität dar: ein Prozess mit stationären, evolutionären, auch regressiven Zwischenphasen («Restaurationen»), in dessen Verlauf erst sich die neuzeitliche, bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft als distinkte Formation herausbildete. So verstanden, kann die gesamte europäische Geschichte vom ausgehenden Mittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als Epoche der revolutionären Formierung der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet werden.

Die Phasen dieses Formationsprozesses lassen sich (schematisch vereinfacht) wie folgt rekonstruieren:

  1. Renaissance und Reformation (nach Engels die «Revolution Nr. 1 der Bourgeoisie») unter Einschluss des Befreiungskampfs der Niederlande gegen Spanien,
  2. die Englische Revolution des 17. Jahrhunderts (dem geschichtlichen Inhalt nach erster Typus einer «klassischen» bürgerlichen Revolution),
  3. die Große Französische Revolution von 1789,
  4. die Juli-Revolution von 1830 sowie die Revolutionen und Erhebungen des Jahres 1848.

In dieser Entwicklung nimmt die Französische Revolution einen markanten Platz ein: als Punkt eines entscheidenden epochalen Umbruchs von weltgeschichtlichen Ausmaßen - weniger als singuläres (französisches) Ereignis, denn in ihrer historischen Wirkung. Und doch ist das Zeitalter, in dem sie steht - die Periode zwischen sagen wir, 1760 und 1830/32/1848 -, nicht mehr als eine Phase in einem umfassenden epochalen Formierungsprozess, ein Teil des Konstitutionsprozesses der bürgerlich-neuzeitlichen Gesellschaft als einer distinkten gesellschaftliche Formation. In seinem ökonomisch-sozialer kulturellen und geistigen Profil ist dieser Zeitraum nicht minder tief von einem zweiten Ereignis revolutionärer Qualität und Dynamik geprägt: der Industriellen Revolution, die sich ab 1760/75 zuerst und paradigmatisch in England vollzieht. Mit großer Berechtigung spricht Eric Hobsbawm daher von einer «Doppelrevolution», die dem gesamten Zeitalter bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein sein unverwechselbares Gepräge, seine geschichtliche Individualität verleiht (Hobsbawm, The Age of Revolution).

II.

Behauptet wird von mir also der formationsgeschichtliche Charakter des historisch-materialistischen Revolutionsbegriffs. Danach heißt Revolution qualitative Umgestaltung einer ganzen Gesellschaft, und zwar sämtlicher Bereiche der gesellschaftlichen Formation: Ökonomie, Politik und Recht, Wissenschaft und Philosophie, Künste, Kultur und Lebensweise. Diese Transformation reicht in Formen individuellen Lebens hinein, ja, ergreift noch die Weisen intimster körperlicher, seelischer und geistiger Erfahrung.

Die marxistische Revolutionstheorie, wie sie bisher ausgearbeitet wurde, ist (so scheint mir) nicht differenziert genug, um formationsgeschichtliche Prozesse revolutionärer Umgestaltung in ihrem ganzen Reichtum analytisch zu erfassen. , In ihrer gegenwärtig avanziertesten Gestalt vertritt sie das Konzept einer «Revolutionstriade», die aus den Komponenten neuer Produktionsformen, politisch-sozialer Umwälzung und dem Umbruch im philosophischen Denken (als dem «Kernstück der allgemeinen Kulturrevolution») besteht (so Kossok, 1988, 44). Dieses Modell ist, soll es dem ihm zugrunde liegenden Begriff von Revolution entsprechen, um mindestens zwei Dimensionen zu erweitern: um die Dimension von Kultur und Lebensweise (die Begriffe verwendet im Anschluss an die gegenwärtige kulturwissenschaftliche Forschung) und um die Dimension der Künste. So wenig Kunst auf Ideologie reduzierbar ist, so wenig gehen Kultur und Lebensweise in den anderen Kategorien der «Revolutionstriade» auf.

