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Luis Corvalan portraitZum 100. Geburtstag von Luis Corvalán (1916-2010)

16.09.2016: „So reich die Zukunft an Verheißungen ist, so zahllos sind die Enttäuschungen der Gegenwart. Die Zukunft, der Sieg und die Ruhe sind nicht von Dauer; sicher sind uns nur die gestrige Niederlage und der morgige Kampf.“ Dieses Zitat, dass Luis Corvalán seinem 1993 veröffentlichten Buch „Der Zusammenbruch der Sowjetmacht“ voranstellte ( entnommen einem Flugblatt französischer Revolutionäre von 1834), kann auch für das politische Leben des langjährigen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Chiles gelten, der am 14. September 1916 in Süden Chiles, nahe der Hafenstadt Puerto Montt, geboren wurde. Alle Facetten des Klassenkampfes prägten sein Leben wie das der chilenischen Arbeiterklasse: Große Erfolge, aber immer auch wieder Rückschläge und bittere Niederlagen – und dann aus diesen Niederlegen Lehren ziehen und besser kämpfen.

Luis Corvalans Vater war Volksschullehrer, seine Mutter eine Bäuerin. Der Vater verließ die Familie, als Luis fünf Jahre alt war. Ab dieser Zeit musste die Mutter ihre fünf Kinder alleine ernähren und erziehen. Luis begann eine Lehrerausbildung und trat als 16-Jähriger der Kommunistischen Partei bei - einer Partei, die stark mit der Arbeiterklasse verbunden und in der Gewerkschaftsbewegung einflussreich war.  

Antifaschistische Bündnisarbeit

Als die KP Chiles 1936 gemeinsam mit anderen linken Parteien die "Frente Popular" als antifaschistisches Bündnis gründete, war Corvalán - vor allem im Zuge der großen Streiks der Salpeterarbeiter - für die Partei und das Bündnis propagandistisch aktiv. Die Staatsmacht entzog ihm daraufhin die Lehrbefugnis und entließ ihn aus dem Schuldienst. Ab 1940 war Corvalán Chefredakteur der Zeitung "El Siglo" ("Das Jahrhundert"), des wichtigsten Printmediums der chilenischen KP. Im Vorjahr hatte die "Frente Popular" die Wahlen gewonnen und stellte die Regierung. Während des Zweiten Weltkrieges schieden die Sozialisten und Kommunisten (aus Protest gegen die ausbleibende Landreform) jedoch aus. In den Jahren 1947 und 1948 startete die Regierung eine antikommunistische Unterdrückungswelle, die KP wurde verboten, viele Kommunisten wurden verhaftet, in Konzentrationslager gesperrt oder verbannt. In dieser Zeit der abermaligen Illegalität leitete Corvalán die Herausgabe mehrerer kommunistischer Zeitungen, die Produktion von Flugblättern und die Durchführung verschiedener Widerstandsaktivitäten. Im Zuge dieser Tätigkeiten fiel Corvalán im Jahre 1950 der Polizei in die Hände, wurde gefoltert und bis 1958 in verschiedenen Gefangenenlagern inhaftiert.

Unidad Popular

1958 und 1964 - die KP war wieder legalisiert worden und Luis Corvalán war seit 1958 deren Generalsekretär - unterstützte die Partei jeweils die Präsidentschaftskandidatur des Sozialisten Salvador Allende für das Linksbündnis "Frente de Acción Popular" -  beide Male unterlag Allende einem bürgerlichen Kandidaten. 1969 schließt sich die KP Chiles als zweitstärkste Kraft neben der Sozialistischen Partei, kleineren linken Parteien und der Gewerkschaftszentrale CUT dem linken Bündnis Unidad Popular an. Im September 1970 schaffte es deren Kandidat Salvador Allende die Stimmenmehrheit zu erringen und zum Präsidenten Chiles ernannt zu werden. „Dann fuhr ein Aufbruch durchs Land. In den Salpeterwüsten, in den unterirdischen Kohlebergwerken, auf den schrecklichen Höhen, wo das Kupfer liegt, entstand eine Befreiungsbewegung von grandiosem Ausmaß,“ dichtete damals Pablo Neruda.

