Im Interview

Morales lavozdelsandinissmo 10.201105.05.2013:  Boliviens Präsident Evo Morales hat die Entscheidung seiner Regierung bekanntgegeben, die US-Entwicklungshilfeagentur US-AID des Landes zu verweisen. "Die USA konspirieren weiter", sagte Präsident Evo Morales am Mittwoch vor Tausenden von Anhängern der regierenden 'Bewegung zum Sozialismus' (MAS) in La Paz. Die Entwicklungsbehörde aus Washington werde "nie wieder manipulieren und unsere Gewerkschaftsgenossen gegen uns benutzen", zitierte die Tageszeitung Cambio den Präsidenten. Dies berichtete vor zwei Tagen das Lateinamerikaportal amerika21.de ausführlich.

Es ist dies eine von vielen Maßnahmen und politischen Schritten, die Boliviens Führung zur Stärkung des eigenen Landes und zu seiner eigenständigen Entwicklung in den letzten Jahren durchgesetzt hat.  Einen analytischen und theoretischen Hintergrund für diese Entwicklungen und ihre politische Einordnung liefert ein kürzlich dem 'Journal of Socialist Renewal' gewährtes Interview des in La Paz lebenden und geachteten Marxisten Hugo Moldiz. Er ist als Journalist tätig und unter anderem Redakteur der Wochenzeitung La Epoca, und er schreibt regelmäßig für das Portal America XXI.

Nachstehend das Interview in Auszügen:

Welche Veränderungen hat es in Boliviens Wirtschaft bewirkt, eine Politik gegen den Neoliberalismus zu verfolgen?

Es ist recht schwer, die Behauptung aufrecht zu halten, dass die Regierung von Evo Morales eine neoliberale Regierung sei. Nur einige aus der extremeren Linken halten an dieser Meinung fest. Eines der wichtigen Merkmale des Neoliberalismus ist eher nicht der Rückzug des Staates, sondern die offensichtliche Rolle des Staates in der neoliberalen Politik gewesen. An erster Stelle übergibt der Staat unsere natürlichen Ressourcen an die transnationalen Unternehmen, in private Hände und in die Hände ausländischer Kapitalisten. In der Wirklichkeit schwächt so der Neoliberalismus die Nationalökonomie eines Landes wie Bolivien.
 
Mit Evo Morales haben wir ein Wirtschaftsmodell, das nicht neoliberal, sondern ein anderes Wirtschaftsmodell ist, welches aber noch einige Eigenschaften des Neoliberalismus hat. Wir müssen erreichen, dass der Staat wieder zu einem Instrument großer Mitwirkung in der Wirtschaft wird. Wir haben bisher über 40% dieses Weges erreicht, man muss dabei aber immer den Ausgangspunkt berücksichtigen. In diesem Land war die Mitwirkung des Staates in der Ökonomie vorher auf 10% zurück gefahren worden. Wir sind also hinsichtlich der Rolle des Staates erheblich gesundet.

Und dann sind wir auf einem Wege der Wiederaneignung unserer natürlichen Ressourcen. Das ist vom Neoliberalismus ganz verschieden. Es gibt eine Wiederherstellung des internen Marktes, der durch das neoliberale Wirtschaftsmodell viele Jahre lang zerstört wurde. Das war ein Prozess der Abwertung unsere nationalen Währung, des Bolivar. Ein Land wie Ecuador, welches früher den US-Dollar als Landeswährung einführte und jetzt eine links-orientierte Regierung hat, sieht sich vielen Schwierigkeiten bei der Rückkehr zu einer eigenen nationalen Währung gegenüber. Hier bei uns ist der Wert der Landeswährung gestiegen, was für die Arbeiter eine Schutzmaßnahme bedeutet. Eine andere Eigenschaft des Neoliberalismus ist die 'Flexibilität' der Bezahlung der Arbeiter. In Bolivien hat sich das noch nicht so verändert, wie wir es uns wünschen. Aber der Staat hat doch wenigstens rechtliche Maßnahmen zum Schutz des Rechtes auf Arbeit ergriffen.

