Internationales

02.01.2016: In Argentinien und Venezuela hat die Rechte die Wahlen gewonnen. In Uruguay hat im Frühjahr 2015 die dritte Regierung der Frente Amplio (FA) die Arbeit aufgenommen. Eine Bilanz von Dieter Schonebohm:


Am 1. März dieses Jahres hat Tabaré Vázquez zum zweiten Mal das Präsidentenamt übernommen. Sollte er jedoch geglaubt haben, er könnte die Regierung wie während seiner ersten Amtszeit (2005 - 2010) führen, so dürften ihn die ersten neun Monate seiner Präsidentschaft eines Besseren belehrt haben. Zu lang ist der Schatten seines direkten Vorgängers José Mujica (2010 - 2015). Und zu sehr haben sich die Gewichte in der regierenden Frente Amplio (FA) verschoben. Auch die veränderten außenwirtschaftlichen Bedingungen mit einer zunehmenden Rezession in Brasilien und der Aufschwung der politischen Rechten in mehreren Ländern Lateinamerikas erhöhen den Druck auf Regierung und Partei. Was sind also die derzeitigen politischen Großbaustellen?

Das wichtigste Vorhaben jeder Regierung ist das Haushaltsgesetz, das für die ganze Legislaturperiode bis Ende 2015 von beiden Kammern des Parlaments verabschiedet sein muss. Da es sich um einen Fünfjahres-Haushalt handelt, dessen Ausgaben bei den jährlichen Rechnungslegungen bis 2019 nur unter außergewöhnlichen Umständen erhöht werden können, müssen darin alle gesetzlichen Ausgaben und politischen Vorhaben für die gesamte Regierungsperiode erfasst und beziffert werden.

Reformen schwerer zu finanzieren
Bei einem derzeitigen Haushaltsdefizit von 3,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), einer jährlichen Inflation von fast 10 Prozent und stagnierenden Exporteinnahmen ist jedoch der Spielraum für die Finanzierung von wichtigen Wahlversprechen ziemlich eng. Das betrifft vor allem die Einführung eines landesweiten allgemeinen Pflegeversicherungssystems (Sistema Nacional Integrado de Cuidados, SNIC), den Ausbau der Vorschulerziehung (ab drei Jahren) und die Steigerung der Bildungsausgaben auf sechs Prozent des BIP.

Gewerkschaften murren
Erfahrungsgemäß werden die Haushaltsverhandlungen von mehr oder weniger heftigen Streiks begleitet, die dieses Jahr insbesondere das Bildungswesen, aber auch die Justiz und das öffentliche Gesundheitswesen betrafen. Vor allem im Bildungswesen sind die Beziehungen zwischen Regierung und einigen Gewerkschaften sehr gespannt. Dass die zuständige Erziehungs- und Kulturministerin María Julia Muñoz als Antwort auf die anhaltenden Streiks die Lehrerinnen und Lehrer per Dekret und unter Androhung von Disziplinarmaßnahmen zur Arbeit verpflichten wollte (decreto de esencialidad), hat sicher nicht zur Steigerung des Vertrauens zwischen der neuen Regierung und einer ihrer wichtigsten Stützen, der Gewerkschaftsbewegung, beigetragen. Es wird vermutet, dass dieses Dekret direkt vom Präsidenten angeordnet wurde.

Armut weiter zurückgedrängt, aber Dissens in der Sozialpolitik
Auch in der Sozialpolitik gibt es Spannungen. Im Ergebnis des anhaltenden Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahre (nach Angaben der Weltbank durchschnittlich 5,2 Prozent pro Jahr von 2006 bis 2014) ist das Pro-Kopf-Bruttoeinkommen deutlich gestiegen und lag 2014 bei 16.810 Dollar. Armut und extreme Armut wurden deutlich zurückgedrängt, dank der schon 2007 eingeführten Steuerreform mit ihrem höheren Anteil an direkten, progressiven Steuern, der von den Tarifparteien ausgehandelten Reallohnsteigerungen und der Investitionen für Gesundheit und Soziales.

