Analysen

China flickr-bfishadow28.12.2016: Die chinesische Industrie hat ihre Gewinne 2016 deutlich gesteigert. Von Januar bis November lagen sie um 9,4 Prozent über dem Ergebnis des Vorjahreszeitraums, wie das Statistikamt gestern (Dienstag, 27.12.2016) in Peking mitteilte. In den ersten drei Quartalen ist die nach den USA zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt um 6,7 Prozent gewachsen. Chinas Wirtschaftsdaten werden weltweit mit größter Aufmerksamkeit registriert. Geht der Aufschwung zu Ende? Führen steigende Schulden bei Unternehmen zum Kollaps? Platzt die Immobilienblase? Wolfgang Müller analysiert die Entwicklung und kommt zu dem Ergebnis: kein Anlass für Alarmismus.


Aus Ostasien veröffentlichte Wirtschaftsdaten werden international mit höchster Aufmerksamkeit registriert. Wenn in China die berühmte Tasse Reis umfällt, also wenn das Wirtschaftswachstum auf nur noch 6,5% gegenüber dem Vorjahresmonat zurückgeht, wenn chinesische Hobbyspekulanten sich an der Börse verzocken oder die Exporte des Landes im Monatsvergleich leicht fallen, so hat das weltweite Folgen. Denn China ist inzwischen nicht nur das Land mit der zweitgrößten oder sogar der größten Wirtschaftsleistung (vor den USA, nach Kaufkraftparitäten gerechnet), sondern auch weltgrößter Exporteur und einer der größten Importeure.

Die Weltwirtschaft und damit die Wirtschaftsentwicklung in allen Erdteilen und besonders in den rohstoffproduzierenden Ländern sind inzwischen wesentlich von China abhängig. Zwar ist Chinas Finanzsektor nach wie vor relativ abgeschottet von den internationalen Märkten, der Zahlungsverkehr ist noch nicht voll liberalisiert. Zwar entfallen auf China bis heute gerade 5% des bestehenden Investitionsstocks aller Auslandsinvestitionen.

Aber Chinas dynamische nachholende Entwicklung hat über fast zwei Jahrzehnte auf dem Weltmarkt für einen beispiellosen Turbo gesorgt. Das ist am auffälligsten bei der Nachfrage nach Rohstoffen: 2014 entfiel auf China die Hälfte des weltweiten Verbrauchs an Aluminium, Kupfer, Nickel und Zink. China konsumierte 12% des Rohöls und 50% der weltweiten Steinkohleförderung. Das gilt auch für Agrarprodukte: Auf Chinas Konto gehen 80% des Anstiegs des weltweiten Exportvolumens von Soja, Kaffee und Baumwolle seit der Jahrtausendwende.

An Chinas Entwicklung hängen aber nicht nur die rohstoffproduzierenden Länder und Entwicklungsländer. Die deutsche Autoindustrie macht schätzungsweise die Hälfte ihrer Gewinne in China; China ist damit entscheidend für die Zukunft von Deutschlands Schlüsselbranche. Ähnliches gilt für andere Branchen, u.a. für Europas Luxusgüterindustrie.

Chinas nachlassendes Wachstum erklärt einen wesentlichen Teil des aktuellen Rückgangs im Welthandel, was u.a. die Frachtraten für Container auf ein historisches Tief gedrückt hat. Besonders getroffen sind Japan und Südkorea, weil die Lieferketten in Ost- und Südostasien eng verzahnt sind. Wenn Chinas Exporte zurückgehen, weil Chinas Währung überbewertet ist und weil die globale Nachfrage zurückgeht, so trifft das auch die Importe, und nicht nur die Rohstoffeinfuhren: Denn Chinas Exportprodukte haben laut OECD einen hohen Importinhalt. Beispiel Apple: Wenn hunderttausende Foxconn-Arbeiter in China iPhones montieren, dann kommen die werthaltigsten Komponenten aus Südkorea, Japan, Taiwan und aus den USA.

