Aus Bewegungen und Parteien

berlin rigaer str gst07.07.2016: Seit über einer Woche wird in Berlin-Friedrichshain nicht nur über Gentrifizierung sondern auch wieder über Repression und Staatsgewalt diskutiert und aktioniert. Der Grund: Ende Juni stürmte die Polizei das Wohnprojekt Rigaer Straße 94 und blieb dort seitdem martialisch stationiert. Damit wiederholt sich ein Szenario, welches bereits Mitte Januar 2016 das Gebiet für mehrere Wochen zu einer polizeilich besetzten Zone gemacht hatte.

Welche Folgen das für ein Leben im „Gefahrengebiet“ Rigaer Straße hat, führten Hausbewohner jüngst auf einer Pressekonferenz vor Augen: Polizisten sind im ganzen Haus verteilt. Wenn die Bewohner ihre Wohnungen betreten wollen, müssen sie sich ausweisen. Besucher von Hausbewohner wurden mehrmals am Betreten des Gebäudes gehindert. Als Freunde der Hausbewohner das Besuchsverbot missachteten und über die Absperrung klettern wollten, setzte die Polizei Pfefferspray ein und es gab mehrere Festnahmen.

berlin rigaer str polizei gstUnd warum das Ganze? Der aktuelle Polizeieinsatz soll laut Pressemitteilung der Polizei die Tätigkeit der Bauarbeiter sichern, die im Auftrag des Eigentümers Brandschutzmaßnahmen vornehmen und einige Räume zu Flüchtlingswohnungen ausbauen wollen. Mit tatkräftiger Hilfe der Polizei in einer Stärke von 300 Mann/Frau gelang es schließlich, Dachböden, eine Werkstatt und weitere Räume „zu erobern“, für die es angeblich keine gültigen Mietverträge gibt. In einer vom Investor verbreiteten Presseerklärung hieß es, man werde die freiwerdenden Räume „an Flüchtlinge vermieten, wobei man sich am Mietspiegel orientiere.“ „Das dürfte nur vorgeschoben sein“, konstatierte selbst die „Berliner Zeitung“ (30.6.16), „denn die Mieten in Friedrichshain sind inzwischen so hoch, dass kein Amt diese für Flüchtlinge übernehmen würde.“

Dass es sich bei den von Investor und Polizei vorgebrachten Begründungen für den bürgerkriegsähnlichen Einsatz um vorgeschobene Argumente handelt, ist allen Beteiligten klar. Es ist schließlich Wahlkampfzeit in Berlin und Zeit für rechte politische Hardliner – allen voran für Innensenator Frank Henkel (CDU) - sich in Law-and-Order-Manier beim Wahlvolk der „enthemmten Mitte“ zu profilieren. Ist doch das Projekt „Rigaer94“ eines der wenigen Überbleibsel der linken Hausbesetzer-Szene in Friedrichshain und trotzt beharrlich dem Verdrängungsprozess alteingesessener Mieter, der sich zur Zeit hier abspielt. 1992 hatten die Bewohner von der städtischen Wohnungsbaugesellschaft günstige Mietverträge erhalten. Aber im Jahr 2000 wurde das Haus an einen privaten Investor verkauft, der die Mietverträge nicht anerkennen wollte und Räumungsklagen einreichte – die er allesamt vor Gericht verlor. Ende 2014 gab der Eigentümer entnervt auf und verkaufte die Immobilie an eine Investmentgesellschaft, die ihren Geschäftssitz in London und auf den Britischen Jungferninseln hat.

Solidarität mit linkem Hausprojekt

In einer Stellungnahme der Bezirksgruppe Friedrichshain der Berliner Mietergemeinschaft heißt es: "Es ist bemerkenswert, dass die Belange einer x-beliebigen Briefkastenfirma aus den Panama-Papers als Hauseigentümerin derart kompromisslosen Vorrang haben vor den berechtigten Interessen der Friedrichshainer nach bezahlbarem Wohn- und Lebensraum und dass das Fingerschnipsen eines Investors reicht, um einen riesigen Polizeieinsatz mit horrenden Kosten für die Allgemeinheit einzulösen."