Das System der sozialen Absicherung wird derzeit ausgeweitet. Während der Zeit des Neoliberalismus wurde es bei uns, so wie in anderen Ländern, privatisiert und Privaten Pensionsfonds übergeben, anstatt dass die Finanzmittel in die Sozialsysteme geleitet wurden. Die Privaten Pensionsfonds betrogen bei den Zahlungen oder machten mit dem Geld, was sie wollten und ohne jede Kontrolle. Es gab keine Garantie, dass wie Werktätigen ihre selbst benötigte soziale Sicherheit bekamen. Und es gab viele Menschen, die niemals oder nur in sehr geringem Maße den Zugang zu sozialer Sicherung erlangen konnten.

Die Regierung von Morales hat das System der sozialen Sicherheit reformiert und es zahlen jene, die verdienen, entsprechend einem Prozentsatz ihres Einkommens am meisten in einen Gemeinschaftsfond ein, welcher einer Person entsprechend der Anzahl der gearbeiteten Jahre eine Rentenzahlung garantiert. Dies gilt noch nicht für Gelegenheitsarbeiter. Dies wird ein zweiter Schritt sein – Arbeiter einbinden, die nicht genügend Punkte erreicht haben, um einen würdigen Ruhestand zu erlangen. Das Rentenalter liegt derzeit bei 65 Jahren, aber es soll bald auf 55 Jahre reduziert werden.

Für alleinstehende Mütter und Witwen gibt es verschiedenartige Zuschläge. Alle Älteren erhalten ein anständiges Einkommen, einschließlich derjenigen, die ein Rentenguthaben besitzen. Es gibt zudem Zulagen für Eltern mit Kindern im Schulalter und für schwangere Frauen. Ich weiß, dass das für etliche Länder in Europa keine Neuerung darstellt. Aber die USA und Europa haben Lateinamerika so viel Reichtum geraubt – unsere Völker leben wie Halb-Sklaven. Wir wissen, dass die sozialen Gaben vorerst begrenzt sind. Im Vergleich mit Europa sind das sehr kleine Zahlungen. Aber für Bolivien sind die erwähnten Maßnahmen sehr bedeutend.

Bolivien hat in der internationalen Umweltschutzbewegung eine führende Rolle eingenommen und der 'Pachamama' – der Mutter Erde – gesetzlich Rechte zugesprochen. Was denken Sie über diesen Sachverhalt?
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Am Ende des 20. Jahrhunderts und am Beginn des 21. Jahrhunderts haben wir die Verpflichtung der Sicherung einer Generation der Beschäftigung. Doch dies verpflichtet uns ebenso, mit der  Begrenztheit der Natur fertig zu werden. Deshalb erfordert dies einen Wandel in unserem Kampf um Emanzipation. Emanzipation hat eine humanistische Grundlage. Es ist doch klar, dass man weder Marx noch den Philosophen des 19. Jahrhunderts vorwerfen kann, dass sie die [heutigen] Probleme der Umwelt und der Natur nicht in vollem Umfang vorhersehen konnten. Heute können wir in dem Kampf für eine bessere Welt die Menschen nicht von der Natur lösen oder absondern.

Man muss beide Seiten 'befreien', muss beide emanzipieren. Insbesondere ist dies für Ureinwohner sehr wichtig. Für die Gesellschaft der Ureinwohner stößt sich dieser Gedanke an der Wirklichkeit der Welt. Seit der Zeit der Invasion der Europäer hat diese Wirklichkeit die Existenzbedingungen unserer Länder, die die Rohstofflieferanten des Westens waren, geprägt. In Ländern wie Mexiko, Bolivien und vielen anderen waren Plantagen und die Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen die Basis unserer Ökonomien. Diese, unsere Rolle in der Weltwirtschaft, muss sich ändern.  

Dieser Wandel, den viele Genossen nicht verstehen und dem sie kritisch gegenüber stehen, kann nicht von Bolivien allein angegangen werden. Dies ist in diesem Stadium ein weltweiter Kampf, oder mindestens ein kontinentaler. Und er kann nicht über Nacht bewirkt werden. Aber wir sehen ihn wegen der Bedeutung des Kampfes bereits am Horizont.

