Der Kommentar

Istanbul gezi park Zsombor Lacza27.03.2014: Die anstehenden Kommunalwahlen am 30. März 2014 in der Türkei sind nicht irgendwelche Wahlen. Und das ist nicht nur an den Kampagnen der Parteien zu sehen, sondern auch an der Stimmung in linken Kreisen in Istanbul. In der Türkei verschieben sich Mächteverhältnisse und das Ergebnis ist noch offen. Klar ist jedoch, die AKP muss gewinnen, denn die Kommunalwahlen werden als Signal für die anstehenden Parlamentswahl gesehen. Und als Oppositionspartei hat die AKP keine Zukunft. Daher scheint es auch verständlich, dass schon lange nicht mehr so viel über die Wahlen und über die persönliche Wahlentscheidung diskutiert wurde wie in den letzten Wochen.

Nach den Protesten vor einem Jahr, welche sich an den städtebaulichen Plänen für den Taksim-Platz und den Gezi-Park entzündet hatten und sich für einige Tage zu einer staatsfreien Zone, einer Kommune im Gezi-Park entwickelten, scheint mit den anstehenden Kommunalwahlen der Druck auf die linke Bewegung zu steigen, sich auf das realpolitische Spiel der Mächtigen einzulassen. Zu groß ist auch die Hoffnung vieler, den Istanbuler Oberbürgermeister Kadir Topba? von der AKP, welche bei den letzten Kommunalwahlen im Jahre 2009 44,7% der abgegebenen Stimmen erhielt und bereits seit 2004 im Amt ist, abwählen zu können. Doch das wird, wenn überhaupt, nur mit dem CHP Kandiat Mustafa Sar?gül möglich sein. Zu schwach ist die neue HDP, welche einige linke Parteien und die pro-kurdische BDP vereint. Und noch weniger Bedeutung werden die linken Parteien am Wahltag haben, die sich nicht in der HDP wiederfinden.

Und darin liegt das große Dilemma. Wenn der einzige oppositionelle Kandidat mit Erfolgschancen Mustafa Sar?gül von der CHP ist, steigt mit jeder Stimme, welche nicht ihm, sondern z.B.  S?rr? Süreyya Önder gegeben wird die Wahrscheinlichkeit, dass Kadir Topba? und mit ihm die AKP auch die nächsten Jahre Istanbul regieren wird. Dass daher auch noch S?rr? Süreyya Önder, eine der wichtigsten politischen Figuren der linken kurdischen Opposition von der HDP in Istanbul antritt, stößt nicht überall auf Begeisterung. Und viele links-liberale, welche sonst die HDP wählen würden, werden Angesichts der Bedeutung der Wahl ihr Kreuz vielleicht eher bei der CHP machen.

Für andere hingegen ist das, wofür die größtenteils stark nationalistische CHP und ihre Wählerschaft stehen und zum Teil direkt verantwortlich sind, noch lange nicht vergessen. Auch in den letzten Wochen sind wieder Büros der HDP und BDP von Nationalisten angegriffen worden. Zudem ist gerade ein Schulterschluss zwischen der CHP und der Gülen-Cemaat (dt.: „Gemeinde“ - ein religiöses Netzwerk aus Unternehmen, Bildungseinrichtungen und Persönlichkeiten aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen) zu beobachten, was nichts Gutes erahnen lässt. Denn mit dieser Konstellation versucht sich die CHP als Alternative zur AKP zu präsentieren und setzt auf die Stärke einer nach Rechts offenen, neoliberalen Ausrichtung. Trotzdem hat es die CHP vorerst geschafft, vom gesellschaftlichen Unmut über die AKP, besonders in links-liberalen, intellektuellen Kreisen, zu profitieren. Nicht zuletzt durch das Ablenken von ihrer eigenen neoliberalen Wirtschafts- und Stadtentwicklungspolitik. Und so ist es verständlich, dass trotz vieler Fragezeichen gerade (kurdische) Linke ihre Stimme weder der AKP noch der CHP geben werden.

