Tagebuch aus Athen

alt13.07.2013: Gestern wurde die Diskussion in der Halle weitergeführt, gleichzeitig tagten in den Nebenräumen zahlreiche Arbeitsgruppen. Die Reihenfolge der DiskutantInnen ist im wahrsten Sinnen des Wortes völlig 'transparent' nachzuvollziehen. Die Wortmeldungen werden in einen Glaskasten auf dem Tisch der Tagungsleitung geworfen, die dann die Zettel zieht und die fünfminütige Redezeit nach dem Zufallsprinzip vergibt. Eine Ausnahme gibt es nur für die Mitglieder des Sekretariats, die sich in die Rednerliste einreihen können. Der Nachteil: es gibt keine Struktur in der Debatte. Überraschend ist, dass es sehr wenig Beiträge zu theoretischen und ideologischen Fragen gibt. Überraschend deshalb, weil sich immerhin ein Dutzend Organisationen mit sehr unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung und Tradition  - kommunistisch, maoistisch, trotzkistische, linkssozialistisch, links-patriotisch, ökologisch, feministisch - zu einer einheitlichen Partei zusammenschließen.

altIn der Diskussion legen die Delegierten die akuten Probleme auf den Tisch: Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Obdachlosigkeit, Armut, Rassismus, Faschismus, ... Das ist nicht wissenschaftlich, meint ein Delegierter, aber es drängt die Partei dazu, aktiver und radikaler zu werden. Die Differenzen sind nicht vergessen und zur Seite gelegt, heißt es, aber Priorität hat die Erarbeitung der gemeinsamen Schwerpunkte für den politischen und gesellschaftlichen Wandel in Griechenland. Der Prozess der Einheit sei mit Dialog verbundalten, der zu wachsender Kohärenz und revolutionären Positionen führe.

Und immer wieder kommen Beiträge zur Organisation der Partei und der Möglichkeit einer Linksregierung. Wie muss die Partei organisiert werden, um dem Druck zu widerstehen? Wie wird sich das Militär verhalten? Wohin werden sich die schlecht bezahlten und jetzt von Entlassung betroffenen PolizistInnen wenden: Nach links oder zu den Faschisten? "Der Gegner wird nicht mit Steinschleudern gegen eine Linksregierung vorgehen, sondern mit «politischen Atombomben»", warnte eine Rednerin. "Wir befinden uns im Krieg." Ein Redner forderte für den Fall der Bildung einer Linksregierung ein "Programm der ersten 100 Stunden, für ein Jahr und für 10 Jahre"; für die ersten 100 Stunden deshalb, weil sich da sofort zeigen müsse, dass eine Linksregierung tatsächlich den Wandel herbeiführen will.


Zu diesealtn Fragen - Was wäre, wenn SYRIZA bei den nächsten Wahlen stärkste Partei wird und die Regierung übernehmen sollte? - antwortete Giorgos Chondros (ZK-Mitglied von SYRIZA, Mitarbeiter der Abteilung für Europapolitik, Verantwortlicher für den Aufbau der Solidarität mit Griechenland in den deutschsprachigen Ländern):

Ein Programm für zehn Tage, für zehn Monate und für zehn Jahre

Eine linke Regierung, eine SYRIZA-Regierung muss ein Programm für zehn Tage, für zehn Monate und für zehn Jahre haben. Mit anderen Worten: Es müssen die akuten Probleme der Gesellschaft gelöst werden, die Fundamente für große Einschnitte und Reformen gelegt und gleichzeitig die Zukunftsvision für eine andere Gesellschaft entwickelt werden.

Annulierung des Memorandums

Über den ersten Akt einer SYRIZA-Regierung gibt es keinen Zweifel: die Annullierung des Memorandums. Damit würde der katastrophalen Sparpolitik ein Ende gesetzt. Gleichzeitig müssen Maßnahmen gegen die humanitäre Krise gesetzt werden. Unter anderem meinen wir die Wiedereinführung des Mindestlohns, den Zugang zu medizinischer und pharmazeutischer Versorgung für die Bevölkerung und die Schaffung neuer Arbeitsplätze. 

Parallel muss die staatliche Arbeitsweise geändert werden, etwa die öffentliche Investitionspolitik – welche Investitionen wollen wir, und wie verwirklichen wir sie; erste Schritte eines produktiven Wiederaufbaus der Wirtschaft müssen gegangen, der Sinn für Gerechtigkeit wiederhergestellt werden.

Wir alle wissen, dass wir eine 'Roadmap', einen Plan für die Verwirklichung eines alternativen Gesellschaftsmodells brauchen. Nur so kann SYRIZA die Unterstützung und das Vertrauen breiter Bevölkerungsschichten gewinnen, die Voraussetzung sind einerseits für den Erfolg der linken Regierung, und anderseits das Signal, dass wir eine neue Art der Organisation der Gesellschaft durchsetzen wollen. Wir sind uns im Klaren, wie groß die Schwierigkeiten sein werden und vor allem über das Ausmaß der Konflikte, die auszufechten sind. Wir wollen alles unternehmen, um diese Konflikte gemeinsam mit der Bevölkerung erfolgreich zu lösen.

