Der Kommentar

11.04.2016: Seit einer Woche ist jetzt also der EU-Türkei Flüchtlingsdeal in Kraft. Und? Ist damit eine nachhaltige Lösung in Sicht? Es sieht nicht danach aus: Vom 19. März bis zum 6. April kamen 8.010 Menschen über die Ägäis aus der Türkei nach Griechenland. 53.042 sind insgesamt im Lande.

Am Montag, den 4. April, wurden erstmals 202 Menschen von den Inseln Lesbos und Chios in die Türkei abgeschoben. Bei ihnen handelt es sich um Geflüchtete aus Pakistan, Afghanistan, dem Irak, dem Iran, aus Indien und Nordafrika, die bis dato keinen Asylantrag gestellt hatten. Zwei Syrer haben aus familiären Gründen selbst darum ersucht, zurück in die Türkei geschickt zu werden. Am selben Tag kamen 339 Flüchtlinge aus der Türkei nach Griechenland.

All das geschieht trotz der Präsenz der Nato und trotz der Pflicht der Türkei, den Flüchtlingszustrom zu drosseln. Allein diese Bilanz zeigt, wie zynisch die neue Vereinbarung ist.

Griechenland soll mit diesem Deal dazu gebracht werden, die Türkei de facto zum „sicherem Drittland“ zu erklären, was die EU selber nicht machen kann. Doch wie sicher und menschenrechtskonform die Türkei ist, das weiß ich nicht nur aus Zeitungsberichten. Vor einigen Wochen war ich in Diyarbakir im Südosten. Dort werden aufgrund einer sinnlosen Ausgangssperre täglich Kurden und Kurdinnen von Erdogans Regime ermordet – vorwiegend Frauen und Jugendliche. Wie die „TIHV-Human Rights Foundation of Turkey“ und die türkische Partei HDP bestätigen, wurden von August 2015 bis Februar 2016 in Cizre, Silopi, Idil und Sur mehr als 492 Zivilisten ermordet, 87 davon sind Kinder.

Ich habe dort Mütter und Väter getroffen, denen es verboten wird, die Leichen ihrer Kinder, die wochenlang auf der Straße liegen, zu begraben. Erdogans Regime liefert den Zündstoff für einen dauerhaften Bürgerkrieg in der Region, dessen Folge unter anderem neue Flüchtlingsströme sein werden.

Die EU hat mit diesem Pakt eine „Lösung“ vorgezogen, die mit der Bekämpfung der Ursachen nichts zu tun hat. Genauso wie die Beweggründe für den Pakt nur wenig mit den Werten Europas zu tun haben. Vielmehr handelt die neoliberale Europäische Union jetzt wieder rein ideologisch. Genau wie schon während der Eurokrise, die instrumentalisiert wurde, um die Austeritätspolitik EU-weit zu etablieren.

Die Flüchtlingsfrage dient als Vorwand dafür, die „Festung Europa“ auszubauen. Eine Festung, in der Kapital und Waren keine Grenzen kennen, während Menschen, die vor Krieg, Hunger und Umweltkatastrophen fliehen, auf Kriegsflotten und Stacheldrahtzäune stoßen. Errungenschaften wie die Genfer Menschenrechtskonvention sollen genauso wie der Sozialstaat, Kollektivverträge oder soziale Gerechtigkeit und Umverteilung als lästige Hindernisse aus dem Weg geräumt werden.

Es gibt aber ein anderes Europa – das solidarische und hoffnungsvolle. Es zeigt sich im Gesicht der griechischen Regierung, die mit minimalen Mitteln versucht, menschenwürdige Lebensbedingungen für die Flüchtlinge zu schaffen. Im Gesicht einer kaputt gesparten griechischen Bevölkerung, die in den letzten 15 Monaten mehr als eine Million Menschen gerettet, unterstützt und aufgenommen hat. Im Gesicht der Tausende Freiwilligen aus ganz Europa, die in Lesbos oder Idomeni Menschen helfen. In den Gesichtern von Ada Colau, Bürgermeisterin von Barcelona, und Bodo Ramelow, Ministerpräsident von Thüringen, die freiwillig Geflüchtete aus Griechenland aufnehmen wollen.

Merkel meinte am 18. März nach dem EU-Türkei-Gipfel, dass „Europa es schaffen wird …“. Ich stimme ihr zu. Allerdings wird das nicht in ihrem Sinne passieren, sondern in unserem. Europa wird solidarisch und sozial – oder es wird nicht sein!

Giorgos Chondros ist Mitglied im Zentralkomitee von SYRIZA und Autor des Buches „Die Wahrheit über Griechenland, die Eurokrise und die Zukunft Europas“.

foto: LEFT.gr


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