Trotz alledem: Die Frage „wen soll ich wählen“, ist in diesen Tagen viel zu hören. Und das auch in Kreisen, für welche sonst die Wahl oder eben die Nicht-Wahl klar ist. So plädiert z.B. der türkische Anarchist Gül Zileli dafür, den CHP Kandidaten für das Oberbürgermeisteramt in Istanbul zu wählen und auch in vielen linken, außerparlamentarischen Zusammenhängen wird darüber gestritten, ob die CHP als kleineres Übel in der Bürgermeisterwahl zu wählen wäre. Einige hoffen, dass mit einem CHP-Bürgermeister in Istanbul die Kämpfe leichter werden und sich auf andere Themen konzentriert werden könnte. Zu stark war der Eingriff der AKP ins Privatleben vieler Menschen (gerade auch der Frauen) und zu autoritär der Regierungsstil von Kadir Topba? und Erdogan, welcher sich immer wieder direkt in das politische Geschehen in Istanbul einmischte. Und auch die stadtentwicklungspolitischen Ziele der CHP hören sich vielleicht in den öffentlichen Reden schön an. Da aber auch die CHP stark mit Kapitalfraktionen verwoben ist, welche in den letzten Jahren auch von der urbanen Verwertungspolitik profitiert haben, wird es auch unter der CHP keine grundlegende Veränderung geben – es wird wohl auf die konkreten Projekte ankommen und wer von ihnen profitiert.

Bei vielen stößt die ganze Debatte um die anstehenden Wahlen auf große Sorgen. Für viele die das „Gezi Gefühl“ noch in den Adern haben - die Tage der Kommune vom Gezi-Park, die utopischen Momente einer sozialen Revolte - beginnt nun die Zeit der Realpolitik, des Feilschens, der Kompromisse und der Sorge vor der Vereinnahmung. Sie fühlen es als Zwang, dieses Spiel der undemokratischen Verhältnisse mitzuspielen, welches sie eigentlich ablehnen. Dass sie sich doch damit beschäftigen, liegt an der besonderen Bedeutung der Wahlen, welche in die Zeit von sich verändernden Mächteverhältnissen fällt. Das konservativ-neoliberale, bis hin ins islamitische, Projekt der AKP scheint zu wanken und der einstige Block zwischen AKP und der Gülen-Cemaat scheint Geschichte zu sein. Der Machtkampf zwischen diesen beiden hat nun offene Züge angenommen und die Gülen-Bewegung wird ihre Anhänger*innen nicht mehr zur Wahl der AKP aufrufen. Doch mit diesem Konflikt hat die AKP die gesellschaftliche Bindekraft der Gülen-Bewegung verloren. Wie tief diese Regierungskrise ist, um welche Interessen gekämpft werden, ist (noch) nicht klar zu sagen. Deutlich zeichnet sich aber ab, dass es um die Kontrolle der staatlichen Bürokratie geht, um die Bevorzugung von Kapitalfraktionen und um die Konzentration von Macht. Nun bildet sich eine neue Koalition zwischen Gülen und der CHP. Zu all diesen Veränderungen haben auch die Proteste der letzten Monate ihren Beitrag geleistet.

Die kommende Zeit, sei diese parteipolitisch bestimmt durch die AKP, die CHP, oder sonst einem neuen polit-ökonomischen Machtblock, wird für emanzipatorische Kämpfe grundlegend nicht viel einfacher werden. Daher scheint es um so wichtiger, Parteien zu wählen, welche die Hoffnung auf eine bessere Zukunft weiter tragen können. Und vielleicht ist unter diesem Gesichtspunkt das beste Ergebnis eine AKP, die die Wahlen mit einem großen Verlust an Stimmen gewinnt. Natürlich in der Hoffnung und im Vertrauen, dass trotz eines Wahlsiegs der AKP, die Dynamik der Proteste zunimmt und so auch weiterhin linke Perspektiven im gesellschaftlichen Diskurs dominant bleiben. Das würde auch die Gefahr verhindern, dass durch einen Sieg der sich abzeichnenden CHP-Gülen-Allianz die Proteste vorerst abnehmen könnten. Denn die Bewegung hätte es dann mit einer sich neu formierenden Macht zu tun, welche im allgemeinen öffentlichen Diskurs eine breitere Basis hätte.

Und vielleicht gäbe es dann eine Option, zu den Parlamentswahlen grundlegend Kräfteverhältnisse zu kippen. Die Antwort auf die schwierige Frage „Wen wählen“ wäre somit einmal mehr: Die Parteien, welche es schaffen, die Hoffnung auf Veränderung wach zu halten und für die soziale Revolution zu mobilisieren.

Text: Kris Mueller       Foto: Zsombor Lacza