Der Kommentar

berlin 25 jahre mauerfall websenat13.11.2014: Tatsächlich – am 10. November sieht die Welt wieder anders aus. Bis zum 9. November wurde mit brachialer Gewalt der 25. Jahrestag des „Mauerfalls“ rauf und runter vernebelt. Die Propaganda-Walze ließ in diesen Tagen nichts Wichtiges gelten, die Herrschenden feierten ihren Sieg bis zum Exzess, auch wenn die Massenbegeisterung zum Thema sich eher in Grenzen hielt. Einige Tage hatte ich das Bild von Mauselöchern vor Augen, in denen man unbehelligt die Zeit aussitzen kann, um später wieder in die normale Erlebnisrealität einzutauchen. Die Botschaft drang durch alle Ritzen: 25 Jahre Mauerfall, Freiheit, Recht und Wiedervereinigung! „Wir sind Sieger!“ „Diktatur friedlich durch eine Revolution besiegt!“ Von Präsident Gauck über den „Kanzler der Einheit“ bis zum Gelbpulliträger Genscher ging die Darstellung der Akteure. Auch Herr Gorbatschow durfte nicht fehlen, dessen Putin – Freundlichkeit nicht so passte. Aber was soll's?

Was bleibt nach diesem verordneten Jubel? Wichtige historische Ereignisse wie die Abdankung des Kaisers und die revolutionären Ereignisse in Berlin 1918 fehlten, die Reichspogromnacht, der Beginn der Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung durch die Nazis wurde eher in regionalen Medien behandelt. Der Sieg der Vertreter des Kapitals über den Sozialismus auf deutschem Boden war offensichtlich alternativlos das Wichtigste. Der Kapitalismus als Demokratie beschrieben hat gesiegt!

Wie sehr die 40jährige Existenz der DDR diesem Kapitalismus weh getan hat, wurde mir auch an vielen Beispielen in Reden, Filmen und sonstigen Darstellungen deutlich. Nach wie vor ist die Devise des damaligen FDP – Innenministers Kinkel gültig: Delegitimation der DDR, bis nichts mehr da ist!

Eine differenzierte Darstellung der DDR gab und gibt es nicht. „Unrechtsstaat“ - was gelten da schon das Recht auf Bildung und Ausbildung, auf kostenlose medizinische Versorgung, auf bezahlbaren Wohnraum, auf Teilhabe an Kultur? Das Recht auf Arbeit! Die Beendigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen! Die Enteignung des Großkapitals und der Kriegsverbrecher! Eine Entnazifizierung, die diesem Anspruch gerecht wurde! Eine Armee, die niemals zu militärischem Handeln die Grenzen des eigenen Landes überschritt! Und...und...und!

Diese Tatsachen wurden und werden verschwiegen, weil sie zumindest zum Hinterfragen führen könnten und zu einer notwendigen gesellschaftlichen Debatte zu Ursachen und Auswirkungen der Niederlage des Sozialismus.

Auch die kritischen und selbstkritischen Debatten in der DDR werden heute nicht mehr reflektiert. Sie würden Hinweise geben für notwendige Auseinandersetzung nach politischem und ökonomischem Versagen.

Das alles steht dem Kapitalismus auch in unserem Land noch bevor. Die Geschichte bleibt unerbittlich. Kriegspolitik, Sozial – und Demokratieabbau und vieles andere verschwindet nicht aus dem kollektiven Gedächtnis.

Haben die Dramaturgen die gewünschten Ziele ihrer Kampagne erreicht?

Teilweise sicher. Für die heutigen Generationen ist die Niederlage des Sozialismus und der Sieg des Kapitalismus bestimmendes Element in der Beantwortung der Frage „wie und wo willst Du leben?“

Aber dann bröckelt es auch schon. An „Unrechtsstaat“ als Definition für die DDR scheiden sich die Geister. Die bis zu einer Million feiernder Menschen in Berlin waren wohl doch mehr durch das Kulturangebot und das nach-weltmeisterliche Event angezogen als durch die politische Botschaft des Jahrestages. Die Tendenz zur Entpolitisierung und zum alternativen Sport-und-Spiele-Modell war prägender als die politische Wahrnehmung der Ereignisse von 1989.

Ich versuche mich zu erinnern, wie es 1970 am 25. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus war. Von Befreiung war in offiziellen Reden nichts zu hören. Massenveranstaltungen aus diesem Anlass – das war und ist bis heute undenkbar. Es war für jene, die heute feiern, eine Niederlage. Aber für uns bleibt es ein Sieg: Die Befreiung vom Faschismus!

Diese Erinnerung hilft mir bei der Einordnung der für mich unsäglichen Propaganda – Show. Wer einen Etappensieg so umfassend und enthusiastisch feiert, der hat viel zu verlieren gehabt. Es lohnt sich, für eine sozialistische Perspektive zu streiten. Das Kapital und die Bourgeoisie haben viel zu verlieren. Auch das wurde für mich eindrucksvoll bestätigt.

Text: Heinz Stehr    Foto: Websenat