Als in den USA schon lange vor Trump das China-Bashing Hochkonjunktur hatte, zeigte die chinesische Außenhandelsstatistik, dass über 50% aller China-Exporte in die USA die Logos von US-Multis trugen, mithin konzerninterner Warentransfer waren. Außerdem verkauften US-Firmen in China doppelt so viel, wie das offizielle Exportvolumen von den USA nach China ausmacht.

Kein Zweifel also: Chinas Entwicklung wird für die Weltwirtschaft immer wichtiger. Über viele Jahre war der chinesische Markt der Puffer, der die Geschäfte von multinationalen Konzernen bis zu Mittelständlern komfortabel abfederte angesichts von globaler Wirtschafts- und Finanzkrise und Zwangssparen in Europa. Wenn aber – wie 2015 geschehen – Deutschlands Außenhandel mit China erstmals seit vielen Jahren nicht mehr wächst, sondern leicht einbricht, weil China nicht noch mehr Maschinen für noch mehr Autofabriken importieren kann, ist gleich Krise angesagt.

Die China-Berichterstattung im Westen hat also einen leicht hysterischen Zug, wenn der schon seit 15 Jahren immer wieder prognostizierte Kollaps erneut ausgemalt wird, weil die Wachstumsraten zurückgehen. Trotzdem bleibt die Frage, wie sich Chinas weitere Entwicklung vollzieht. Ist China nach 25 Jahren ununterbrochenem Wachstum jetzt in der kapitalistischen Normalität angekommen?

Wachstumsblase oder Normalisierung?

Im vergangenen Jahr wuchs Chinas Wirtschaft nach offiziellen Angaben nur noch um 6,9%. Viele westliche Ökonomen zweifeln an der offiziellen Statistik und gehen von einem deutlich niedrigeren Wachstum aus. Sie verweisen darauf, dass der von Premier Li Keqiang einmal formulierte informelle Index u.a. aus Stromproduktion und Gütertransport eine wirtschaftliche Kontraktion anzeigt. Davon ist aber in Chinas Städten bislang nichts zu spüren: Der Konsum wächst weiter zweistellig, der Arbeitsmarkt ist teilweise leergefegt.

Für die nächsten Jahre plant Chinas Regierung weiter mit einem Wachstum von über 5%. Nach zwei Jahrzehnten mit zweistelligen Wachstumsraten ist jetzt also Normalisierung angesagt.

Die chinesische Regierung spricht vom Umsteuern der Wirtschaft mit Schwerpunkt auf den Binnenmarkt, weg von der Exportorientierung. Ziel ist eine neue Balance zwischen Investitionen und Konsum. Die bislang überdimensionierten Investitionen machen in China noch knapp 50% der Wirtschaftsleistung aus. In Japans Boomzeiten vor mehr als 30 Jahren lag diese Quote bei 40%.

Chinas nachholende Entwicklung ist weitgehend abgeschlossen.

Rein rechnerisch ist es einfach, von einer niedrigen Basis aus schnell zu wachsen. Als Chinas Boom begann, war das Niveau noch so gering, dass 10-15% Zuwachs schnell geschafft waren. Doch seit 1990 hat sich die reale Wirtschaftsleistung pro Kopf etwa verzehnfacht. Da ist es kaum möglich, nochmals 10% draufzulegen.

Während Deutschlands Exporteure die Panik kriegen, weil das für sie hoch profitable China-»Wunder« vorbei ist, sind aus chinesischer Sicht Zuwachsraten der Gesamtwirtschaft von etwa fünf Prozent komfortabel. Eine Wachstumsrate von 6,9% 2015 ist ohnehin eine aggregierte Zahl: Einerseits stecken ganze Sektoren wie die Stahlindustrie oder der Bergbau tief in der Krise. Chinas Exportindustrie, die »Fabrik der Welt«, schwächelt.