Nach diesem Vorschlag wären mindestens fünf Bereiche revolutionärer Umgestaltung zu unterscheiden, zu sprechen wäre von der Fünf Dimensionalität des Transformationsprozesses:

  1. Ökonomie,
  2. Politik,
  3. Lebensweise/Kultur,
  4. Kunst,
  5. Wissenschaft/Philosophie (unter Einschluss weiterer ideologischer Formen wie Recht und Religion).

Dies ist ein Minimalprogramm. Es könnte argumentiert werden, dass auch andere ideologische Formen eine relativ eigenständige Entwicklung durchlaufen und als autochthone Bereiche (ich verwende den Begriff des Autochthonen zur Bezeichnung einer relativen strukturellen Selbständigkeit) zu berücksichtigen wären (man denke gegenwärtig allein an die Entwicklung der Religion bis hin zu Positionen antikapitalistischen Widerstands, in der Theologie der Befreiung zu programmatisch revolutionären Positionen). Dabei ist die Besonderheit und Eigenständigkeit der verschiedenen Ebenen oder Bereiche ebenso zu beachten wie ihre Interdependenz, ihr innerer Konnex. Zwei Seiten sind also stets analytisch in Rechnung zu stellen: der Zusammenhang zwischen den Ebenen, die Organik des Transformationsprozesses einerseits, die autochthone (eigenen Gesetzen folgende, nicht auf anderes reduzierbare) Form, in der sich die Umgestaltung innerhalb der verschiedenen Bereiche, vor allem aber auch in Philosophie und Kunst vollzieht. Insbesondere ist der Prozess der künstlerischen Transformation in seinem autochthonen Charakter zu behaupten: Revolutionäre Veränderungen in den Künsten vollziehen sich in spezifischer, eigengesetzlicher, nicht auf anderes reduzierbarer Gestalt: als Prägung, Umprägung und Neuprägung des gegebenen künstlerischen Materials, der überlieferten Formenwelt, tradierter Produktionsbedingungen, Kunstfunktionen und Rezeptionsweisen.

Kommen wir auf das Zeitalter der «Doppelrevolution» zurück. Unbestreitbar dürfte sein, dass sich in den Künsten im Zeitraum zwischen 1760 und 1832/48 (nur die gröbsten Eckdaten seien genannt) ein Prozess qualitativer Umgestaltung, eine Kunstrevolution höchster Intensität und Breite vollzieht. Er spielt sich gesamteuropäisch ab, ja ist in seinen Dimensionen und Wirkungen transeuropäisch. Er ist global, geht auf menschliche Gattung und Weltgeschichte. Wird der empirische Nachweis gewünscht, so wären alle Kunstarten, Gattungen und Formen durchzugehen. Man nehme allein die Literatur und vergleiche den «Stand» um 1750 mit dem um 1832, gar 1848. In der Musik dürfte der qualitative Sprung in bezug auf Material, Formenwelt und Funktion noch deutlicher sein. Er gilt für alle musikalischen Formen: Symphonie, Konzert, Sonate, die Oper nicht zuletzt. Sie ist seit Gluck und Mozart - sicher mit Figaros Hochzeit - fest in der Hand der bürgerlichen Revolution. Ernst Blochs Wort zum Fidelio, in ihm habe Musik «Revolution schlechthin als Handlungsraum», dürfte für die Beethovensche Musik insgesamt gültig sein - und zwar bis in die späten Streichquartette hinein. Es gibt auch eine revolutionäre Haltung gegenüber dem Tod. Die bildenden Künste sind vom Prozess der revolutionären Transformation nicht ausgenommen - wenn er sich in ihnen (aus Gründen, die zu klären wären) auch weniger dicht und dramatisch vollzieht als in Dichtung, Musik und Theater. Erinnert sei an Füssli, Blake, Constable und Turner, an die im Zuge der Industriellen Revolution sich durchsetzenden Veränderungen im Bereich der Visualität insgesamt (vgl. Francis D. Klingenders Art and the Industrial Revolution), an David, Gericault, Delacroix, an Friedrich und Goya, an Schinkels «Utopie in Stein» (Andre Müller).