Zugleich erheben aber nicht nur die konservativen Oppositionsparteien, sondern auch Teile der regierenden FA den Einwand, die Förderprogramme des zuständigen Ministeriums für soziale Entwicklung (MIDES) seien zu "assistenzialistisch" strukturiert, denn es fehle die Gegenleistung der Bezieherinnen und Bezieher von Geldleistungen. So werde bei den Familien, die Transferleistungen erhalten, die geforderte Einhaltung der Schulpflicht von den zuständigen Behörden nicht kontrolliert, während die Zahlungen trotzdem weiterliefen.

Diese Einwände stehen im Widerspruch zu traditionellen linken Grundüberzeugungen, wonach es eine gesellschaftliche Pflicht zur Unterstützung der ärmeren und ärmsten Bevölkerungsgruppen gebe, die Vorrang vor der Erfüllung der daran geknüpften Bedingungen habe. Wie effektiv diese Politik beim Abbau der alles entscheidenden Kinderarmut ist, wird allerdings mittlerweile auch offen hinterfragt, etwa durch die FA-Senatorin Constanza Moreira in einem Zeitungsinterview (Brecha, 6. 12. 15). Nach wie vor werden nämlich rund 49 Prozent aller Kinder in Haushalten unterhalb der Armutsgrenze geboren.

Eisenerzminen-Projekt gestoppt, aber Trinkwasser kommt in Gefahr
Mittlerweile ist auch der Umwelt- und vor allem der Gewässerschutz ins Zentrum der Debatte gerückt. Umweltschutzargumente waren in der Amtszeit von José Mujica ausschlaggebend für den Widerstand gegen die geplante Aufnahme des Eisenerztagebaus im uruguayischen Landesinnern. Das Projekt des Unternehmens Aratirí liegt heute weiter auf Eis, die Fördergenehmigungen wurden bisher nicht erteilt, und auch der unter anderem für die Erzausfuhr geplante Tiefwasserhafen am Atlantik lässt auf sich warten.

Besorgniserregend ist heute jedoch der Zustand vieler Gewässer, vor allem des Flusses Santa Lucía, der mit seinen Zuflüssen für die Trinkwasserversorgung des Großraums Montevideo mit seinen über 1,5 Millionen Einwohnern unersetzlich ist. Hier hat die Belastung durch Industrieabwässer sowie durch Rückstände von Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmittel, nicht zuletzt wegen des zunehmenden Sojaanbaus in Ufernähe, bedenkliche Ausmaße erreicht. Was früher als selbstverständlich galt, dass nämlich überall im Land das Leitungswasser Trinkwasserqualität hatte, ist heute zum Problem geworden - und stellt den allseits in der Werbung verwendeten Slogan Uruguay Natural gründlich in Frage.

Das schwierige Verhältnis von Partei und Präsident
Am 7. Dezember stattete der Staatspräsident dem FA-Sekretariat einen Besuch ab - zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt vor bald zehn Monaten. Dass dieses Ereignis von den Medien aufmerksam registriert und kommentiert wurde, zeigt allein schon, dass die Kontakte zwischen Regierung und Partei keineswegs flüssig sind. Eine Reihe von Schwierigkeiten haben im Gegenteil dazu geführt, dass es fast im Wochentakt zu einem öffentlichen Schlagabtausch zwischen den beiden einflussreichsten Fraktionen innerhalb der Partei kommt. Ihre Haupt-protagonisten sind einerseits der Wirtschafts- und Finanzminister (und enge Vertraute des Präsidenten) Danilo Astori und sein Team im Budgetamt sowie in der Zentralbank, andererseits die vom ehemaligen Präsidenten Mujica und seiner Frau, der Senatorin Lucía Topolansky orientierte größte Parlamentsfraktion, das Parteien- und Gruppenkonglomerat Movimiento de Participación Popular (MPP).