Dagegen sind der Binnenkonsum und der Dienstleistungssektor zweistellig gewachsen. Ökonomen sprechen von China als einem Land mit zwei Volkswirtschaften: einerseits einer Exportökonomie, die unter dem Druck massiv gestiegener Löhne und schwacher globaler Nachfrage in erheblichen Schwierigkeiten steckt; andererseits einem riesigen Binnenmarkt, der sich mehr und mehr im Sinne einer Kontinentalökonomie entwickelt.

Das von der chinesischen Regierung eingeleitete Umsteuern – weniger Investitionen, weniger Exportfokus – zeigt offenbar Wirkung. Die Aufgabe ist aber kompliziert, weil daran Millionen Arbeitsplätze und das Schicksal ganzer Regionen hängen. Die Aufgabe wird auch nicht leichter dadurch, dass die Herstellerpreise massiv unter Druck sind, dass Chinas Währung deutlich überbewertet ist und viele Unternehmen – staatliche und private – hoch verschuldet sind. Bislang ist aber der Arbeitsmarkt von den Schwierigkeiten der Unternehmen und von den beim Umsteuern zwangsläufig auftretenden Friktionen noch weitgehend unberührt. Eine Massenarbeitslosigkeit würde das ganze Reformprojekt infrage stellen.

Chinas Industrieproduktion schwächelt

In den vergangenen 30 Jahren hat vor allem der verarbeitende Sektor Chinas spektakuläre Expansion befeuert. Der ständig wachsende Arbeitskräftebedarf vor allem der Fabriken in den industriellen Zentren im Perlflussdelta bei Hongkong und in den Provinzen entlang der ostchinesischen Küste hat in diesem Zeitraum eine Wanderungsbewegung von Wirtschaftsmigranten und eine gesellschaftliche Umwälzung in Gang gesetzt, die für europäische Gemüter unvorstellbar ist. Während 1980 noch etwa 80% der Bevölkerung – rund eine Milliarde Menschen – auf dem Land lebten, wohnen heute über 50% oder etwa 700 Mio. in den Städten. Bis 2030 werden es 80% sein.

Chinas kapitalistische Industrialisierung hat Millionen Reiche und Superreiche hervorgebracht. Nach dem neuesten World Wealth Report ist die Zahl der Einkommensmillionäre im vergangenen Jahr um 16% auf über eine Million gestiegen (Süddeutsche Zeitung, 24.6.2016). China hat inzwischen mehr Milliardäre als die USA.

Die Industrialisierung war auch der Motor für das Entstehen einer kaufkräftigen Mittelklasse, zu der heute – je nach Zählweise – zwischen 100 und 400 Mio. Menschen gerechnet werden und von deren Kaufkraft die Markenartikler und Luxusgüterhersteller der ganzen Welt träumen. 75 Mio. Chinesen machen in diesem Jahr eine Auslandsreise.

Nach offiziellen Statistiken ist die industrielle Auslastung in den letzten Quartalen gefallen und liegt auf dem niedrigsten Wert seit 2012. Chinas Produktion von Stahl und Strom, wichtige Indikatoren für die Wirtschaftsentwicklung, ist 2015 zum ersten Mal seit vielen Jahren kontrahiert (Financial Times, 20.1.2016). In vielen Sektoren verzeichnen die Hersteller Überkapazitäten.

Die weltweite Nachfrage nach chinesischen Produkten wird schwächer, das Wachstum der Schwellenländer ist eingebrochen, besonders bei den Rohstoffproduzenten. Zudem hat Chinas Währung im letzten Jahrzehnt um ca. 40% aufgewertet, auch ein Ergebnis des Exporterfolgs. Schließlich sorgen sinkende Rohstoffpreise für zusätzlichen Druck auf die Herstellerpreise.

Nach den Daten des Caixin-Einkaufsmanager-Index (Caixin ist ein chinesischer Finanznachrichtendienst), der vor allem den Privatsektor erfasst, sowie nach der amtlichen Statistik, die mehr die Staatskonzerne berücksichtigt, ging im letzten Herbst die Industrieproduktion weiter zurück. Der Index der Herstellerpreise fiel 44 Monate in Folge (Financial Times, 2.11.2015). Die Zahlungsmoral in den eng vernetzten Lieferketten wird deutlich schlechter. Vor allem kleine Privatunternehmen geraten mit den Lohnzahlungen in Rückstand (Financial Times, 28.4.2016).