Der kommunistische Horizont wurde durch Karl Marx eröffnet. Marx konnte ihn zu seiner Zeit jedoch nicht als Realität sehen und er konnte die Zeit des Kommunismus nicht konkret vorhersagen, aber er eröffnete den kommunistischen Horizont. Die Vision einer anderen möglichen Welt, unser aller Vision des Wunsches, besser zu leben – wurden eröffnet. Wir wissen noch nicht, wann und wie wir diese Welt eines besseren Lebens aufbauen werden. Es müsste aber die gegenseitige Ergänzung von Menschheit und Natur sein. In jedem Fall bedingt es einen Wandel.

Es gibt keine Wissenschaft, keine Gesellschaftswissenschaft, die nicht innerhalb ihrer eigenen Wissensgrundlagen die Natur thematisiert. In Bolivien gab es eine Diskussion einiger dümmlicher Akademiker, die meinten, dass sie dieses Problem erst heute entdeckt hätten. Was mich betrifft, so kann ich keine Politökonomie sehen, die das Thema der Natur nicht berücksichtigt. Dies ist auch eines der Themen von Marx. Wenn Marx in den 'Grundrissen' sagt, das "Land sei die Erweiterung des menschlichen Körpers und der menschlichen Gemeinschaft", beschreibt er die enge Beziehung zwischen den menschlichen Lebewesen und dem Land.

Evo Morales gibt der Pachamama eine hohe Bedeutung. Pachamama ist keine verrückte, esoterische Ideologie. Warum lieben wir die 'Mutter Erde'? Pachamama beinhaltet eine Religiosität, die sehr materialistisch ist. Sie ist weder Christentum, noch Katholizismus, noch idealistisch. Sie ist materialistisch, weil Pachamama das Land ist. Es ist das, was man isst, es ist die Erweiterung und Ergänzung unseres Körpers. Das ist es, was ihr Bedeutung verleiht. Man muss der Mutter Natur ihre 'Rechte' geben. Die Verfassung Ecuadors enthält keine formelle Anerkennung dieser Rechte, wie es die Verfassung Bolivien macht, aber sie ist offensichtlich im politischen Denken jenes Landes enthalten.

Es scheint zur Zeit eine Menge von Herausforderungen in Bolivien zu geben. Darunter sind solche wie die Auseinandersetzungen in den Organisationen der Bergarbeiter, in den Gemeinschaften der Ureinwohner über eine Straße durch den Urwald und die jüngsten Blockaden von Autobahnen. Wie geht die Regierung von Morales mit diesen Angelegenheiten um?
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Die Verfassung gibt den Kommunen viele Rechte. Unsere neue, von einer verfassunggebenden Versammlung im Januar 2009 verabschiedete Verfassung anerkennt zum ersten Mal die Rechte von Gemeinschaften. Unsere Verfassung hat früher nur die Rechte von Individuen anerkannt, die Meinungsfreiheit, Bürgerrechte und politische Rechte. Unsere neue Verfassung verleugnet diese individuellen Rechte nicht, aber sie erkennt ebenso die Rechte von Gemeinschaften an. Dies gibt dem Volk eine Menge Macht und das Volk nutzt diese Kollektivrechte. Und deswegen haben wir heute diese Widersprüche zwischen der Staatsmacht und Kollektivrechten.

Die Menschen wünschen sich so viele Rechte, darunter ist sogar der Wunsch, ihren eigenen Staat zu 'verschlingen' und die nationalen Behörden zu besiegen. In der Wirklichkeit schafft das spannende Situationen. Für sich genommen ist es weder schlecht noch gut. Es verpflichtet uns, nach neuen Mechanismen oder Formen der Artikulation zu suchen. Wenn wir dies lediglich in Begriffen der Staatsführung auf traditionelle Weise analysieren, erscheint es so, als ob die Menschen sich gegen die Regierung stellen und die Regierung nichts unter Kontrolle hat.