Staatliche Unternehmen auf dem Prüfstand
Wichtigste Streitpunkte zwischen den beiden Richtungen sind die Rolle und Aufgaben der staatlichen Monopolunternehmen: Kommunikationswesen (ANTEL), Stromversorgung (UTE), Wasserversorgung (OSE) und Öleinfuhr und -verarbeitung, Branntwein- sowie Zementherstellung (ANCAP). Die vergangene Regierung betrachtete diese Betriebe als Hauptträger einer vom Staat betriebenen umfassenden Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur und als Impulsgeber für den gesamten Industriesektor. Der Staat legte umfassende Investitionsprogramme auf:

  • der international viel beachtete, rasante Ausbau von erneuerbaren Energien, vor allem der Windenergie;
  • der Ausbau der Kommunikationsinfrastruktur durch Glasfaserverkabelung, ein neues Datenzentrum und weitere Investitionen zur Sicherung der Eigenständigkeit eines konkurrenzfähigen uruguayischen Kommunikationsunternehmens;
  • Bau und Modernisierung von zwei Zementwerken und einer modernen Entschwefelungsanlage sowie Durchführung von Öl-Probebohrungen in uruguayischen Hoheitsgewässern im Atlantik.

Vor allem die zuletzt genannten Investitionen haben jedoch zusammen mit den heftigen Schwankungen des Ölpreises die Bilanz von ANCAP, dem größten uruguayischen Unternehmen, mit einem gewaltigen Schuldenberg belastet. Nicht nur die politische Opposition, die sich bisher noch nicht von ihrer dritten Wahlschlappe in Folge (2004, 2009 und 2014) erholt hat, sondern auch die für die Wirtschafts- und Geldpolitik verantwortliche, eher sozialdemokratisch orientierte Fraktion um Astori wirft deshalb den früheren politischen Verantwortlichen (die dem MPP und Mujica nahestanden) und der Geschäftsführung des Unternehmens einen verantwortungslosen Umgang mit öffentlichen Mitteln vor. Seit einigen Monaten befasst sich eine parlamentarische Untersuchungskommission, die auch mit den Stimmen der FA eingesetzt wurde, mit der Situation von ANCAP. Unabhängig von ihren Ergebnissen ist schon jetzt sicher, dass das Unternehmen mit mehreren Hundert Millionen Dollar - es ist von bis zu 800 Millionen die Rede - kapitalisiert werden muss.

Diese Debatte ist politisch nicht ungefährlich, zumal der jetzige Vizepräsident Raúl Sendic als einer der wenigen profilierten jüngeren FA-Politiker zum Untersuchungszeitraum Vorstandsvorsitzender des Unternehmens war. Sendic ist der Sohn des gleichnamigen Führers der Nationalen Befreiungsbewegung - Tupamaros (MLN-T) - in den siebziger und achtziger Jahren.

Schulreform einstweilen vertagt
Weiteren innerparteilichen Zündstoff bietet die Bildungspolitik, bei der die auf ihre verfassungsmäßige Autonomie pochenden Bildungsbehörden erfolgreich einen Versuch abgewehrt haben, die Lehrpläne von Grundschule und Sekundarstufe I für den gesamten neunjährigen Zeitraum der Schulpflicht besser aufeinander abzustimmen und damit die Zahl der WiederholerInnen (vor allem in der 7. Klasse, der ersten der Sekundarstufe I) und SchulabbrecherInnen zu reduzieren (siehe FREUNSCHAFTSDIENST No.19). Der Pragmatismus von großen Teilen der Bildungsbehörden, aber auch der Gewerkschaftsbewegung, hat sich letztlich durchgesetzt; der dem Präsidenten nahestehende Staatssekretär im Erziehungsministerium trat zurück, und die Reform wurde vertagt.

Wie weiter im Reformprozess?
Der Schatten von 'Pepe' Mujica ist lang. Seine Popularität ist nach wie vor in weiten Teilen der Bevölkerung sehr groß, vor allem dank der von ihm angestoßenen und zum Teil auch von Überzeugung getragenen Gesetze zur Regulierung des Marihuana-Anbaus und -Verkaufs, zur Legalisierung der Abtreibung unter bestimmten Auflagen und zur Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Ehen. Das hat Uruguay weltweit positive Schlagzeilen beschert und Mujica zu einem begehrten Interviewpartner gemacht.