III

Sehe ich recht, so sind in der Geschichte der Künste der Neuzeit drei Phasen revolutionärer Transformation zu unterscheiden, die in vergleichbarer Dichte, Intensität, Quantität und Qualität die ästhetischen Materialien, Formenwelten, Produktionsbedingungen, Funktionen und Wahrnehmungs- wie Rezeptionsweisen veränderten:

  1. die Phase der frühen Neuzeit - zwischen Dante (also um ca. 1300) und dem beginnenden 17. Jahrhundert (der Tod Shakespeares könnte als zäsurierendes Datum gelten),
  2. die Epoche der Doppelrevolution 1760-1830/48, und
  3. die Revolution in den Künsten, die sich im ersten Drittel unseres Jahrhunderts vollzog, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart reichen.

Von der klassischen deutschen Philosophie (Kant, Fichte und Schelling) heißt es in Hegels Geschichte der Philosophie, in ihr sei «die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen» (Hegel, 1970, Bd. 20, S. 314). Die gemeinte Revolution ist die gleiche, die 1789 in Frankreich politisch Gestalt gewann. Hegel fährt fort: «An dieser großen Epoche in der Weltgeschichte haben nur diese zwei Völker teilgenommen, das deutsche und das französische Volk (...). In Deutschland ist dies Prinzip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirklichkeit hinausgestürmt» (ebenda). Was sich also in Frankreich in der Praxis vollzog, vollzog sich in Deutschland in der Theorie. Hegel knüpft an ein Wort Jean Paul Marats an, der in seiner Zeitschrift Ami du peuple im November 1789 geschrieben hatte: «Unstreitig hat die Philosophie der gegenwärtigen Revolution den Weg bereitet, sie eröffnet und gefördert.» Allerdings hatte er hinzugefügt: «Worte allein sind jedoch unzureichend: Es bedarf der Taten.»

Man braucht weder Hegels idealistische Prämissen noch seinen Rigorismus zu teilen, um das Moment der Wahrheit in seiner Auffassung zu erkennen. Dass die klassische deutsche Philosophie eine «Revolution der Denkart» vollzieht, war bereits eine Grundannahme Kants (der Begriff wird in der Vorrede zur 2. Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft gebraucht). Der Gedanke findet sich auch anderen Orts (bei Fichte, im ältesten Systemfragment des deutschen Idealismus, bei Friedrich Schlegel), und er gilt nicht nur für die von Hegel genannten Philosophen. Er gilt für Herder, Schiller, den jungen Friedrich Schlegel, er gilt auch für Hegel selbst.

Entscheidend dabei ist, die «Revolution der Denkart», die radikale Transformation des philosophischen Gedankens also als gleichberechtigtes theoretisches Pendant eines politischen Ereignisses zu begreifen. Politik und Philosophie erscheinen so als unterschiedene, doch sich ergänzende Formen der gleichen Sache, gleichwertig in der Bedeutung, nicht aufeinander reduzierbar. Der Gedanke setzt sich durch. Noch Heine nennt Kant einen «Robespierre im Reiche der Gedanken» und fügt aphoristisch spitz, wenn nicht gar doppelzüngig hinzu, an «Terrorismus» hätte der Königsberger Philosoph den französischen Politiker noch übertroffen. Er vergleicht das in den drei großen Kritiken vollzogene «Niederreißen des alten Dogmatismus» mit dem Bastille-Sturm (Heine 1968, Bd. 4, S. 124,133). Diese Sicht auf die deutsche Philosophie wird auch vom jungen Marx geteilt, der Kants Philosophie «die deutsche Theorie der französischen Revolution» nennt (MEW 1, 80) und in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung - hier mit deutlich kritischer Akzentsetzung - schreibt: die Deutschen seien allein «philosophische Zeitgenossen der Gegenwart», sie «haben in der Politik gedacht, was die anderen Völker getan haben» (ebd. 383, 385).