Aber so ist es in Wirklichkeit nicht. Es ist komplizierter. Es erscheint so, als ob es einen Prozess gibt, in dem die Menschen sich Evo Morales entgegen stellen. Aber das ist überhaupt nicht die Wahrheit. Denn wir haben erfahren, dass die Streiks im Transportwesen und die Streiks der Bergarbeiter gegen die Kooperativen vorübergehender Natur waren. Wenn Wahlen kommen, beenden diese beiden Wirtschaftssektoren dies, indem sie für Evo Morales stimmen und ihn unterstützen. Aus diesem Grunde sollte man vorsichtig damit sein, sich wegen dieser Konflikte zu fürchten. Zeitweilig versuchen die Bourgeoisie und die im Dienste der Bourgeoisie arbeitenden Medien, die Konflikte aufzubauschen und zu entstellen. Und sie sprechen von einer anderen 'Realität'.

Wir werden weder bei Marx oder Lenin, noch durch Kartenlesen, noch in den gefurchten Stirnen der Großeltern das Rezept für das Vorwärtsgehen finden. Wir werden dieses 'Rezept' nur im Laufe der Reise finden. Es gibt keine Rezepte für den Weg zum Sozialismus. Es gibt die großen Denker, die großen Gedankengänge, aber keine Rezepte. Weder bei Marx, noch bei Lenin, noch bei Che. (Ich bin ein Verehrer Guevaras.  Ich bin Mitglied der Nationalen Befreiungsarmee ELN, die Che gegründet hat.) Che nannte die Lehren dieser Begründer der politischen Ökonomie 'Handbücher für die Herstellung von Ziegelsteinen'.

Es gab viele Irrtümer in der Sowjetunion. Die sowjetischen Führer nach Lenin entfernten die Elemente eines schöpferischen Marxismus. Es gab sicherlich große Ideen, allerdings zeitweise widersprüchlich, da man auf der einen Seite einen neuen Staat schuf, während auf der anderen Seite der alte Staat fortbestand. Deshalb und weil alles gesellschaftlich miteinander in Beziehung steht, wird so ein Staat mit der Wiederherstellung des alten Staates enden, wenn er schlecht aufgebaut wird. Es untergräbt den neuen Staat.

Unsere Revolution ist grundsätzlich gewaltfrei. Dies ist von Vorteil, ist aber auch ein Problem. Wenn die Revolution Gewalt anwendete, wäre es leichter, einige Dinge hinsichtlich des Aufbaus eines neuen Staates zu bewältigen. Wir müssen jedoch gleichzeitig arbeiten und die Strukturen ändern. Die alten auflösen und neue schaffen. Dabei gibt es Probleme, Zusammenstöße, Stillstand und falsches Vorgehen. Dieser Prozess beinhaltet viele Widersprüche. ...

Welche grundlegenden Verbesserungen haben unter der Regierung von Morales im Hinblick auf den Lebensstandard und die Rechte des Volkes in der Wirtschaft stattgefunden?

Diese Regierung hat die Löhne der Arbeiter mehr als jede andere vorher angehoben. In den 20 Jahren, während derer neoliberale Regierungen Gehälter anhoben, betrug das Maximum 3% - jedoch nur für Staatsangestellte und nicht in der Privatwirtschaft. Sie ließen üblicherweise den Verhandlungen zwischen dem Privatsektor und den Arbeitern freien Lauf. Evo Morales erließ die Verpflichtung, den Mindestlohn für die Arbeitenden in Privatunternehmen genauso anzuheben, wie im staatlichen Wirtschaftsbereich. Zweitens wurde die Entlohnung unter der Regierung von Morales jährlich im Durchschnitt um 8-10% angehoben. Drittens entstanden andere, zusätzliche Arbeitsfelder.

Der Staat hat die Kontrolle der Wirtschaft zurück gewonnen, so dass die Zahl der Arbeitenden in davon betroffenen Unternehmen ebenfalls zunahm. Dazu gehört die Verstaatlichung der Ölindustrie, der Zinn-Bergwerke in Huanuni, der Zinnhütte in Vinto – Besitz des Schweizer Unternehmens Glencore, der Gesellschaft für Telekommunikation ENTEL und der großen Erzeuger von Strom. Dies alles bedeutet mehr Ressourcen für den Staat und auch ein Anwachsen von Arbeitsmöglichkeiten. Dennoch war der Neoliberalismus für unser Land so schlecht, dass wir bis jetzt eine Menge von Problemen noch nicht gelöst haben.