Trotz des Preisdrucks sind insbesondere die Löhne, die ca. ¼ der Herstellungskosten ausmachen, weiter gestiegen. Seit 2005 hat sich der Durchschnittslohn für einen chinesischen Fabrikarbeiter vervierfacht, folgt man den Berechnungen des Conference Board, einer Lobby-Organisation der US-Wirtschaft.

Chinas Hersteller, die für ca. 30% der Wirtschaftsleistung stehen, antworten wie anderswo im Kapitalismus mit Entlassungen, Fabrikschließungen und Kostensenkungen. Um dem Kostendruck zu entkommen, setzen sie zudem auf Automatisierung und Digitalisierung der Produktion. Der deutsche Trendbegriff »Industrie 4.0« hat in China seine Entsprechung in dem Begriff »Made in China 2025«. Das ist auch der Hintergrund, vor dem der chinesische Hausgeräte-Hersteller Midea ein Übernahmeangebot an die Aktionäre des Roboterbauers Kuka abgegeben hat. Gleichzeitig setzen die chinesischen Hersteller auf höherwertige Produkte und verstärkt auf den inländischen Markt. Ein Beispiel ist das Privatunternehmen GKO aus der Küstenprovinz Zhejiang: Das produzierte bislang Aluminiumprofile für Autoteile und Gebäudefassaden und stellt nun leichte, schicke Alukoffer für Chinas rasant wachsenden Tourismussektor her.

Überkapazitäten überall?

Im Februar warnte Jörg Wuttke, Präsident der Europäischen Handelskammer in Peking, vor Chinas industriellen Überkapazitäten mit der Folge von Arbeitsplatzverlusten und protektionistischen Tendenzen in Europa (Financial Times, 23.2.2016).

Nach der Studie der Europäischen Handelskammer liegt die Kapazitätsauslastung in sechs von acht untersuchten chinesischen Branchen – darunter Stahl, Aluminium, Glas, Papier, Zement und Raffinerien – noch niedriger als 2009, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise. Damals hatte die chinesische Regierung ein kreditfinanziertes Konjunkturprogramm gestartet, das vor allem die Staatsunternehmen förderte und zu den jetzigen Überkapazitäten in der Schwerindustrie beitrug.

Chinas Arbeitsminister kündigte im März an, dass 1,5 Mio. Bergarbeiter in der Kohleindustrie und 500.000 Stahlarbeiter ihren Job verlieren würden (Economist, 19.3.2016). Mit umgerechnet 15 Mrd. US-$ wollen die Zentral- und Provinzregierungen Ersatzarbeitsplätze schaffen und damit den Personalabbau abfedern. Der hochmoderne Stahlkonzern WISCO, der u.a. die frühere Thyssen-Tochter Tailored Blanks in Duisburg übernommen hat, plant den Abbau von 11.000 Arbeitsplätzen. Der staatliche Steinkohle-Konzern Longmay will 100.000 von 250.000 Arbeitsplätzen vor allem in Nordostchina abbauen.

Zehntausende Bergarbeiter demonstrierten in Shuangyashan nahe der russischen Grenze am 12. März, zeitnah zur Jahrestagung des chinesischen Parlaments, des Nationalen Volkskongresses, weil der Konzern monatelang mit den Lohnzahlungen im Rückstand war.

