03.02.2015: Die linke Regierung in Griechenland schlägt neue Wege ein und versetzt Brüssel und Berlin in höchste Aufregung. Jetzt erhält SYRIZA prominente Unterstützung aus Deutschland. Die Vorsitzenden der wichtigsten Gewerkschaften erklären in einem gemeinsamen Aufruf: „Der politische Erdrutsch in Griechenland ist eine Chance nicht nur für dieses krisengeschüttelte Land, sondern auch dafür, die Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU grundsätzlich zu überdenken und zu korrigieren.“
Die Spitzen des Deutschen Gewerkschaftsbundes, IG Metall, Verdi, IG Bau, EVG, GEW und NGG haben sich mit einem Aufruf hinter die griechische Regierung gestellt und üben massive Kritik an der Politik der Bundesregierung. Unterstützt wird der Aufruf von prominenten SPD-Politikern wie Ralf Stegner, PolitikerInnen der LINKEN und Intellektuellen.
„Mit der neuen griechischen Regierung muss ernsthaft und ohne Erpressungsversuche verhandelt werden, um dem Land eine wirtschaftliche und soziale Perspektive jenseits der gescheiterten Austeritätspolitik zu eröffnen“, fordern die UnterzeichnerInnen.
Bundesregierung muss mit Athen ernsthaft verhandeln
Der Aufruf wendet sich gegen die Bundesregierung, die SYRIZA in die Knie zwingen will. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble verurteilen die Notmaßnahmen der Regierung in Athen gegen die humanitäre Katastrophe und fordern die strikte Fortführung der katastrophalen Austeritätspolitik. Ebenso sperren sie sich gegen die Forderung von Alexis Tsipras und Finanzminister Yanis Varoufakis die Verhandlungen nicht mehr mit der Troika, sondern mit den zuständigen Institutionen der EU zu führen. Erst jüngst hat Varoufakis wieder klargestellt: „Ich sagte nie, dass Deutschland noch einmal bezahlen soll. Ich sagte, Deutschland hat schon zu viel bezahlt. Es ist Zeit neu zu denken.“ Darüber soll in einer europäischen Schuldenkonferenz verhandelt werden, die von der Bundesregierung hartnäckig abgelehnt wird.
Milliarden für den Finanzsektor
In dem Aufruf kritisieren die GewerkschafterInnen, dass die Milliarden, die nach Griechenland geflossen sind, vor allem für die Stabilisierung des Finanzsektors verwendet wurden. So hat attac Österreich detailliert nachgewiesen, dass nahezu 80% der Gelder in den Finanzsektor geflossen sind. (Hintergrundmaterial)
Aber die mit den „Hilfsprogrammen“ verbundenen Auflagen der EU und des IWF haben Griechenland „in die tiefste Rezession und damit zugleich in die höchste Staatsverschuldung der gesamten EU getrieben. Die Folge ist eine soziale und humanitäre Krise ohne Beispiel in Europa“, heißt es in dem Aufruf. Und weiter: „Das Wahlergebnis ist ein vernichtendes Urteil über diese verfehlte Politik.“
Die Chance nutzen
Der Wahlsieg von SYRIZA ist „eine demokratische Entscheidung, die auf europäischer Ebene respektiert werden muss. .. Mit der neuen griechischen Regierung muss ernsthaft und ohne Erpressungsversuche verhandelt werden, um dem Land eine wirtschaftliche und soziale Perspektive jenseits der gescheiterten Austeritätspolitik zu eröffnen“, fordern die GewerkschafterInnen.
Und weiter: „Das europäische Projekt wird nicht durch Spardiktate gestärkt, sondern nur durch die demokratische Initiative von unten für wirtschaftlichen Wiederaufbau und mehr soziale Gerechtigkeit. Diese Initiative muss jetzt im Interesse der Menschen in Griechenland unterstützt werden. Sie gibt zugleich neue Anstöße für einen politischen Kurswechsel in Europa. Der politische Umbruch in Griechenland muss zu einer Chance für ein demokratisches und soziales Europa gemacht werden!“
Zu den ErstunterzeichnerInnen gehören u.a. Reiner Hoffmann (DGB), Frank Bsirske (ver.di), Robert Feiger (IG BAU), Alexander Kirchner (EVG), Michaela Rosenberger (NGG), Marlis Tepe (GEW), Michael Vassiliadis (IG BCE), Detlef Wetzel (IG Metall), Institut Solidarische Moderne (Vorstand), Thomas Händel (MdEP, DIE LINKE), Ralf Stegner (SPD, stv. Vorsitzender), Prof. Dr. Frank Deppe (Sozialwissenschaftler), Prof. Klaus Dörre (Sozialwissenschaftler)
Der Aufruf im Wortlaut:
Griechenland nach der Wahl – Keine Gefahr, sondern eine Chance für Europa
Der politische Erdrutsch in Griechenland ist eine Chance nicht nur für dieses krisengeschüttelte Land, sondern auch dafür, die Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU grundsätzlich zu überdenken und zu korrigieren.