Die Regierung besitzt keinen Zauberstab, mit dem sie jedermann sofort eine Beschäftigung verschaffen kann. Es gibt harte Fakten, denen wir uns stellen müssen: eine solche Realität in der Welt ist der Wandel im Bereich der Arbeit, dadurch veränderte sich viel. Wir müssen diskutieren, was dies für den Prozess der revolutionären Transformation bedeutet.

Es ist für eine revolutionäre Regierung sehr schwierig, jedermann im staatlichen oder privaten Wirtschaftsbereich eine Arbeit zu garantieren. Wir müssen darüber nachdenken. Welche Bedeutung hat die Wirtschaft in der Gemeinschaft? Wie können wir kollektiv produzieren? Wie können wir uns die Resultate unserer Arbeit selbst aneignen? Wie sollen wir neue Austauschverfahren erzeugen? In einigen Bereichen können wir das ohne die Vermittlung mittels Geldes machen. Es ist möglich. ...

In der Provinz Eliodoro Camacho im Departement La Paz gibt es Gemeinschaften, die Austausch ohne Geld praktizieren. Es ist eine Form des Tauschhandels. Es handelt sich um die Gemeinschaft der Aymara-Ureinwohner. Vielleicht gibt es solche anderen Wege, um Dinge zu regeln. Dies ist ein wichtiges Thema für Arbeitende und Bauern.

Das große Problem jedoch ist, dass die Arbeitenden manchmal nicht so sehr gegen den Neoliberalismus als gegen Evo Morales protestieren, was bisweilen nicht berechtigt ist. Aber gleichzeitig, so denke ich, ist es gut. Denn sie üben Druck auf den Staat aus und alle Staaten neigen dazu, sich konservativ zu verhalten. Es ist also positiver Druck gegen den Staat.

Welche Stärke hat die rechts gerichtete und separatistische Bewegung mit dem Namen 'Media Luna', die die Morales-Regierung bekämpft und was ist ihre derzeitige Taktik?

Die Media Luna existiert heute nicht mehr. Sie war ein politischer Plan der Ultrarechten in den Departements Santa Cruz, Beni, Pando, Tarija und in Sucre – in diesen vier Provinzen und in einer Stadt. Sie beabsichtigten, das Land zwischen West-Bolivien und Ost-Bolivien zu teilen. Sie wollten einen Staatsstreich in Bolivien. Sie wollten Evo Morales aus der Regierung vertreiben. In den ersten Augenblicken ihrer Aktionen war das nicht deutlich, aber sie planten den Palast des Präsidenten zu besetzen. Diese Aktionen erwies sich in der Praxis jedoch als undurchführbar.

Sie hatten den Gedanken, das Land zu teilen und die Hälfte des Territoriums zu besetzen, auch unter Einsatz bewaffneter Gruppen. Aber das war nur zeitweilig, später gab es einen zweiten Ansatz, um eine Intervention der UNO und der Blauhelme der UN zu erreichen. Wir alle wissen, dass die UN ein Herrschaftsgebiet des von den USA gesteuerten UN-Sicherheitsrates ist. Auch dieses Vorhaben erwies sich in der Praxis als nicht möglich. Medi Luna wurde 2008 besiegt. Dieser rechte Flügel existiert jetzt nicht mehr.  ...

Wenn wir über Media Luna sprechen, so muss man auch darüber reden, dass es eine Stadt gibt, in der sich Rassismus Hand in Hand mit dem Geist des Konservatismus ausbreitet. La Paz ist das Zentrum des Rassismus und der Abweisung der Morales-Regierung. Die USA haben nie aufgehört, sich einzumischen. Die USA organisierten und finanzierten die bolivianische Opposition offen, vollkommen schamlos während der ersten Regierung von Morales. In der zweiten Amtszeit von Morales und bis heute machen sie das weiter, jedoch verdeckter.