Es bleibt abzuwarten, wie die chinesische Regierung in den nächsten Monaten und Jahren den unvermeidlichen Abbau von Überkapazitäten in vielen Branchen und damit verbunden die Reform der Staatsunternehmen anpacken wird. Die in westlichen Medien gerne geforderten schnellen harten Einschnitte dürfte es jedenfalls nicht geben. Dafür müssen zu viele Interessen berücksichtigt werden: die der betroffenen Beschäftigten, die bislang in den Staatsunternehmen einen vergleichsweise sicheren Job hatten und deren Entlassung die soziale Stabilität gefährden würde; die betroffenen Provinzen vor allem in Nordostchina und im Inland, deren Wohl viel mehr als in den exportstarken Küstenprovinzen an einzelnen Staatskonzernen hängt; die Führungsebenen der Staatskonzerne, deren Bosse teilweise Chinas Ministern gleichstehen und die die wirtschaftliche Expansion vorantreiben sollen; die Zentralregierung, die auf eine ausbalancierte Entwicklung zu einem neuen Wirtschaftsmodell setzt.

Die Schwierigkeiten bei diesem Prozess zeigt das jahrelange Ringen um die Entwicklung der Stahlindustrie: Chinas zentrale Planungsinstanz, die Nationale Kommission für Entwicklung und Reform (NDRC), hat im Frühjahr eine Direktive zur Reform der Stahlindustrie veröffentlicht – angeblich das 21. Dokument zu dem Thema seit 2010.

Schuldenblase?

Ist Chinas Wachstum in den letzten Jahren vor allem über Schulden finanziert? Sehen wir nach den USA demnächst in China den nächsten Akt des Dramas, in dem die Finanzspekulation die Realwirtschaft in Geiselhaft nimmt? Ist in China eine gigantische Blase entstanden, die irgendwann platzt und die Weltwirtschaft ins Schleudern bringt?

Viele Kommentatoren der westlichen Medien legen das nahe. Der Blick auf die Zahlen scheint ihnen Recht zu geben.

Seit der globalen Krise 2008/09 ist das Kreditvolumen in China wesentlich schneller gewachsen als die Realwirtschaft. Mit einem massiven Kreditprogramm und der Lockerung der Bedingungen der Kreditvergabe versuchte die chinesische Regierung damals, die Auswirkungen der weltweiten Krise auf Chinas Exportindustrie und auf die Beschäftigung abzumildern. Gleichzeitig wurden Infrastrukturprogramme forciert wie der Bau von Autobahnen und der Ausbau der Hochgeschwindigkeits-Bahntrassen, der Bau von neuen Flughäfen und von U-Bahn-Systemen.

Das antizyklische Gegensteuern funktionierte: Trotz des dramatischen Einbruchs der weltweiten Nachfrage entstand in der Exportindustrie keine Massenarbeitslosigkeit. Chinas Wirtschaftswachstum ging im Wesentlichen ungebrochen weiter, u.a. einer der Gründe, warum die deutsche Industrie als Lieferant von Maschinen, Anlagen und Luxusautos schnell aus der Krise kam. Heute hat China eine hochmoderne Infrastruktur, die sonst nirgends auf der Welt zu finden ist.

Seit der Finanzkrise hat sich das Kreditvolumen in China fast verdoppelt: von 148% (2007) auf 237% (März 2016) der jährlichen Wirtschaftsleistung (FT, 25.4.2016). Nach Kalkulationen von McKinsey, die auch die Kreditvergabe außerhalb der großen Staatsbanken und durch die sogenannten Schattenbanken einbeziehen, liegt die Gesamtverschuldung sogar bei 282% und damit fast dem Dreifachen der jährlichen Wirtschaftsleistung.

Zum Vergleich: Nach Daten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel liegt die Gesamtverschuldung der Eurozone bei 270% und die der USA bei 248%, während die Gruppe der »emerging countries« eine Verschuldungsquote von nur 175% aufweist.

Westliche Ökonomen sehen im schnellen Anstieg von Chinas Gesamtverschuldung insofern ein Problem, weil es volkswirtschaftlich schwierig sei, in kurzer Zeit so riesige Kapitalmassen produktiv und profitabel zu investieren. Damit steige das Risiko fauler Kredite in den Bankbilanzen und einer Finanzkrise oder auch einer langfristigen Stagnation, so ein Ökonom von Goldman Sachs (FT, 25.4.2016). Allerdings sind die Kredite durchaus zum größten Teil produktiv eingesetzt worden – für Investitionen, die langfristigen volkswirtschaftlichen Nutzen bringen.