Der Sozialist Salvador Allende, „Genosse Präsident“, wie er sich anreden lies, hatte die Vision eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus. Corvalán war skeptischer, er sprach nur von einer „Revolution ohne Waffen“ und drängte darauf, die Machtmittel von Justiz und Polizei unter Regierungskontrolle zu bringen. „Das Volk hat die Regierungsgewalt übernommen und damit einen Teil der politischen Macht. Diese Errungenschaft muss verteidigt und gefestigt werden, damit die gesamte politische  Macht, der ganze Staatsapparat unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft in dessen Hände übergeht. Außerdem ist es notwendig, den Imperialismus und die Oligarchie aus den Zentren der wirtschaftlichen Macht zu verdrängen.“  In den Thesen für den Ende 1973 terminierten Parteitag der KP Chiles hieß es als Zwischenbilanz nach drei Jahren Volksfrontregierung unter Allende: „Die strategische Linie der Partei definiert die chilenische Revolution als antiimperialistisch und antioligarisch mit sozialistischer Perspektive. Dies bleibt die Generallinie, da wichtige antiimperialistische und antioligarische Aufgaben ungelöst sind und der Kampf gegen den Imperialismus und die Oligarchie Hauptaufgabe bleibt.“

Pinochet-Putsch

Am 11. September 1973 wurde dieser revolutionäre Prozess durch den von den USA geplanten und unterstützten Pinochet-Putsch blutig beendet. Präsident Allende wurde in seinem Amtssitz getötet, zigtausende Menschen wurden ermordet, verschleppt, misshandelt oder in Konzentrationslagern interniert - so auch Corvalán: Das Pinochet-Regime steckte ihn in das Konzentrationslager Pitroque auf der Insel Dawson.

Was folgte, war eine einzigartige weltweite Solidaritätskampagne für die Freilassung Corvaláns.  Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Friedensaktivisten und Antifaschisten traten mit aller Kraft für Corvalán ein. Sein Gesicht erschien auf unzähligen Plakaten, Lieder wurden auf ihn gesungen, Kinder schickten Millionen Postkarten nach Chile. Einen großen Solidaritätsbeitrag leisteten dabei die sozialistischen Länder – allen voran die Sowjetunion und die DDR.

Im Dezember 1976 wurde er auf Druck der internationalen Solidarität aus der Haft entlassen und fand politisches Asyl in der Sowjetunion. Die Befreiung Luis Corvaláns, die im Westen als „Austausch“ mit einem schnell vergessenen sowjetischen Dissidenten verkauft wurde, um die Kraft der Solidarität kleinzureden, gehört zu den eindrucksvollsten internationalen Solidaritätsbewegungen der jüngeren Zeit. Aus dem Exil heraus unterstützte Corvalán dann den Widerstandskampf gegen das Pinochet-Regime, einschließlich des bewaffneten Kampfes. 1974 hatte die KP die Frente Patriótico Manuel Rodríguez als ihren bewaffneten Arm ins Leben gerufen.

Rückkehr nach Chile

1988 kehrte Corvalán nach Chile zurück, um den Demokratisierungsprozess, der 1990 zum Ende der Pinochet-Diktatur führen sollte, zu unterstützen. Er arbeitete im Zentralkomitee der KP und war vor allem publizistisch tätig. 1993 veröffentlichte er das Buch „Der Zusammenbruch der Sowjetmacht“, in dem er anhand seiner Erfahrungen nach Gründen für den Erosionsprozess und letztendlichen Zusammenbruch des sozialistischen Lagers suchte. Für sein Buch "Das andere Deutschland, die DDR" (2001) interviewte er die in Santiago lebende Margot Honecker, mit der befreundet war. 2003 veröffentlichte er "Die Regierung Salvador Allendes" und fünf Jahre darauf "Die Kommunisten und die Demokratie". In den beiden letztgenannten Büchern resümiert er die Erfahrungen der Regierungszeit der Unidad Popular und stellt Überlegungen zur Zukunft revolutionärer Veränderungsprozesse – vor allem in Chile und Lateinamerika - an.