Es gibt Aussagen von Präsident Obama gegen Bolivien und Brasilien, die sehr aggressiv sind. Wir wurden in unserem Kampf gegen den Drogenhandel schlecht gemacht, obgleich wir unter den Andenstaaten das Land sind, welches die Gebiete der Coca-Blatt-Produktion am meisten eingeschränkt hat. Die Gemeinschaft der Andenstaaten hat bescheinigt, dass in unserem Land die größte Zahl von Operationen gegen Drogen durchgeführt wurde. Die ehemalige Außenministerin Hilary Clinton hat stets über das Verwerfliche unserer Beziehungen zum Iran gesprochen, über unsere bösen Taten in der Beziehung zu Kuba, usw..

Die USA setzen also eine Außenpolitik fort, die gegenüber Bolivien einfach aggressiv ist, das gilt auch für Venezuela. Beim Marsch der 'Ureinwohner für Würde' in dem Widerstand gegen den Bau einer Autobahn in Beni mobilisierten einige Ureinwohner gegen Evo Morales. Aber sie wurden von NGOs mittels deren Ressourcen von der US-Regierung finanziell unterstützt. Es gibt eine sehr aktive Anwesenheit der USA in Bolivien.

Die Entwicklung der 'Bolivarischen Alternative für Lateinamerika' (ALBA) ist für die wachsende Einheit der fortschrittlichen Länder Lateinamerika entscheidend. Wie sehen Sie die Entwicklung dieses Prozesses?

Lateinamerika ist ein Laboratorium, in dem wir viele neue Dinge machen. Die kleine Ecke der Welt, über die Karl Marx im Europa des 19. Jahrhunderts sprach, ist das heutige große Lateinamerika. Wir wissen noch nicht, wie wir aus diesen Experimenten herauskommen werden. Nach gut 200 Jahren können wir aber heute sagen, dass wir uns in einem guten Zeitabschnitt befinden, obwohl wir von Gefährdungen umgeben sind.

Aber ich denke, dass Lateinamerika heute nicht mehr das Gleiche ist, wie in der Vergangenheit. Der Triumph der kubanischen Revolution kennzeichnete den Beginn einer neuen Zeitphase. Es war dies die dritte Emanzipation in Lateinamerika. Die dritte Emanzipation entspricht meiner Einteilung der Geschichte Lateinamerikas. Die beiden ersten Emanzipationen waren der Widerstand der Ureinwohner [gegen die Kolonisierung] und die Unabhängigkeitskämpfe gegen Spanien im 19. Jahrhundert. Und der dritte Aufschwung ging einher mit dem revolutionären Kuba.

Als es so schien, dass die Welt mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in eine dunkle Zeit schritt, dauerte es nicht lange, ja nur wenige Jahre, bis Lateinamerika neue Hoffnungsschimmer  ausstrahlte. Dies wurde inzwischen wegen des allgemeinen Kampfes der sozialen Bewegungen der lateinamerikanischen Revolution gegen den Imperialismus zu einem Fanal der Hoffnung.
Ich kann hier die Zapatisten in den 1990er Jahren nicht politisch analysieren, aber wir entdeckten drei Sachverhalte, welche die Erhebung Lateinamerikas bestimmten:

  1. Das Aufkommen und Anwachsen der Zapatisten in Mexiko im Jahre 1994.
  2. Der Aufbruch der Bauern und Ureinwohner in Bolivien und Ecuador, die sich ihre eigenen politischen Werkzeuge schufen.
  3. Der Sieg von Hugo Chavez 1998 in Venezuela.

Diese drei Ereignisse markieren eine günstige politische Lage. Obwohl die Zapatisten nicht im Sinne des Ergreifens der Staatsmacht siegten, waren ihr Kampf und ihre Gedanken ein Beispiel für eine ganz andere Bewegung. Man kann nicht sagen, dass dies bedeutungslos war. Historisch betrachtet bin ich kein Anhänger der Zapatisten. Um aber zu verstehen, was sich in Lateinamerika geschieht, muss man auf die Revolte der Zapatisten objektiv blicken, einschließlich ihres Einflusses auf das, was sich jetzt in Bolivien ereignet.

Aus solchen Gründen müssen wir Modelle überwinden, die uns in einfältigen Worten vorschreiben, dass es nur eine Wahl von Wegen gibt: entweder den des Kapitalismus oder den des Sozialismus.