Zweifellos ist aber auch Geld in dubiosen Projekten versenkt worden. Damit sind nicht die im Westen gerne beschworenen »Geisterstädte« mit hunderten leerstehenden Hochhäusern gemeint (siehe unten), sondern vor allem die jetzt offensichtlichen Überkapazitäten in manchen Industriesektoren. Ein Indiz dafür ist die Verteilung des Kreditvolumens: Der überwiegende Teil der Kredite, nämlich 70% der Gesamtverschuldung, ist an Unternehmen gegangen. Über die vier großen staatseigenen Banken werden die Kredite vor allem an die über 100 Staatskonzerne vergeben, die von Peking aus gesteuert sind. Die im Fünfjahrplan definierten Wirtschaftsziele, z.B. die internationale Expansion der chinesischen Konzerne, und dort als Zukunftsbranchen ausgewiesene Sektoren wie Robotik, Biotechnologie oder alternative Antriebe, sollen den Banken als Orientierung für ihre Kreditvergabe dienen. So sind die meisten Übernahmen, die chinesische Staatskonzerne in den letzten Jahren und Monaten getätigt haben, überwiegend kreditfinanziert.

Die chinesischen Banken geben das Geld, solange die im Ausland akquirierten Firmen einen soliden Mittelzufluss haben. Und aus Sicht der Beschäftigten in den übernommenen Firmen geht der Einstieg chinesischer Konzerne in Ordnung, so lange Tarifverträge und Mitbestimmung akzeptiert werden und die Schulden für den Kauf, anders als bei vielen Private Equity-Investoren, bei der chinesischen Konzernmutter bleiben und nicht auf die übernommenen Firmen überwälzt werden.

Auch Chinas Staatskonzerne der zweiten Ebene, die von den Provinzen gesteuert werden, schwimmen im Geld. Aber besonders auf dieser Ebene des chinesischen Wettbewerbskapitalismus, wo nicht nur Staatskonzerne gegeneinander und mit Privatunternehmen konkurrieren, sondern auch Provinzen manchmal von der Größe Deutschlands sich gegenseitig in Stellung bringen und ihre Wirtschaftsleistung steigern wollen, kommt es zu massiven Zielkonflikten und Fehlinvestitionen. Beispielhaft dafür stehen die riesigen kreditfinanzierten Überkapazitäten in ganzen Sektoren.

Während der Zentralstaat bislang kaum verschuldet ist, sind die Städte, die keine eigenen Steuereinnahmen haben und sich hauptsächlich über Landverkäufe finanzieren müssen, zwangsläufig große Schuldenmacher. Denn sie müssen einen Großteil der Infrastruktur und die sozialen Einrichtungen finanzieren, die durch die Völkerwanderung in die Städte notwendig werden.

Zum Teil tauchen die Schulden der Kommunen gar nicht in den offiziellen Haushalten auf, sondern sind praktischerweise in Zweckgesellschaften ausgelagert, für die wiederum die Kommunen bürgen. Der Finanzausgleich, die Vergrößerung der Steuerbasis (China hat bislang keine Grundsteuer, keine Vermögens-und Erbschaftssteuer) und die angemessene Verteilung der Steuereinnahmen sind also dringende Aufgaben.

Die Verschuldung der chinesischen Privathaushalte ist unbedeutend. Sie sind es vielmehr, die durch ihre hohen Ersparnisse in der Vergangenheit den Treibstoff für Chinas wirtschaftliche Expansion geliefert haben. Die Sparquote liegt bei 40% der Haushaltseinkommen, international ein Spitzenwert. Da Chinas System der Sozialversicherungen nur rudimentär ist, krank oder alt werden teuer ist (sofern man nicht beim Staat arbeitet), sorgen die Chinesen mit Ersparnissen vor. Der geplante Aufbau einer umfassenden Sozialversicherung ist nicht nur gesellschaftlich mehr als überfällig, sondern auch volkswirtschaftlich dringend geboten. Denn das würde auch einen weiteren Schub für Chinas Binnenkonsum geben, für die Umsteuerung von einer Ökonomie, die auf Investitionen und Export basiert, zu einer nachhaltigen Wirtschaft.