Was ich vorschlage, ist, im Anschluss an Hegels Wort von der «Revolution in der Form des Gedankens» die Entwicklung der Künste in Europa zwischen 1760 und 1830/48 (dies sind die Eckdaten) als eine Revolution in der Form der Kunst zu verstehen. Gemeint sind damit alle Künste, ihr gesamtes System: neben der Dichtung auch Oper, Instrumentalmusik und wie die bildenden Künste. Die These ist nicht an einem bestimmten Formtyp orientiert. Ihre Geltung wird für die sogenannten «klassischen Formen» ebenso behauptet wie für die sogenannten «romantischen».

Die These hat allen Anschein des Kühnen und Überzogenen. In der vorliegenden Literatur habe ich sie in dieser Form nirgendwo gefunden Mit schneller Akzeptanz ist mit Sicherheit nicht zu rechnen, eher mit Widerspruch.

»Revolution in der Form der Kunst», also in Modus der Kunst, kann nur heißen: Revolution in den Formen der Künste. Behauptet wird, dass sich in dem mit den Daten 1760 und 1830/48 bezeichneten Zeitraum eine qualitative Transformation der Formenwelt der Künste vollzieht, bis in die Konstitution der Einzelwerke hinein, eine Transformation von Werkstrukturen, die Inhalt und Form betrifft (die deshalb nur in der Dialektik von Inhalt und Form angemessen zu beschreiben ist). Diese Transformation schließt einen fundamentalen Wandel der künstlerischen Produktionsbedingungen und künstlerischen Funktion, ja der gesamten «Kunstverhältnisse» ein. Sie ist Teil eines gesellschaftlichen Umgestaltungsprozesses, der sich in dem genannten Zeitraum in Europa (in Ansätzen bereits außerhalb Europas: in den europäischen Kolonien) abspielt, aus dem die Moderne als Formation, schließlich unsere eigene Gegenwart hervorgeht.

Philosophie und die Künste sind Artikulationsmedien dieses epochalen Umbruchs, geistige Verarbeitungsformen eines Zeitalters, das als Ganzes, bis in die Individualitätsformen, in subjektiv-psychische Strukturen hinein, noch in den Weisen individuellen körperlichen und emotionalen Erlebens, durch Prozesse fundamentaler Transformation gezeichnet ist. Sie sind Verarbeitungsformen in menschheitsgeschichtlicher Perspektive. Epochenumbruch und Transformation meinen in diesem Zusammenhang hochkomplexe und in sich differenzierte Prozesse struktureller Veränderung. Sie umschließen die Momente von Abbruch und Zusammenbruch ebenso wie Umbruch und Neubeginn.

IV

Ein auf die gegenwärtige Situation bezogener Revolutionsbegriff muss mindestens die Komplexität besitzen, die zur Erfassung der revolutionären Prozesse in der Zeit zwischen 1760 und 1830 erforderlich ist. Auch hier sind mindestens fünf Ebenen zu unterscheiden, auf die hin die Frage nach revolutionären Veränderungen in der Gegenwart zu diskutieren ist. Auf dem autochthonen Charakter der verschiedenen Ebenen ist auch hier zu bestehen. Das heißt keine ist auf die andere reduzierbar. Sie bilden insgesamt die Struktur eines reflektierten (in sich vermittelten, sich durchdringenden), nicht notwendigerweise aber homogenen Ganzen. Vielleicht kann der Begriff des strukturierten Ganzen für den gemeinten Zusammenhang Verwendung finden.

Die Ebenen sind:

  1. Ökonomische Basis, (Relation von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen/Produktionsweise),
  2. Lebensweise und Alltagskultur (einschließlich des massenmedialen Bereichs, von Familie und Erziehung),
  3. das System der Künste,
  4. Wissenschaft und Philosophie,
  5. politisches System, staatlicher Überbau, ideologische Staatsapparate.

