Der Kommentar

airport canceled flights pete30.07.2016: Das Bundesarbeitsgericht hat im Gegensatz zur Vorinstanz einen Streik von Mitgliedern der Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) gegen den Frankfurter Flughafen von 2012 für rechtswidrig erklärt. Die GdF wollte laut Pressemitteilungen einen Schlichterspruch, den Fraport abgelehnt hattte, per Streik durchsetzen. Dabei ging es auch um Regelungen, die zwar noch der Friedenspflicht unterlagen, über die aber beide Parteien in der Schlichtung verhandelt hatten und deren Änderung ausgemacht schien. Während die Vorinstanz davon ausging, daß der Streik auch stattgefunden hätte ohne diese anhand der ursprünglichen Streikziele, erklärte das BAG den gesamten Streik für rechtswidrig. Die Vorinstanz soll nun über die Höhe des Schadensersatzes befinden. Beträge von 5 bis zu 10 Mio. Euro sind im Gespräch, was de facto zu Konkurs und Liquidation der GdF führen könnte, müssten doch pro Mitglied bis zu 2.600 Euro an Fraport überwiesen werden. Schadensersatzansprüche von Lufthansa und Air Berlin verwarf das BAG.

Das Urteil zeigt wieder, dass Welten zwischen dem bundesdeutschen Arbeitskampfrecht und einem wenigstens auf westeuropäischem Niveau liegenden Streikrecht liegen. Ich bin kein Jurist, beurteile das Ganze hier als aktiver Gewerkschafter mit einiger Streikerfahrung. Nach meinem Empfinden ist das Urteil u.a. nicht konform mit der Europäischen Menschenrechtskonvention.
 
Ich bin zwar kein Freund von Spartengewerkschaften, was hier nicht vertieft werden soll, aber in dem Fall hoffe ich, dass die Betroffene juristisch weiter gehen wird, um das auf die europäische (nicht EU-, da nicht 28 [oder demnächst 27] , sondern 47 Staaten den Europäischen Gerichtshof anerkennen) Ebene zu bringen. Ansonsten kann die GdF möglicherweise Konkurs anmelden. Ihre finanziellen Ressourcen sind nicht öffentlich bekannt.
 
Das deutsche Arbeitskampfrecht wurde lange mitgeprägt von Richtern, die teils schon vor dem 8. Mai 1945 Karriere gemacht hatten, siehe Wikipedia zu Hans Carl Nipperdey. Diese wollten die strukturelle Übermacht des Kapitals vertuschen, an der auch ein Streik nichts ändert. Er ändert die Besitz- und Machtverhältnisse nicht und stoppt bestenfalls die Mehrung des Profits, während er die Streikenden selbst tendenziell in ihrer Existenz gefährdet. Sie stellen den Verkauf ihrer Arbeitskraft ein, der ihre einzige relevante Einkommensquelle ist, und keine Streikkasse ist so gut gefüllt wie die Kassen der Konzerne.
 
In individuellem Bereich geht das hiesige Arbeitsrecht vielfach von ungleichen Kräfteverhältnissen aus. So binden z.B. rechtswidrige Klauseln, die ein Beschäftigter unterschrieb, um überhaupt den Job zu bekommen, diesen de jure nicht. De facto auch nicht, wenn er denn bis zum Erreichen des Kündigungsschutzes "die Füße ruhig hält".
 
Anders aber das Arbeitskampfrecht, wo vom realitätsfremden gedanklichen Konstrukt eines Kampfes zwischen grundsätzlich gleichstarken Parteien ausgegangen wird. Die Entscheidung, kollektiv die Arbeitskraft zu verweigern, ist in Deutschland streng reglementiert. Der Fakt, dass die Kapitalseite hier in der Schlichtung sehr wohl bereit war, über nicht gekündigte Regelungen zu verhandeln, auch geeignet war, den Anschein zu erwecken, dafür auch streiken zu dürfen, ließ die GdF möglicherweise in eine von der Kapitalseite gut gelegte juristische Falle tappen.
 
Im real existierenden Kapitalismus entscheiden alleine die Eigentümer, was sie wo mit wie viel Beschäftigten produzieren, ob Waren oder Dienstleistungen. Stellt der Kapitalist (ob nun Einzelperson, Personengruppe oder juristische Person) die Belegschaft vor die Wahl, z.B. unentgeltlich länger zu arbeiten und / oder für weniger Lohn, anderenfalls verlagere er sein Werk z.B. nach Polen, um wieder wettbewerbsfähig zu werden, dann wird das als unternehmerische Entscheidung letztendlich juristisch akzeptiert. Auch wenn Unternehmer z.B. damit drohen, weniger oder nicht mehr auszubilden, sollte z.B. das Jugendarbeitsschutzgesetz verschärft werde, spricht kaum jemand von Erpressung des Parlaments. Der Vorwurf wird nur laut, wenn über „politische Streiks“ diskutiert wird.
 