Bleibt die Frage, ob es in China aufgrund der hohen und rasch gestiegenen Gesamtverschuldung zu einem Finanzcrash mit Bankpleiten etc. kommt oder zu einer lang andauernden Stagnation?

Oder ob es Chinas Regierung abermals gelingt, beide Negativ-Szenarien zu vermeiden?

Die Regierung hat dafür alle Werkzeuge in der Hand: durch die Kontrolle des Finanzsektors und weil es sich um eine interne Verschuldung – vor allem der Unternehmen gegenüber den chinesischen Haushalten – handelt.

China sitzt zudem auf Devisenreserven von weit über drei Billionen US-$. Die in westlichen Alarmmeldungen gerne beschworene Kapitalflucht der reichen Chinesen hat kaum stattgefunden. Nach einer Untersuchung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (Financial Times, 8.3.2016) waren chinesische Konzerne, die ihre Dollarschulden beglichen, Hauptverursacher für die massiven Devisenabflüsse aus China im 2. Halbjahr 2015 – nicht gerade ein Zeichen für ein großes Misstrauen in Chinas Entwicklung.

Gelingt es also umzusteuern zu einem langsameren Wachstum mit weiteren Infrastrukturinvestitionen, mit einem allmählichen Abbau der industriellen Überkapazitäten und parallel dazu mit einem kontrollierten Abbau der Verschuldung der Unternehmen?

Mit Wachstumsimpulsen vor allem durch den steigenden Binnenkonsum statt durch neue Exportoffensiven?

Viele Anzeichen sprechen dafür, dass das schrittweise Umsteuern gelingt. Während die Industrieproduktion fällt, steigen der Binnenkonsum und die Löhne.

Immobilienblase?

Der Immobilienmarkt ist einer der wichtigsten Pfeiler der chinesischen Wirtschaft. Der Wohnungsbau in den Städten trägt direkt mehr als 10% zur Wirtschaftsleistung bei. Innerhalb von zwei Jahren wurde in China mehr Beton verbaut als in ganz Großbritannien in den letzten hundert Jahren. Bislang haben Chinas Stahlwerke, die gegenwärtig in Europa wegen ihrer Exporte am Pranger stehen, vor allem den schier grenzenlosen Bedarf der Baustellen im ganzen Land gedeckt (Handelsblatt, 14.7.2016). In den vergangenen zehn Jahren stiegen die Wohnungspreise in Chinas Städten im Schnitt um 9% pro Jahr. 2015 fielen sie im ganzen Land um durchschnittlich 6%, bei gleichzeitigem weiteren Anstieg in Peking und Shanghai.

Die städtischen Einkommen stiegen im vergangenen Jahrzehnt nominal um 12% und inflationsbereinigt um immerhin 7%. Das relativiert den Anstieg der Wohnungspreise. Außerdem kaufen die Chinesen die neuen Wohnungen nicht auf Pump: In den letzten drei Jahren haben immerhin 15% ihre Wohnungen gleich bar bezahlt. Und um eine Hypothek zu bekommen, muss der Käufer 30% des Wohnungspreises als Eigenkapital vorweisen.

Geld ist da: Die Ersparnisse der chinesischen Privathaushalte sind in den letzten zehn Jahren um über 300% auf 8,5 Billiarden US-$ gewachsen, höher als die gesamte jährliche Wirtschaftsleistung von Brasilien, Indien, Italien und Russland zusammengenommen. Nur die wenigsten Immobilienkäufer, ca. ein Zehntel, kaufen spekulativ. Gekauft wird in China aus dem Prospekt, ein oder zwei Jahre, bevor die Appartements überhaupt gebaut werden. Dadurch sind die Immobilienprojekte solide finanziert.