Es ist klar, dass solche Differenzierungen angesichts des hochkomplexen Ganzen einer modernen «Kommunikations»- und «Informationsgesellschaft» höchst grobschlächtig sind. Sie haben nicht mehr als einen elementaren Sinn und wären differenziert auszuarbeiten (einen ersten Versuch dazu habe ich vorgelegt in Metscher, 1982, 5.44-53). In diesem Zusammenhang ist die Leistungsfähigkeit weiterer Kategorien zu überprüfen. Zu fragen ist, ob die Kategorie des Sozialen im Sinne eines bereichsspezifischen oder eines die verschiedenen Bereiche umfassenden Begriffs Verwendung finden sott (ich habe hier bewusst auf ihren Gebrauch in einem bereichsspezifischen Sinn verzichtet). Dieser Gedanke kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden.

Unverzichtbar für die Erfassung gegenwärtiger sozialer Prozesse, insbesondere auch des Problems der Revolution als eines aktuellen, scheint mir Antonio Gramscis Ausarbeitung des Basis-Überbau-Modells (das in seiner traditionellen Form nicht differenziert genug ist, um gegenwärtige soziale Prozesse in ihrer Komplexität zu erfassen) zu sein, vor allem der von ihm in die marxistische Theorie eingeführte Kernbegriff der «Zivilgesellschaft» (oder «zivile Gesellschaft», italienisch: societä civile) (dazu Metscher 1982, S. 60-62). Gramscis Begriff der Zivilgesellschaft meint den zwischen Basis und Überbau, Ökonomie und Staat angesiedelten kulturellen Kernbereich jeder entwickelten menschlichen Gesellschaft: die «Gesamtheit der ideologisch-kulturellen Beziehungen», wie Karin Priester erläutert. «In der societä civile werden alle jene formell von Staat (societä politica) getrennten und insofern privaten Institutionen und Organisationen wirksam, die das ideologische und kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft prägen und dadurch die Hegemonie der herrschenden Klasse und den gesellschaftlichen Konsens garantieren» (Priester 1977, S. 516). Wird von Gramsci der staatliche Überbau als. Zwangsapparat gedacht, der von oben her die Produktionsverhältnisse (Eigentumsverhältnisse) einer gegebenen Gesellschaft absichert, so ist die Zivilgesellschaft jener Bereich, in dem die alltägliche Formierung des Bewusstseins der Massen (der «normalen» Menschen einer Gesellschaft) vor sich geht, eine Formierung, die Körperlichkeit, Psyche und , Bewusstheit umfasst, mithin den ganzen Menschen in seinem individuell-sozialen Verhalten und Weltverhältnis prägt. Die Zivilgesellschaft umfasst den gesamten Bereich von Alltag und Kultur (unter Einschluss der Literatur und der Künste, heute des gesamten massenmedialen Bereichs, in vermittelter Weise auch Wissenschaft und Philosophie). Er umfasst zugleich fundamentale Sozialisationsformen und ideologische Formen wie Familie, Schule, Kirche, Gewerkschaften, Parteien. Die Institutionen der Zivilgesellschaft sind der Bereich, in der sich Momente der Basis und des staatlich-ideologischen Überbaus brechen. In diesem Sinn vermittelt die Zivilgesellschaft im konkreten Leben der Menschen zwischen Basis und Überbau.

Die Zivilgesellschaft ist weiter der Ort, an dem über die Zustimmung (den Konsens) der großen Masse der Menschen (der arbeitenden Klassen) zu bestehenden Produktions- und politischen Herrschaftsverhältnissen entschieden wird. Als Ort der alltäglichen Formierung von Bewusstsein und Psyche der Menschen ist sie auch - in antagonistischen Klassenverhältnissen - Ort des alltäglichen Klassenkampfs, der Ort, an dem lebenspraktisch um Hegemonie, d.h. reale Führung von Klassen bzw. historisch-sozialen Blöcken gerungen wird. Hier entscheidet sich, ob die Masse der Menschen ein politisch-ökonomisches System trägt oder nicht. Keine herrschende Klasse, lehrt Gramsci, kann auf die Dauer allein kraft des repressiven Staatsapparats ihre Herrschaft aufrechterhalten. Sie braucht die Zustimmung zumindest eines großen Teils der Bevölkerung, um langfristig herrschen zu können. Erst dann ist ihre Hegemonie erreicht, und erst als hegemoniale Herrschaft ist ihre politisch-ökonomische Herrschaft abgesichert (Hegemoniegesetz).