Wir müssen uns verschiedene Modelle anschauen, die uns andere Mittel der Transformation aufzeigen. Es gibt hier in Lateinamerika eine Debatte über verschiedenste Vorhaben der Emanzipation, nicht nur über eines. Es ist nicht so wichtig, wenn es wie in Venezuela 'Sozialismus des 21. Jahrhunderts' oder anders genannt wird. In Ecuador ist es das 'Vivir Bien' (Gutes Leben), in Bolivien ist es Gemeinschafts-Sozialismus. Es handelt sich um verschiedene Vorhaben zur Verwirklichung von Emanzipation, sie sind nicht gleich. Aber sie haben Gemeinsamkeiten, ähnliche Fäden verbinden diese Modelle. Und sie haben verschiedene Mittel und Formen des Ausdrucks. ...

Der Zusammenbruch der Sowjetunion zerstörte unsere Träume. Die positive Seite dieses negativen Ereignisses war allerdings, dass es die Lateinamerikaner zwang, mit ihrem eigenen Gehirn zu denken. Die Linke in Lateinamerika dachte früher aus der Sicht Europas. Sie dachten nur an die Arbeiterklasse bei Karl Marx, aber dies war eine euro-zentristische Vision. Falls man nicht ein Teil der Arbeiterklasse war, spielte man für sie keine Rolle. Es war eine verfälschte Interpretation von Marx.

Die Trotzkisten und die stalinistischen Kräfte in Lateinamerika fügten dem Kampf unseres Volkes eine Menge Schaden zu. Denn sie übertrugen mechanisch und unreflektiert auf Lateinamerika, was Marx über Europa dachte. Und sie entfernten dessen schöpferische Essenz. Ich war immer dagegen, den Marxismus lediglich als eine akademische Wissenschaft zu behandeln. Denn darin liegt begründet, dass viele der Linken selbst seinen wissenschaftlichen Inhalt entfernten. Sie verwandelten ihn [den Marxismus] in eine Bibel.

Diese 'Marxisten' sind teilweise mitschuldig, dass heute so viele Ureinwohner – auch in diesem Land Bolivien – nicht an den Sozialismus glauben. Wie können wir auch an den Marxismus und Sozialismus glauben, wenn man die Ureinwohner nicht berücksichtigt? Der 'offizielle' Marxismus bei uns band die Bauern und die Ureinwohner nicht ein. Ich bin nun seit vielen Jahren Marxist, aber man muss dem Marxismus sein wahres Wesen lassen. Man darf nicht sagen, dass er nur eine soziale Wissenschaft ist, denn dann zerstört man seinen schöpferischen Charakter und seine Fähigkeit zur Umwandlung der Gesellschaft. ...

Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Zeit in Lateinamerika, weil wir von einem Stand ausgehen, wo einige von uns Macht errungen haben, wo es aber auch starke soziale Bewegungen gibt. Gegenwärtig haben nicht alle Völker ihre eigenen Regierungen. Es gibt Staaten, in denen die Menschen keine revolutionäre Regierung haben, aber sie schreiten außerhalb des Staates voran, wie in Argentinien, Brasilien oder wie die Studenten in Chile.

Es ist klar, dass unsere revolutionären Prozesse in Bolivien, Venezuela und Ecuador nicht voran kommen, wenn sie nicht in ihren inneren Kämpfen vorwärts gehen, auf Basis der Stärke der Bewegungen ihrer Völker. Denn wir müssen in dieser Welt leben, ob wir wollen oder nicht. Die fortschrittlichen Regierungen von Christina Kirchner de Fernandez in Argentinien und die Regierung von Brasilien helfen uns auch, voran zu kommen. Wir wissen, dass diese Regierungen tief gehende innere Widersprüche in ihren Gesellschaften haben, durchaus nicht die gleichen, wie unsere. Doch wären wir nicht da, würde es auch für sie Schwierigkeiten bedeuten. Die Länder würden schlechtere Regierungen haben.