Wir unterstreichen erneut die von Seiten der Gewerkschaften in den zurückliegenden Jahren vielfach geäußerte Kritik: Die entscheidenden Bedingungen, unter denen die finanziellen Hilfen für Griechenland gewährt werden, hatten von Anfang an nicht die Bezeichnung »Reform« verdient. Die Milliarden, die nach Griechenland geflossen sind, wurden vor allem für die Stabilisierung des Finanzsektors verwendet. Gleichzeitig wurde das Land mit einer brutalen Kürzungspolitik in die tiefste Rezession und damit zugleich in die höchste Staatsverschuldung der gesamten EU getrieben. Die Folge ist eine soziale und humanitäre Krise ohne Beispiel in Europa: Ein Drittel der Bevölkerung lebt in Armut, soziale Absicherungen wurden massiv geschwächt, der Mindestlohn um 22% gesenkt, das Tarifvertragssystem und andere Schutzrechte für noch Beschäftigte demontiert, und ausgerechnet die unteren Einkommensgruppen wurden zusätzlich steuerlich belastet. Die Arbeitslosigkeit liegt jetzt bei 27%, unter Jugendlichen sogar bei 58%. Vielen Menschen fehlen ausreichende Mittel für Nahrung, Strom, Heizung und Wohnung. Ein großer Teil der Bevölkerung hat keine Krankenversicherung mehr und bekommt nur noch in Notfällen Zugang zu ärztlicher Versorgung. Das Wahlergebnis ist ein vernichtendes Urteil über diese verfehlte Politik.
Mit Reformen, die an den tatsächlichen Problemen Griechenlands ansetzen, hatte all dies nichts zu tun. Keines der strukturellen Probleme des Landes wurde gelöst, es wurden aber zusätzliche geschaffen. Es war eine Politik des Abbaus, nicht des Aufbaus. Wirkliche Strukturreformen, die diesen Namen verdienen, bahnen Wege zu neuen wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten des Landes, anstatt eine hochqualifizierte junge Generation ins Ausland zu vertreiben. Wirkliche Strukturreformen machen ernst mit der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerflucht. Wirkliche Strukturreformen bekämpfen Klientelpolitik und Korruption bei öffentlichen Aufträgen. Die neue griechische Regierung ist herausgefordert, ihre eigenen Wiederaufbau- und Entwicklungsprojekte vorzulegen, die Teil eines »Europäischen Investitionsplanes« werden müssen, wie er seit langem von den Gewerkschaften gefordert wird, und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass derartige Projekte Früchte tragen können.
Mit der neuen griechischen Regierung muss ernsthaft und ohne Erpressungsversuche verhandelt werden, um dem Land eine wirtschaftliche und soziale Perspektive jenseits der gescheiterten Austeritätspolitik zu eröffnen. Dies gilt insbesondere für die mit der bisherigen, jetzt abgewählten Regierung vereinbarten zerstörerischen Aufl agen, unter denen die internationalen Kredite bislang gewährt wurden. Europa darf nicht auf der Fortsetzung einer Politik zu Lasten der Bevölkerung beharren, die von der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler unmissverständlich abgelehnt wird. Ein »Weiter so« darf es nicht geben!
Die Abwahl der für die bisherige Politik in Griechenland Verantwortlichen ist eine demokratische Entscheidung, die auf europäischer Ebene respektiert werden muss. Die neue Regierung braucht eine faire Chance. Wer jetzt die Fortsetzung des bisherigen, so genannten Reformkurses verlangt, spricht faktisch der griechischen Bevölkerung das Recht auf eine demokratisch legitimierte Neuorientierung der Politik in ihrem Land ab. Und wenn hinzugefügt wird, eine solche Neuorientierung sei allenfalls möglich, wenn Griechenland aus der Europäischen Währungsunion ausscheide, werden die europäischen Institutionen für unvereinbar mit demokratischen Entscheidungen in den Mitgliedsländern erklärt. So erhalten die erstarkenden nationalistischen Strömungen in Europa zusätzlichen Rückenwind.
Die vielfach beklagten, doch immer noch nicht überwundenen demokratischen Legitimationsdefizite auf europäischer Ebene dürfen nicht zusätzlich durch die Einschränkung der Demokratie in den Mitgliedsländern zementiert werden. Vielmehr muss, wie viele von uns 2012 in dem Aufruf »Europa neu begründen« hervorgehoben haben, die Demokratie auf EU-Ebene gestärkt werden, wenn dem europäischen Projekt neue Glaubwürdigkeit gegeben werden soll. Das europäische Projekt wird nicht durch Spardiktate gestärkt, sondern nur durch die demokratische Initiative von unten für wirtschaftlichen Wiederaufbau und mehr soziale Gerechtigkeit.
Diese Initiative muss jetzt im Interesse der Menschen in Griechenland unterstützt werden. Sie gibt zugleich neue Anstöße für einen politischen Kurswechsel in Europa. Der politische Umbruch in Griechenland muss zu einer Chance für ein demokratisches und soziales Europa gemacht werden!