Gramscis Einsicht hat enorme Auswirkungen für eine aktuellen Erfordernissen Rechnung tragende Revolutionstheorie - für die anstehende Erweiterung des Revolutionsbegriffs. Der Gedanke sei vorgetragen, dass für eine sozialistische Umgestaltung der bestehenden kapitalistisch verfassten Gesellschaften (aber schließlich auch solcher, die partiell noch vorkapitalistisch oder bereits auch «nachkapitalistisch» sind) die Transformation der zivilen Gesellschaft der neuralgische Punkt ist, an dem sich das Schicksal der Revolution und die Qualität der neuen Gesellschaft entscheidet. Ich behaupte weiter, dass der Hauptgrund für Krise und Katastrophe der Länder des sogenannten «realen Sozialismus» der Mangel einer sozialistischen Transformation der Zivilgesellschaft war. Dazu einige erläuternde Thesen.

Die fundamentale Krise und der sich scheinbar unaufhaltsam vollziehende Niedergang der Länder des «realen Sozialismus» haben ihren Kern in dem Tatbestand, dass die für diese Länder bestimmende Gesellschaftsstruktur - das «Sozialismusmodell», das diese Länder in einem formationsspezifischen Sinn charakterisiert hat - unwiderruflich an sein Ende gekommen ist. Es ist das Modell eines etatistisch-administrativen Sozialismus. Damit meine ich: die staatliche Organisation der gesamten Gesellschaft «von oben» mit Hilfe eines administrativen Apparats, der eine solche staatliche soziale Organisation durchsetzen soll (Bürokratismusstruktur). Es ließe sich auch von einem «sozialistischen Absolutismus» oder einer Art von «Erziehungsdiktatur» sprechen, zu der der Gedanke der «Diktatur des Proletariats» entstellt wurde. Der etatistisch-administrative Sozialismus ließ den Marxschen Gedanken außer acht, dass «der Erzieher selbst erzogen werden muss» (Feuerbach-Thesen), und er hat bitter dafür bezahlen müssen. Ein solcher etatistisch-administrativer Sozialismus ist im ganzen sicher nicht mit «Stalinismus» zu identifizieren (der Stalinismus war vielmehr seine extrem terroristische Form), aber ebenso sicher ist, dass er wenig mit dem zu tun hatte, was Marx oder Engels, Lenin oder Luxemburg, Lukäcs, Gramsci oder Bloch unter einer sozialistischen Gesellschaft verstanden. Denn Sozialismus, im Verständnis dieser Klassiker des sozialistischen Gedankens, ist mehr als Demokratie und Selbstbestimmung, ohne diese aber nicht zu denken. Die Suspendierung fundamentaler Rechte (Menschenrechte) mag in extremen Notsituationen unumgänglich sein, sie darf nie zum «Normalzustand» einer sozialistischen Gesellschaft werden.

Sozialismus schließt notwendig ein: Verwirklichung von Menschenrechten über die bürgerliche Gesellschaft hinaus.

Gründe, warum die ersten Versuche in der Weltgeschichte, den Sozialismus als gesellschaftliche Formation durchzusetzen, die Form eines Modells absolutistischer Herrschaft annahmen, liegen auf der Hand. Ihren Kern haben sie in der Entscheidung, den Sozialismus unter unentwickelten historischen Bedingungen aufzubauen (die Ablehnung der Alternative des «sozialdemokratischen Weges»), zudem in einer für weite historische Strecken permanenten Kampf- und Kriegssituation: Aufbau des Sozialismus in Konfrontation mit einem zu allem entschlossenen äußeren Gegner, der durchaus auch im Innern real war. Ohne diesen Tatbestand ist eine Erscheinung wie der Stalinismus gar nicht zu erklären und zu beurteilen. Es ist möglich, dass unter diesen Bedingungen ein alternatives - demokratisches - Sozialismusmodell nicht durchführbar war. Eine solche Erkenntnis ist Realismus - keine «Entschuldigung» - für einen Irrweg. Er hebt vielmehr hervor, dass der begangene Weg, war er auch ein Irrweg, von tragischen Zügen nicht frei ist. Der entscheidende, zur Katastrophe dieses Modells führende Fehler bestand darin, nicht rechtzeitig erkannt zu haben, dass das etatistisch-administrative Modell umzubrechen, der Sozialismus in demokratische Strukturen zu überführen war - das verspätete Perestroika-Projekt.