In den internationalen Beziehungen haben sie jedoch eine Politik entwickelt, die eine klare Abgrenzung von den USA bedeutet. Wir können sagen, dass sich Lateinamerika 'lateinamerikanisiert' und seinem eigenen Recht Raum verschafft. Unser Kampf gegen den Imperialismus ist bedeutend. ALBA hat einen größeren politischen Einfluss gehabt, als durch die Schaffung neuer Modelle von Handelsbeziehungen. ALBA verbessert sich immer noch. ALBA ist ein alternativer Mechanismus der Integration, obwohl sie - wie ich denke - als eine Handels- und Wirtschaftseinheit Grenzen hat. Aber als ein Symbol und Beispiel für eine richtige Politik ist sie viel mehr wert, als nur ein Mechanismus für den Handelsaustausch. Ohne ALBA gäbe es keine staatliche Gemeinschaft in Lateinamerika und der Karibik, ohne ALBA gäbe es kein UNASUR. ALBA spielt also eine bedeutende Rolle.

Welche Vision haben Sie hinsichtlich der Zukunft Boliviens in den nächsten zehn Jahren?

Wir wissen nicht, was sein wird. Alles, was wir wissen ist, dass Lateinamerika und Bolivien sich im Kampf befinden – jeden Tag. An jedem Tag wissen wir nicht, ob wir weiterleben oder morgen sterben werden. Wir fordern den machtvollsten Imperialismus der Welt heraus. Der Kapitalismus wächst und ich möchte nicht behaupten, dass er bereits tot ist.

Der Kapitalismus treibt heute eine neue Welle der Kolonisierung in der Welt voran. Das beginnt in Afrika und in einem Teil Asiens. Aus diesem Grund verspürten Bolivien und andere Länder einige Besorgnis.

Der Kapitalismus erschafft neue Formen der 'Ursprünglichen Akkumulation'. Sie 'akkumulieren durch Enteignung'. Wo liegen heute denn die großen natürlichen Reichtümer der Welt? In Lateinamerika und in Afrika. Die Imperialisten besetzen Afrika direkt militärisch. Sie machen das bei uns bisher nicht. Aber ich möchte nicht behaupten, dass sie das nie tun werden. Das meiste Trinkwasser befindet sich in Lateinamerika und die USA brauchen frisches Wasser. Die größten Reserven von Lithium, die Urwälder, die Sauerstoff erzeugenden Pflanzen, die besten medizinischen Pflanzen und die Quellen der biologischen Vielfalt befinden sich in Lateinamerika.

Der Imperialismus beginnt in Afrika, aber er möchte nach Lateinamerika zurückkehren. Wie viele Menschen sind sich dessen bewusst? Sehr wenige. Wir wissen nicht, was sich in Lateinamerika abspielen würde, falls die Imperialisten eine Invasion begännen. Zum Glück haben wir noch etwas Zeit.

Welche Botschaft haben Sie ... hinsichtlich der Notwendigkeit internationaler Solidarität mit Bolivien und dem Rest Lateinamerikas.

Im 20. Jahrhundert folgte Lateinamerika dem Beispiel der Kämpfe der Menschen Europas, besonders der sozialistischen Länder Europas. Was können wir mit diesen Erfahrungen im Hinterkopf sagen? Entwickelt alle möglichen Formen der Solidarität mit Bolivien, Venezuela und Ecuador und mit Lateinamerika im Allgemeinen. Lateinamerika ist ein Labor der Kämpfe. Ich möchte nicht sagen, dass ihr einfach unserem Beispiel folgen solltet, denn das könnte ein Akt von Buchgläubigkeit sein. Zu glauben, dass Lateinamerika die Lösung für die ganze Welt besitzt: so etwas dachten wir einst über die Sowjetunion.

Ihr müsst ebenfalls kämpfen. Jedermann in aller Welt muss gegen den Kapitalismus kämpfen. Euer Kampf, wo immer er möglich ist, ... wird dem [geschichtlichen] Prozess in Lateinamerika helfen. In militärischen Begriffen gesagt – der Feind ist derzeit von seinem Ziel abgedrängt. Der Feind konzentriert gerade jetzt seine Kräfte in Afrika und Asien. Wenn Europa und der australische Kontinent kämpfen, wird uns dies begünstigen. Denn es zwingt den Feind, sich auf andere Probleme entfernt von uns zu orientieren.

s.a.: Bolivien verweist USAID des Landes

Quelle: Journal of Socialist Renewal; amerika21.de