Und oft bleiben die fertiggestellten Appartements noch ein oder zwei Jahre unbewohnt, bis sich im neuen Stadtteil die Infrastruktur und das Leben entwickelt. Das vermittelt den Reisenden dann das Bild von »Geisterstädten«.

Bis in die 1980er Jahre gehörten alle Wohnungen den Behörden, den Staatsunternehmen und Genossenschaften; die Beschäftigten wohnten darin zu Niedrigstmieten. Dann gab es ein Programm, mit dem die Arbeiter und Angestellten ihre Wohnungen weit unter (Markt-)Wert kaufen konnten. Die Wohneigentumsquote liegt in China heute bei 89% (USA 64%, Deutschland 50%). Aber weil die riesige Wanderungsbewegung vom Land in die Städte weitergeht und weil viele existierende Appartements einen schlechten Standard haben, ist die Wohnungsnachfrage ungebrochen. 13 Mio. Ehen werden jährlich in China geschlossen; auf junge Paare entfällt allein ein Drittel aller Wohnungskäufe.

2015 wurden ca. zehn Millionen neu errichtete Wohnungen verkauft. Außerdem will die chinesische Regierung die Wohnsitz-Einschränkungen für die Arbeitsmigranten (Hukou-System) weiter lockern, damit sie auch leichter in den Städten Wohnungen kaufen können.

Weder die demografischen Daten noch die Finanzierung der chinesischen Immobilien sprechen also für eine gigantische Immobilienblase, die in nächster Zeit platzen wird und die Weltwirtschaft vielleicht in den Abgrund zieht. Das heißt aber nicht, dass noch jede »Geister«-Hochhaussiedlung in China Käufer findet.

Börsencrash?

Im vergangenen Sommer spielten Chinas Börsen in Shanghai und Shenzhen verrückt: Nach erheblichen Kursanstiegen, die jede Menge Kleinanleger und Spekulanten anzogen, gingen die Kurse in den Keller, sehr zum Missfallen der Regierung. Denn die hatte gehofft, dass die Staats- und Privatfirmen sich über Börsengänge frisches Kapital besorgen und damit teilweise entschulden könnten. Prominente Regierungsvertreter hatten dafür geworben, Privatleute sollten ihre Ersparnisse auch in Aktien anlegen. Das ging gründlich schief, auch Eingriffe von Staatsbanken konnten die Börsenkurse nicht stabilisieren.

Im Westen beherrschten diese Entwicklungen einige Tage die Schlagzeilen, nach dem Motto: Auch die Partei kann die Börse und die Märkte nicht zähmen! Außerdem wurde das als weiteres Krisensignal aus China interpretiert. Für die Realwirtschaft sind Chinas Börsen (noch) nicht wichtig. Die Firmen finanzieren sich vorrangig über Kredit und Anleihen. Dass fast alle Staatskonzerne und viele Privatkonzerne börsennotiert sind, dient nicht in erster Linie der Kapitalbeschaffung, sondern vor allem der Außendarstellung und wirtschaftlichen Bewertung. Chinas Börsen haben noch viel Luft nach oben. Nur 1,7% der börsennotierten Aktien weltweit stammen aus China, obwohl China 15% der globalen Wirtschaft repräsentiert.

Schließlich sind es vor allem Privatleute, Kleinanleger, aber nicht institutionelle Investoren wie Fonds, Pensionsfonds, Versicherungen etc., die in chinesischen Aktien investiert sind.

Auch hier: kein Anlass für Alarmismus.

Autor: Wolfgang Müller
Wolfgang Müller war bei der IG Metall Bayern für die Zusammenarbeit mit den IGM-KollegInnen und Betriebsräten des Siemens-Konzerns und anschließend der Automobil- und Zulieferindustrie zuständig. Zuvor war er Software-Entwickler bei US-Computerkonzernen. Er lebte mehrere Jahre in Peking und steht in regelmäßigem Kontakt mit chinesischen Gewerkschaften. Er ist Autor beim Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung isw und schreibt für die Zeitschrift Sozialismus.

Der Artikel wurde im September 2016 verfasst.

foto: flickr|bfishadow


 

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