Wir wollen nicht zu einer Situation zurück, in der das Land vor der Krise und während des Memorandums war, sondern wir wollen einen völlig neuen Weg gehen auf der Grundlage der sozialen Interessen und Bedürfnisse der Menschen. Dieser Plan kann nur mit der vollen Unterstützung der Bevölkerung verwirklicht werden. Eine Unterstützung, die nicht unbedingt der Regierung gilt, sondern vielmehr all den notwendigen Änderungen, die uns aus der heutigen Krise führen werden.

Partizipation

Wir verpflichten uns, dass die linke Regierung der Bevölkerung alle institutionellen Mittel bereit stellen wird, um alle Maßnahmen unter demokratischer Beteiligung und Kontrolle durchzuführen. Gerade jetzt, wo nach der Schließung des staatlichen Rundfunks noch deutlicher wird, dass das größte Opfer der Systemkrise die Demokratie selbst ist. Gerade jetzt, wo die Eliten in Griechenland immer öfter auf die Unterstützung der neofaschistischen Partei »Goldene Morgenröte« zurückgreifen. Wir sind uns auch im Klaren, dass eine linke Regierung von Beginn an einer Vielzahl von Erpressungen und Bedrohungen durch die Kreditgeber ausgesetzt sein wird, damit sie ihren Verpflichtungen nicht nachkommen kann.

Wir sehen drei wichtige Voraussetzungen für harte, aber erfolgreiche Verhandlungen und Konfrontationen mit den heutigen europäischen Eliten:

  1. Die Regierung, die diesen Prozess leiten wird, muss entschlossen und siegessicher sein.
  2. Auch die Bevölkerung, die Mehrheit der Bevölkerung muss entschlossen sein und mit voller Kraft diese Bemühungen der linken Regierung unterstützen.
  3. Es müssen entsprechende Allianzen geschmiedet werden, damit ein positives politisches Kräfteverhältnis erreicht wird – im Land und auch außerhalb. Alle Völker, alle Beschäftigten, die unter denselben harten Sparprogrammen leben, müssen zusammenstehen und zusammen kämpfen.

Nach der 'Lösung' für Zypern wird wieder das generelle Problem des Euro oder anderer Währungen in Europa an die Oberfläche der Diskussionen gespült. Dazu stellen wir fest:
Die Währungsfrage steht nicht im Mittelpunkt unserer Politik. Die Hauptfrage lautet nach unserem Verständnis nicht, in welcher Währung wir die Sparpolitik erleiden, sondern ob wir überhaupt eine Sparpolitik haben werden. Unser Hauptanliegen ist also, die Sparpolitik abzuwehren.

Kein Opfer für den Euro, keine Illusion in die Drachme
Unser Ziel ist, Griechenland innerhalb der Eurozone zu retten. Um das zu erreichen, muss zusammen mit anderen europäischen Völkern die neoliberale Doktrin der Sparpolitik gekippt werden, was auch den Umbau der heutigen Architektur der Eurozone bedeutet. Es ist nicht unser Ziel, den Euro in Griechenland zu retten, koste es, was es wolle. Wir wollen nicht unsere Gesellschaft, unsere Menschen opfern, um den Euro zu retten, die neoliberale Sparpolitik der unter deutscher Hegemonie stehenden europäischen Eliten zu stützen. Alle Opfer zur Rettung des Euro zu bringen, das ist die Absicht der griechischen Regierung, der wir uns eben nicht anschließen. Kurz gefasst, meinen wir: Kein Opfer für den Euro, keine Illusion in die Drachme.

Wir haben einen Plan der starken Verhandlungen mit allen, für die Rettung unserer Gesellschaft. Diesen Plan teilen wir mit den Völkern des Südens, aber auch mit den arbeitenden Menschen im Norden. Für uns ist der Austritt aus der Eurozone keine Option, jedoch sollen wir – und werden wir – auf jeden Fall vorbereitet sein. Wir wollen, dass die Völker in einer gemeinsamen Front stehen, um die Katastrophe zu vermeiden.

Anders gesagt: Wir befinden uns inmitten eines erbitterten Kampfes, der sowohl geostrategischen als auch monetären Charakter hat. Der geht aber nicht nur Griechenland an. Unser Ziel ist also, diesen Kampf zu gewinnen – und nicht einen Ausweg zu suchen für den Fall der Niederlage. Die nationale Isolierung ist für uns keine Alternative. Die Änderung des Kräfteverhältnisses in jedem einzelnem Land und die Koordinierung des Kampfes für ein demokratisches, ökologisches und soziales Europa ohne monetäre Zwänge – das ist unser Ziel. Dafür kämpfen wir in Zusammenarbeit mit allen Bewegungen und politischen Kräften der radikalen Linken in ganz Europa, mit der Europäischen Linken und mit der GUE (European United Left/Nordic Green Left).

Wir sind uns im Klaren, dass wir mit unserem Umbruch nicht warten können, bis sich das Kräfteverhältnis europaweit geändert hat. Wir behaupten, dass unser nationales und internationales Vorhaben und unser erfolgreiches Vorgehen der wichtigste Beitrag zu den notwendigen Änderungen und der Neugründung Europas sein können. Gemeinsam werden wir siegen.


siehe auch:

SYRIZA: Delegierte debattieren

1.Kongress von SYRIZA-USF in Athen

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