Der Hauptmangel des etatistisch-administrativen Sozialismusmodells bestand also im Fehlen entwickelter demokratischer Strukturen, der Ausbildung einer realen Herrschaft der arbeitenden Klassen, in der mangelnden Entwicklung der Zivilgesellschaft in diesen Ländern. In diesem Punkt liegt, neben dem der wirtschaftlichen Entwicklung, der Kern der Krise und Katastrophe des sogenannten sozialistischen Staatensystems. Denn Gramscis Einsicht, dass ohne hegemoniale Herrschaft (ohne Konsens des größten Teils der Bevölkerung) keine ökonomisch-politische Herrschaft auf die Dauer aufrecht erhalten werden kann, gilt nicht nur für die Herrschaft ausbeutender Klassen, sie gilt im gleichen Maß für den Sozialismus - wie dieser hat bitter lernen müssen. Ja, dies gilt insofern mehr noch für den Sozialismus, weil ihm der Gedanke der Repression strukturell wesensfremd ist, der Tatbestand repressiver Macht stets einen Widerspruch innerhalb des Sozialismus bedeutet, einen Widerspruch zwischen Praxis und Theorie.

Der etatistisch-administrative Sozialismus hat versäumt, durch Ausbau einer sozialistischen Zivilgesellschaft seine Macht in Herz und Hirn der Menschen zu verankern - den Sozialismus als Herrschaft der werktätigen Massen hegemonial abzusichern. Auch die Zivilgesellschaft wurde in diesen Ländern etatistisch-administrativ verwaltet, statt in ihr jenen Zuwachs subjektiver Kompetenzen zu organisieren, der für Überleben und Weiterentwicklung des Sozialismus unabdingbar ist. Erkannt wurde nicht (geschweige denn praktiziert), dass Bewusstseinsprozesse in einer sozialistischen Zivilgesellschaft konsensual verlaufen müssen (durch freie Zustimmung und reale Beteiligung aller Betroffenen in einem gegebenen Entscheidungsprozeß), dass der staatlich-administrative Apparat nur die Rahmenbedingungen schaffen kann für die ungehinderte Entwicklung der Zivilgesellschaft selbst. Das heißt auch, dass ein pluraler Charakter von Meinungen als selbstverständlich zugelassen, ja rechtlich abgesichert werden muss (innerhalb weit gefasster Grenzen, die an internationalen Rechtsnormen zu orientieren sind). Der Sozialismus ist im Bereich der Zivilgesellschaft nur argumentativ durchzusetzen oder gar nicht.

V

Aus dem Scheitern des etatistisch-administrativen Sozialismusmodells sind Schlussfolgerungen zu ziehen für die Entwicklung einer komplexen, historischen wie aktuellen Anforderungen Rechnung tragenden Revolutionstheorie, aber auch Schlussfolgerungen für konkret anstehende Fragen der Transformation kapitalistisch verfasster Gesellschaften in Richtung auf sozialistische. Eine Schlussfolgerung, die ich sowohl aus einer historischen Reflexion des Revolutionsbegriffs als auch aus dem Zusammenbruch des sogenannten realen Sozialismus gewinne (beide Linien der Argumentation treffen hier zusammen), ist, in der Entwicklung der Zivilgesellschaft den Kern zu erblicken, an dem sich das Schicksal von revolutionärer Transformation heute entscheidet.

