Europa

GR-Fluechtlingszelte-im-Schnee12.01.2017: Ein eisiger Wind geht durch Europa und fordert die ersten Todesopfer * Aber nicht die eisigen Temperaturen sind verantwortlich für die Toten, sondern die Eiseskälte der Austeritätspolitik * Die Mauern der Festung Europa werden immer höher gezogen * Die Zahl der Ertrunkenen im Mittelmeer erreicht Rekordwert * Erbarmungslos werden Menschen wieder in Kriegsgebiete abgeschoben * Die EU lässt Griechenland mit den Geflüchteten allein.

In Polen und Griechenland hat die Kältewelle zu den ersten Todesopfern geführt. Aber die Menschen erfrieren nicht, weil die Temperaturen weit unter Null gesunken sind, sondern weil das gesellschaftliche und politische Klima in Europa eisig ist. Neoliberalismus und Austeritärpolitik haben soziale Strukturen zerstört. Die Menschen erfrieren auf der Straße, weil sie aus ihrer Wohnung vertrieben wurden, sie erfrieren in ihren Wohnungen, weil sie die Heizung nicht mehr bezahlen können.

Besonders eisig zeigt sich Europe gegenüber den Geflüchteten. Bundesinnenminister de Maizière brüstet sich, dass die Zahl der Flüchtlinge zurückgegangen ist. Aber nicht die Zahl der Flüchtlinge ist zurückgegangen – die ist höher denn je -, zurückgegangen ist die Zahl derjenigen, die es schaffen lebend bis nach Europa zu kommen.

Massengrab Mittelmeer
So sind bei der Flucht über das Mittelmeer nach Schätzungen der internationalen Organisation für Migration (IOM) und des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) im Jahr 2016 mehr als 5.000 Menschen ertrunken. So viele wie in keinem Jahr zuvor. Weil es keine sicheren Fluchtwege nach Europa gibt, müssen sich die Menschen in heillos überfüllten und seeuntüchtigen Booten aus Nordafrika auf den Weg Richtung Europa machen, um dort Schutz vor Krieg und Vertreibung oder eine bessere wirtschaftliche Zukunft zu suchen. Seit der Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei über die Rücknahme von Flüchtlingen im März ist dies die Hauptroute für Migranten.

Balkanroute dichtgemacht: 7.000 Flüchtlinge kämpfen in Serbien bei minus 28 Grad ums Überleben
Rund 7.000 Menschen, mehr als die Hälfte davon Kinder und Frauen, kämpfen laut Caritas Österreich in Serbien bei "klirrender Kälte ums Überleben". Täglich kommen einige hundert Flüchtlinge und Migranten dazu, die ebenfalls den Weg über die mazedonische, bulgarische oder albanische Grenze genommen haben. Der Großteil sei in dem vollkommen ausgelasteten staatlichen Asyl- und Transitzentren untergebracht, die hygienischen Bedingungen seien teilweise entsetzlich, es gebe Fälle von Fleckfieber. Regierung und Stadtverwaltung seien dabei, am Bahnhof ausharrende Menschen in Lager zu bringen, um zu verhindern, dass sie erfrieren. Denn in vielen Teilen Serbiens herrschten Temperaturen um die minus 28 Grad.

Viele Orte seien von der Umwelt abgeschnitten, darunter die Flüchtlingslager in Presevo und Bujanovac an den Grenzen zu Mazedonien und Bulgarien. An der Grenze zu Ungarn harren laut Caritas ständig etwa 150 Menschen im Freien aus. Die serbische Regierung habe von Anfang an klargestellt, dass sie keine finanziellen Mittel für die Versorgung von Migranten zur Verfügung stellen werde. Die internationalen Geldgeber, so die Hilfsorganisation, ziehen sich seit Sommer 2016 aus der Region zurück. "Das offizielle Österreich hat vor zwei Tagen Polizisten zur Grenzsicherung nach Serbien geschickt, aber bisher noch keine humanitäre Hilfe", sagte  Österreichs Caritas-Präsident Michael Landau.

Eisige Zeiten für Geflüchtete und GriechInnen
Die Temperaturen in Griechenland sind auf nahezu sibirische Werte gesunken, mit der tiefsten Temperatur von -19 Grad Celsius im nordgriechischen Florina. Selbst in Athen herrschen Minusgrade. Auf der ionischen Insel Kefalonia liegt zum ersten Mal seit dreißig Jahren Schnee.

Aus dem Flüchtlingscamp Moria auf Lesbos kommen erschreckende Bilder. Griechenland befindet sich unter dem Einfluss einer für das Land äußerst seltenen Kältewelle, selbst Strände im Süden sind eingeschneit.