Und das Bewohner-Kollektiv Rigaer94 schreibt: „Die Teilräumung der Rigaer 94 und der momentane Verlust des öffentlichen Raumes „Kadterschmiede“ sind ein Versuch, rebellische und solidarische Strukturen aus dem Kiez zu verdrängen, um kapitalistische Stadtpolitik durchzusetzen.(...) Die Angriffe auf den Friedrichshainer Nordkiez sind beispielhaft für die menschenverachtende Politik der Verdrängung, Aufwertung und strikte Aufteilung von Räumen für 'Reiche und Arme'.  Dabei geht es nicht um einen selbstbezogenen Kampf für Szeneorte sondern um einen gemeinsamen Kampf der auf unterschiedlichen Ebenen gegen Vertreibung, Verdrängung und eine Stadt der Reichen geführt werden muss.“

Seit Ende Juni ist die Rigaer Straße samt angrenzenden Straßen besetztes Gebiet, die Anwohner sind durch die Polizei vielfältigen Schikanen und Einschränkungen ihrer Bürger- und Mieterrechte ausgesetzt. Man fühlt sich an eine Reportage Egon Erwin Kischs aus dem Jahr 1927 über die Berliner Polizei erinnert, in der er feststellte: „Ursprüngliche Aufgabe der Polizei war der Schutz der Gesellschaft vor Verkehrsunfällen und vor Verbrechen. Längst aber ist sie darüber hinaus zu einer Waffe geworden, angewendet wider alle, die aufzumucken wagen gegen Willkür des Unternehmers, gegen Dünkel des Bürokraten und gegen Missbrauch der Gesetze.“

Ein zentrales Problem in der Auseinandersetzung um die Rigaer Straße ist dabei die Konstruktion von Gefahrengebieten, die all diese Verletzungen von Mieter- und Grundrechten, aber auch ein massives Sammeln von Daten möglich machen. Auf einem rechten Blog wurde jetzt eine Datei veröffentlicht, bei der es sich um ein internes Dokument der Berliner Polizei zu Personalienfeststellungen im Zusammenhang mit dem Einsatz in der Rigaer Straße handelt. Das teilweise geschwärzte Dokument enthält Namen von angeblich bei Kontrollen in dem linken Hausprojekt festgestellten Personen.

Die Fraktionen der LINKEN und der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus forderten Aufklärung über diesen Vorfall. „Wenn Bericht und Weitergabe authentisch sind, haben wir - je nach Umständen - einen Polizeiskandal“, so der Innenexperte der Grünen.

Unterdessen mehren sich in Berlin-Friedrichshain praktische Solidaritäts-Aktionen. So organisieren Anwohner gemeinsam mit den Bewohnern des belagerten Hauses z.B. Straßenblockaden: „Wir wollen unsere Straße zurück“ wird dabei skandiert. Eine Bäckerei in der Rigaer Straße erteilt Polizisten Hausverbot; sie dürfen dort weder einkaufen noch die Toilette benutzen. Mitte letzter Woche tauchten an Bushaltestellen an markanten Berliner Punkten (z.B. Alex, Frankfurter Tor) „Wahlplakate der CDU“  auf – so die täuschend echte Wahrnehmung auf den ersten Blick -  auf denen u.a. zu lesen war: „Zeit für Rexit – Truppenabzug aus der Rigaer Straße“. Verantwortlich zeichnete eine „Rigaer Außenwerbungs Fraktion“. Für Sonnabend, den 9. Juli ist die nächste Demonstration geplant.

Demo: Samstag 9.07. / Auftaktkundgebung 20:30 Uhr / Demostart 21:00 Uhr pünktlich! / Wismarplatz / (Nähe U-Samariterstraße)

Text/Fotos: fausto