Dazu sei noch ein erläuternder Gedanke notiert. Gemeint ist nicht, dass die Transformation der zivilen Gesellschaft die Frage von Eigentum und politischer Macht ersetzt. Die Vergesellschaftung des Eigentums an den Produktionsmitteln (was nicht identisch ist mit «Verstaatlichung» - auch das haben wir gelernt) ist notwendige fundamentale Bedingung und materielle Voraussetzung jeder sozialistischen Gesellschaft ebenso wie die Erringung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse (oder sagen wir heute besser und weniger missverständlich: den zahlenmäßig größten Teil der Bevölkerung), geht es doch darum, die Veränderungen grundlegender Eigentumsverhältnisse überhaupt durchzusetzen und abzusichern. Beide haben den Charakter materieller Voraussetzungen für die neu zu errichtende Gesellschaft, nicht weniger und nicht mehr. Sie sind Bedingungen für den Sozialismus als eine neue Gesellschaft, nicht jedoch diese selbst. Der Sozialismus als «höhere Gesellschaftsform» (Marx, MEW 23,S. 618) ist nur als neue Kultur in einem umfassenden Sinn vorstellbar (dazu ausführlicher Metscher 1990), oder er ist nicht. Zentral dafür ist der von Marx entworfene inhaltliche Sozialismusbegriff: Sozialismus als «Gesellschaftsform, deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist» (ebd.). Das ökonomische Produktionsverhältnis ist für sich genommen so wenig Sozialismus wie die «Macht der Arbeiterklasse» für sich genommen der Inhalt der neuen Gesellschaft ist.

Sozialismus werden diese nur als Mittel Zweck der Errichtung einer Kultur, die die universale Entfaltung gesellschaftlicher Individualität zu ihrem Inhalt und ihrem Prinzip Produktionsverhältnisse und politische Machtfrage sind nur insofern bedeutsam, als Sozialisten gewöhnlich davon ausgehen (wofür es nach wie vor gute Gründe gibt), dass ohne deren sozialistische Gestaltung die neue Kultur nicht zu haben ist, dass eine Gesellschaftsform, deren Grundprinzip der Profit ist, die volle und freie Entwicklung jedes Individuums nicht gewährleisten kann, ja dieser strukturell widerspricht. Würde sich diese Auffassung als falsch herausstellen (was bei den gegenwärtigen globalen Kräfteverhältnissen eher zu wünschen als fürchten wäre), entfiele jeder Anlass für eine sozialistische Umgestaltung. Ein materialistischer Revolutionsbegriff wäre nur noch für die Vergangenheit interessant. Die «reformistische» Option wäre dann die einzige historisch richtige Antwort für all die, die sich einer Kultur verpflichten, deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes einzelnen Menschen ist.

LITERATUR
Die Französische Revolution 1789-1989. Revolutionstheorie heute, 1988, Marxistische Studien, Jahrbuch des Instituts für Marxistische Studien und Forschungen, Frankfurt/M. Hegel, G. W. F., 1970, Werke, Frankfurt/M.
Heine, H., 1968, Werke. Frankfurt/
M. Hobsbawm, E., 19.. The Age of Revolution Zeitalter der Revolutionen)
Kossok, M., 1988, 1789 - Versuch einer Positionsbestimmung. In: Die Französische Revolution. Marxistische Studien 1988, S. 32-72.
Metscher, T. 1977 Der Archipel Solscheni 1/2, Kultur und Gesellschaft, Nov./Dez. Metscher, T., 1982, Kunst, Kultur, Humani Studien zur Kulturtheorie, Ideologietheorie i Ästhetik. Fischerhude
Metscher, T., 1990, Pariser Meditationen. Zum Verhältnis von Revolution und gegenwart
Priester, K., 1977, Zur Staatstheorie bei Antonio Gramsci, In: Das Argument, 104

Der Autor:
Thomas Metscher
Vita: http://www.thomas-metscher.de/Vita/vita.html
ein Überblick über die Arbeit: http://www.thomas-metscher.de/index.html

Veröffentlichungen auf kommunisten.de:

Im Frühjahr 2018 erscheint beim Mangrovenverlag das Buch Integrativer Marxismus - Dialektische Studien. GrundlegungMetscher Integrativer-Marxismus Buch