Unter diesen Wetterbedingungen müssen die Flüchtlinge in den Hotspots auf den griechischen Inseln in Zelten in dichtem Schnee, ohne Heizung in ihren Zelten und ohne heißes Wasser überleben. Ein bedrückendes Video (https://www.youtube.com/watch?v=4ee0L4bxL4E)eines Insassen zeigt, wie schwierig das ist. Mehr als 15'000 Flüchtlinge sitzen derzeit auf den griechischen Inseln fest. Unter anderem auch deswegen, weil die vereinbarte Aufnahme durch andere EU-Länder nicht erfolgt. Nach dem Beschluss der EU sollten 160.000 nach Italien und Griechenland Geflüchtete innerhalb der Staaten neu verteilt werden. Dies scheitert jedoch am Widerstand vor allem osteuropäischer Staaten. So dass  bis Anfang Dezember nur etwa 8.000 Geflüchtete umgesiedelt waren. Und gleichzeitig kommen immer neue Flüchtlinge auf den Inseln an.

EU-Kommission wäscht ihre Hände in Unschuld
Die EU-Kommission wäscht ihre Hände in Unschuld. Für sie ist allein Griechenland für die Versorgung der aufgrund des EU-Deals mit der Türkei auf Inseln festsitzenden Flüchtlinge verantwortlich. EU-Kommissionssprecherin Natasha Bertaud gibt zwar zu, dass die Lebensbedingungen für die Geflüchteten "unhaltbar“ seien. Aber die Verantwortung liege bei der griechischen Regierung. "Wir verfolgen eine duale Strategie: So versuchen wir einerseits, politischen Druck auszuüben und andererseits sowohl finanzielle als auch technische Unterstützung anzubieten, damit Griechenlands Regierung die Situation verbessern kann“, sagt Bertaud.

Jedoch kann das durch die Erpressung der Troika kaputtgesparte Land diese Herausforderung nicht bewältigen. Der Sprecher der Regierungskommission für Flüchtlingsfragen, Giorgos Kyritsis, sagte: "Ich sage ihnen, wenn gerade mal wenige außen vor bleiben, also wenn wir 10.000 Menschen haben und es schaffen, 9.000 davon unterzubringen, und wenn 1.000 in Zelten verbleiben, egal wie viel wir unternehmen, um die Zelte mit weiteren Decken und Heizkörpern auszustatten, dann bleibt das Problem, aber der Versuch geht weiter. Wir versuchen, zehn zu helfen, und werden es so für acht schaffen."

Auf die Frage hin, was mit "politischem Druck“ gemeint sei, verwies die EU-Kommissionssprecherin Bertaud auf den "Back to Dublin“-Bericht. Das "Dublin-Abkommen" sieht vor, dass ein Asylbewerber dort seinen Asylantrag stellen muss, wo er erstmals Fuß in die EU gesetzt hat. Das Dublin-System war im Sommer 2015 mit der Ankunft von Millionen Flüchtlingen zusammengebrochen, von denen die meisten über Griechenland Richtung Deutschland und Nordeuropa gereist waren. Aber bereits 2011 war die Dublin-Regel für Griechenland außer Kraft gesetzt worden, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Gerichtshof der EU entschieden, dass das griechische Asylsystem vor allem bei der Unterbringung keinen internationalen Standards genügt und deshalb Flüchtlinge nicht mehr dorthin zurückgebracht werden dürfen.

Mit dem "Back to Dublin" Bericht ist der Beschluss der EU-Kommission verbunden, dass ab Mitte März 2017 Geflüchtete wieder nach Griechenland zurückgebracht werden, wenn sie dort erstmals den Boden der Europäischen Union betreten haben.

Abschiebung nach Afghanistan: "tödliche Konsequenzen"
Afghanistan sei ein sicheres Herkunftsland, sagt die Bundesregierung und schiebt Geflüchtete nach Afghanistan ab. Die UNO kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. In dem am Montagabend (9.1.2017) veröffentlichten Bericht belegt die UNO, dass die Zahl der Kriegsvertriebenen in Afghanistan sprunghaft angestiegen ist, um 40.000 seit Mitte Dezember. Seit Anfang 2015 sind zu den damals bereits 1,2 Millionen Binnenflüchtlingen noch einmal 620.000 dazugekommen. Fast die Hälfte aller Vertriebenen – 42 Prozent – haben die UN im Norden des Landes gezählt – auch in den Provinzen Kundus und Baghlan, in denen bis 2013 noch die Bundeswehr stationiert war.

Verstärkt wird die Krise von der unerwarteten Rückkehr afghanischer Flüchtlinge aus Pakistan und dem Iran. Sie müssen unfreiwillig in ihre Heimat zurückkehren. Laut Internationaler Organisation für Migration (IOM) und UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sind es rund eine Million Menschen.

Der jüngst erschienene Bericht zu den "Humanitären Bedürfnissen 2017“ sagt, dass nunmehr 9,3 Millionen AfghanInnen in Not sind– ein Anstieg von 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Humanitäre Helfer sprechen von einer Krise mit "tödlichen Konsequenzen“.

Für Innenminister de Maizière und die Bundesregierung sind das offenbar beste Voraussetzungen für die Rückführung abgelehnter Asylbewerber. Postfaktische Zeiten? Wohl eher die bewusste Umdeutung unleugbarer Tatsachen. Und Ausdruck der Eiseskälte, die auch dann nicht enden wird, wenn die Temperaturen wieder steigen.