Im ersteren Fall sind dann ggf. Abfindungen fällig. 1/2 Monatslohn pro Beschäftigungsjahr ist in Betrieben mit Kündigungsschutz üblich; wo weniger als 10 auf Vollzeit hochgerechnete Menschen arbeiten, gibt es i.d.R. nix. Und wer glaubt, hier hätten Betriebsräte ein echtes Mitbestimmungsrecht, wird schnell Opfer seines Glaubens werden.
 
"Die Bundesarbeitsrichter haben den Arbeitnehmern in Deutschland mit ihrem Urteil einen Bärendienst erwiesen und den Neoliberalismus gestärkt." Zu dem m.E. zutreffenden Urteil über das BAG-Urteil kommt "Zeit-online", die nicht unbedingt als gewerkschaftliches Kampfblatt verschrien ist.
 
Die immer ungleichere, manche sprechen da von ungerechterer oder unfairer, Vermögensverteilung in Deutschland hat ihre primäre Ursache darin, dass die Arbeitenden als Schöpfer aller Werte immer weniger von diesen bekommen, dass das Ausmaß ihrer all-arbeitstäglichen Enteignung durch die Bourgeoisie zunimmt. Dass dann sekundär eine Steuerpolitik zugunsten der Reichen den Prozess beschleunigt, sei hier der Vollständigkeit halber erwähnt, aber nicht vertieft.
 
Angesichts der aktuellen Rentendiskussion sei daran erinnert, dass bei aus o.g. Grund sinkender Lohnquote gemessen am Bruttoinlandsprodukt natürlich auch der "Topf" kleiner wird, aus dem sich die Sozialversicherungen finanzieren. Spätestens hier wird klar, dass wir bei den Renten kein Demographie-, sondern ein Verteilungsproblem haben. Mehr Kinder, die dann zu etwa 15% zu keinem berufsbefähigendem Bildungsabschluss gebracht werden, lösen das Problem nicht, auch deshalb, weil die Hälfte der jungen Erwachsenen prekär beschäftigt und oft mies bezahlt wird.
 
Das Urteil des BAG knüpft nicht nur an eine ungute Tradition aus den 50er Jahren an. Es schwächt weiter die Gewerkschaften, nach § 116 AFG (kein ALG I mehr für mittelbar vom Streik Betroffene) in den 80er Jahren, der Hartzgesetzgebung mit kaum noch regulierter Zeit- und Leiharbeit sowie z.B. dem Zwang für Erwerbslose, auch ein Drittel unter Tariflohn arbeiten zu müssen, von Schröder unter Androhung gesetzlicher Regelungen erzwungenen Tariföffnungsklauseln bis hin zum Tarifeinheitsgesetz von Frau Nahles und Co. Die CSU droht schon mit einem „modernen Streikrecht“, das Tarifverhandlungen in Richtung kollektiven Bettelns rücken würde.
 
Ob Vermögensverteilung oder Niedriglöhne, Armutsrenten oder Kinderarmut, kratzt man an der Oberfläche, kommt man ganz flott dahin, dass die Frage der Stärke der Gewerkschaften eng mit der Frage einer fortschrittlichen oder einer reaktionären Lösung der Probleme verbunden ist. Ein umfassendes demokratisches Streikrecht als individuelles Recht aller abhängig Beschäftigten ist nicht die einzige, aber eine wesentliche Voraussetzung für sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt. Davon wird man auch noch manche Kollegin und manchen Kollegen nicht nur in Führungsgremien der Gewerkschaften überzeugen müssen, die lange nach der Aufkündigung des Klassenkompromisses „Rheinischer Kapitalismus mit Sozialpartnerschaft“ durch das international agierende Kapital noch immer glauben möchten, hier die Zukunft in der Vergangenheit von vor 1989 finden zu können.
 
Enttäuscht mag jetzt sein, wer hier den flammenden Appell zum Schluss erwartet hat. Die Verhältnisse sind derzeit nicht danach, dass es nur noch des Aufrufs einer Gewerkschaftsführung oder Anderer bedürfte, um Massenproteste auszulösen gegen ein Urteil, das 90% der Menschen im Land schaden kann. Die aktuelle Niederlage ist eine gemeinsame aller Gewerkschaften, auch wenn man Spartengewerkschaften aus vielen guten Gründen ablehnt. Weiter gilt es, täglich darum zu ringen, Kolleginnen und Kollegen trotz alledem zu aktiver Vertretung ihrer eigenen und alltäglichen Interessen in der Gewerkschaft als ihrer Selbstorganisation zu bewegen. Dabei müssen Ziele wie ein demokratisches Streikrecht als Menschenrecht im Blick bleiben, ebenso wie das, eine Welt zu erkämpfen, in der der Mensch vor dem Profit kommt.

Text: Volker Metzroth         Foto: pete