Covalan konstatiert: Schon im Juni 1970 hatte Nixons Sicherheitsberater Henry Kissinger angesichts des erwarteten Wahlsieges von Allende erklärt: "Ich sehe nicht ein, weshalb es nötig sein sollte, stillzuhalten und zuzusehen, wie ein Land durch die Verantwortungslosigkeit seines Volkes kommunistisch wird." Als die Allende-Regierung beseitigt wurde, war das eine folgenschwere Niederlage bei der Suche nach neuen Wegen zu einer sozial gerechten, freien Gesellschaft. Chiles Volk hatte die Regierung Allende nicht abgewählt - diese konnte zwischen den Präsidentenwahlen vom September 1970 und den Parlamentswahlen im April 1973 ihren Stimmenanteil von 36,3 auf 43,4 Prozent steigern. Sie hatte in 1.000 Tagen umfassende Reformen begonnen, sie hatte bewiesen, dass es möglich war, versteinerte Machtstrukturen aufzubrechen. Aber: Für die Regierungszeit der Unidad Popular stellt Corvalan fest, dass große Teile der Bevölkerung nur Beobachter der vor sich gehenden Veränderungsprozesse waren. Die Komitees der Unidad Popular, die vor der Wahl  außergewöhnlich aktiv waren, verschwanden größtenteils nach dem Wahlsieg. Die linken Parteien banden all ihre Aktiven in die Regierungs- und Parlamentsarbeit ein und verließen zu einem großen Teil ihre Wirkungsbereiche in den sozialen Bewegungen. Als Resümee plädiert er dafür, den Gewerkschaften und den sozialen Bewegungen in den Klassenkämpfen der Gegenwart noch mehr Gestaltungsmöglichkeiten zu geben und noch breitere politische Bündnisse zu schaffen.

Soziale Kämpfe in Chile

Corvalans Überlegungen finden im Chile der Gegenwart Widerhall. Vor fünf Jahren gab es breite Proteste der Schüler und Studenten für ein demokratisches und kostenloses Bildungssystem, an denen sich Hunderttausende beteiligten und zu Schul- und Universitätsbesetzungen führte.

no afp chileJetzt sind am 21. August landesweit rund eine Millionen Chilenen auf die Straße gegangen, um gegen das private Rentensystem zu protestieren, das unter der Militärdiktatur Pinochets installiert worden war. Allein in der Hauptstadt Santiago demonstrierten über 600.000 Menschen, zu der die Bewegung „No + AFP  (Kein privates Rentensystem mehr) mobilisiert hatte.  

Die Privatisierung des Rentenfonds fand 1980 statt. Das ehemals staatliche Rentenversicherungssystem wurde in privat verwaltete Fonds übergeben mit dem angeblichen Ziel, untereinander um Einzahlende zu konkurrieren. Statt Konkurrenz unter den Rentenversicherern hat die Reform jedoch lediglich neue Finanzkonzerne hervorgebracht. Von den ehemals 20 privaten Rentenfonds sind nur noch sechs übriggeblieben; und mit dort angehäuften Geldern wird kräftig auf den Finanzmärkten spekuliert.

Die Einzahlenden profitieren jedenfalls nicht davon. Im Durchschnitt liegen die Renten bei 38 Prozent des früheren Einkommens. Bei Frauen entspricht die Rente sogar nur 28 Prozent ihres früheren Lohns. Praktisch bedeutet das, dass mehr als 90 Prozent der heutigen chilenischen Rentner nicht mehr als 200 Euro pro Monat zur Verfügung haben.

Die Protest- Bewegung "No+AFP" hat angekündigt, für den 4. November zu landesweiten Streiks aufzurufen.

Text: gst