Uruguay ist weltweit präsent, nicht nur wegen dieser liberalen Reformgesetze, sondern auch, weil es sich außenpolitische Freiräume eröffnet hat. Gelungen ist das mit einer zwischen den unterschiedlichen Linken in Lateinamerika abwägenden - oder vielleicht besser: lavierenden - Position. So wurde der ehemalige Außenminister Almagro, ein Mujica nahestender Karrierediplomat, vor kurzem fast einstimmig zum Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gewählt, Uruguay ist 2016 und 2017 nicht-ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats, und es stellt weiter pro Kopf der Bevölkerung die größten Kontingente für die UN-Blauhelm-Einsätze in Haiti und in der Republik Kongo.

Klare Positionen vermisst
Das Changieren ist innerparteilich nicht unumstritten. Die weltweite Aufmerksamkeit wird zwar als wohltuend registriert. Doch fällt es vielen langjährigen Frente-Amplio-Mitgliedern schwer zu verstehen, wie eine linke Regierung etwa zugleich gute Beziehungen zu den USA und Venezuela unterhalten möchte. Oder den Mercosur beibehalten und gleichzeitig die Nähe zur neoliberalen Pazifik-Allianz suchen will. Wie kann Uruguay im Sinne des sogenannten Neodesarrollismo ein entwickeltes Land werden, während die Wirtschaftspolitik doch zuerst multinationale Unternehmen anwirbt (die dann Zellulose produzieren und exportieren oder Eisenerz schürfen oder importiertes Flüssiggas wieder in Gas verwandeln oder nach Öl suchen), ohne jedoch die Entwicklung der dazugehörigen und damit verbundenen Industriezweige und Ausbildungsgänge im Land zu fördern?

Die Kernfrage lauert...
Dieser Pragmatismus trägt Mujicas Handschrift und mag vielen "Magenschmerzen" bereiten. Doch bleibt dabei die Kernfrage in der Frente Amplio weiter offen: Welcher Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung mit einer emanzipatorischen, womöglich sozialistischen Perspektive lässt sich in Uruguay verwirklichen, der nicht fast ausschließlich von der Steuerung durch transnationale Unternehmen abhängt - und nicht die von jeher benachteiligten Bevölkerungsgruppen von Bildung, Ausbildung, Forschung und vom Arbeitsmarkt abkoppelt? Ob Vázquez in Zeiten einer größeren Haushaltsdisziplin hier Impulse geben kann und will, bleibt abzuwarten.


Quelle: Rundbrief Casa Bertolt Brecht in Montevideo, 24. Dezember 2015


siehe auch

 

Farkha Festival Komitee ruft zu Spenden für die Solidaritätsarbeit in Gaza auf

CfD communist solidarity dt
zum Text hier
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Farkha2023 21 Buehnentranspi

Farkha-Festival 2024 abgesagt.
Wegen Völkermord in Gaza und Staatsterror und Siedlergewalt im Westjordanland.
hier geht es weiter zum Text


 

 

UNRWA Gazakrieg Essenausgabe

UNRWA Nothilfeaufruf für Gaza
Vereint in Menschlichkeit, vereint in Aktion

Mehr als 2 Millionen Menschen, darunter 1,7 Millionen Palästina-Flüchtlinge, zahlen den verheerenden Preis für die Eskalation im Gazastreifen.
Zivilisten sterben, während die Welt zusieht. Die Luftangriffe gehen weiter. Familien werden massenweise vertrieben. Lebensrettende Hilfsgüter gehen zur Neige. Der Zugang für humanitäre Hilfe wird nach wie vor verweigert.
Unter diesen Umständen sind Hunderttausende von Vertriebenen in UNRWA-Schulen untergebracht. Tausende unserer humanitären Helfer sind vor Ort, um Hilfe zu leisten, aber Nahrungsmittel, Wasser und andere lebenswichtige Güter werden bald aufgebraucht sein.
Das UNRWA fordert den sofortigen Zugang zu humanitärer Hilfe und die Bereitstellung von Nahrungsmitteln und anderen Hilfsgütern für bedürftige Palästina-Flüchtlinge.
Dies ist ein Moment, der zum Handeln auffordert. Lassen Sie uns gemeinsam für die Menschlichkeit eintreten und denjenigen, die es am meisten brauchen, die dringend benötigte Hilfe bringen.

Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge

Spenden: https://donate.unrwa.org/gaza/~my-donation


 

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