Analysen

09.06.2016: Nach fünf Jahren hat der indische Bundesstaat Kerala wieder eine linke Regierung. Am 16. Mai siegte die Linksfront unter Führung der CPI(M) und löste die bisherige Kongress-geführte Koalition ab. Trotzdem keine Trendumkehr, die indische Linke befindet sich nach wie vor in der Krise – zu diesem Ergebnis kommt Nico Biver in seiner Analyse:


Die Wahlen in fünf indischen Bundesstaaten, die im April/Mai 2016 in mehreren Etappen abgehalten wurden, hielten für die indische Linke Licht und Schatten bereit. Gewählt wurde u.a. in Kerala und Westbengalen, den beiden Hochburgen der indischen kommunistischen Bewegung. In Kerala war die damals noch einheitliche Kommunistische Partei Indiens (CPI) 1957 erstmals an die Regierung gekommen. Danach hatte die Linke abwechselnd mit der Kongresspartei regiert. In Westbengalen stellte die 1964 von der CPI abgespaltete CPI(Marxist) von 1977 bis 2011 ununterbrochen die Regierung. Eine dritte Hochburg der CPI(M) ist der Kleinstaat Tripura, wo die Partei seit 1978 mit einer Unterbrechung regiert.

Aufgrund des Mehrheitswahlsystems nach britischem Muster kandidieren die Parteien in der Regel in Bündnissen und teilen die Wahlkreiskandidaturen unter den Mitgliedsparteien auf. So auch die Linke, die in Kerala als Linke Demokratischen Front (LDF) und in Westbengalen als Linke Front antritt. Ihr gehören in der Regel die CPI(M) und die CPI an sowie die kleineren Linksparteien Vorwärts-Block und Revolutionäre Sozialistische Partei (RSP), die fast nur in Westbengalen und Kerala eine nennenswerte Anhängerschaft haben. Außerdem sind eine Reihe lokaler Splitterparteien mit von der Partie, die aber nicht alle eine linke Politik verfolgen.

In Kerala konnte die LDF jetzt die Kongresspartei wieder an der Regierung ablösen. Allerdings hatte sie mit 43,3 Prozent leichte Stimmverluste von 1,6 Prozent zu verzeichnen. Dass sie dennoch eine satte Sitzmehrheit erzielte (91 von 140) liegt an der stärkeren Verlusten der Kongresspartei. Ihre Wahlfront verlor 7,0 Prozent und fiel auf 38,9 Prozent. Wahlgewinnerin ist das Bündnis der in Delhi regierenden hindu-nationalistischen BJP, das um 9,0 Prozent auf 15,0 Prozent zulegte und erstmals ein Mandat errang.

Ein Wahldesaster erlebte die Linksfront allerdings in Westbengalen. Sie büßte 14,1 Prozent ein und verlor die Hälfte ihrer Sitze. Sie kam auf 25,9 Prozent. Dies ist die zweite Niederlage in Folge. Schon 2011 hatte die von der CPI(M) dominierte Front gegen den Trinamool-Kongress, eine Abspaltung der Kongresspartei, verloren, 9 Prozent eingebüßt und erstmals nach 34 Jahren die Regierung abgegeben.

Diese Entwicklung ist gravierend für die kommunistische Bewegung in Indien, denn der Anteil der Westbengalens an der Gesamtstimmenzahl der indischen Linken machte noch 2009 über 60 Prozent aus.

Die Verluste in Westbengalen sind aber nicht alleine für den Niedergang der Linken verantwortlich. Seit den späten 50er Jahren bis Ende der 1980 Jahre lagen die Stimmenergebnisse der Linken in Indien um die 10 Prozent. Waren CPI und CPI(M) bei ihrer Spaltung 1964 ungefähr gleich stark bei je 5 Prozent, halbierte sich die CPI bis Ende der 1980er auf etwa die Hälfte, während die CPI(M) sich auf 6,5 Prozent verbesserte. Nach 1989 nahmen die linken Wahlergebnisse langsam ab - auf zusammen 7,7 Prozent im Jahr 2009. Bei der Wahl zum Bundesparlament 2014 erzielten alle Komponenten der radikalen Linken zusammen nur noch 5,1 Prozent, weniger als bei der ersten Wahl von 1951. Davon erzielte die CPI(M) 3,3 Prozent und die CPI 0,8 Prozent. Hatte die Linke 2004 noch 61 Sitze im Bundesparlament waren es 2014 nur noch 12, davon 8 aus Kerala, 2 aus Westbengalen und 2 aus Tripura.

Außer in diesen drei Staaten ist die Linke wahlpolitisch kaum noch präsent. In den Parlamenten der restlichen 26 Bundesstaaten und der Hauptstadt Delhi ist die CPI(M) insgesamt mit 3 Sitzen, die CPI mit 2 vertreten. In Bihar, einer früheren Hochburg der CPI, ist heute nur noch die inzwischen mit den anderen Linken verbündete, vormals maoistische CPI(ML) Liberation mit 3 Sitzen vertreten. Grund für diese missliche Lage der indischen Linken ist aber nicht nur ihr Einflussverlust, sondern auch das Fehlen von Bündnispartnern, mit denen man Wahlabkommen schließen kann. Früher, als sie noch höhere Ergebnisse erzielte, arbeitete die CPI mit der Kongresspartei zusammen. Sie kandidierten nicht gegeneinander und sicherten sich Unterstützung in den Wahlkreisen zu, in denen sie jeweils antraten.

Organisatorisch ist die Linke besser aufgestellt als die Wahlergebnisse vermuten lassen. 1989 zählten beide Parteien jeweils knapp 470.000 Mitglieder. 2015 kam die CPI auf 650.000 und die CPI(M) 1,05 Mio. Mitglieder und waren damit stärker als andere vergleichbare Parteien in den kapitalistischen Ländern. Zumindest die CPI(M) wuchs damit stärker als die indische Bevölkerung, die 2015 auf 1,3 Milliarden Menschen beziffert wurde.

Die Mitgliederzahlen der linken Gewerkschaften, Bauern-, Frauen-, Jugend- und Studierendenorganisationen nahmen noch schneller zu. Die Verbände der CPI(M) wuchsen von 32 Mio. Mitgliedern 1995 auf 61 Mio. 2011. Die größten Organisationen sind die der Jugend und die der Bauern.

Aber diese Zahlen verbergen Probleme, die die CPI bereits nach der verlorenen Parlamentswahl 2014 veranlassten, von einer "Krise der Linken" zu reden. Der "Stagnations- und Verfallsprozess" habe aber früher angefangen. Die CPI verwies bereits 2012 auf eine hohe Fluktuation in der Partei - Neuaufnahmen und Austritte von jährlich ca. 100.000 sind die Regel, auch bei der CPI(M). Die CPI beklagt ihre geringe Präsenz in den Städten und den geringen Anteil an Studierenden. Unterrepräsentiert in der Mitgliedschaft und noch stärker in den Führungen von CPI und CPI(M) sind Frauen, Jugendliche und nationale Minderheiten.

Auch in der Gewerkschaftsbewegung spielen die kommunistischen Parteien keine führende Rolle. Dem Gewerkschaftsverband der CPI(M) gehören 5 Mio. Arbeiter und Angestellte an. Ähnlich viele umfassen die Gewerkschaften der CPI und der andren Linksparteien. Die stärksten Gewerkschaftsverbände sind aber die der BJP und der Kongresspartei.

Die von der CPI beschworene Krise der Linken drückt sich in stagnierenden Mitgliederzahlen von CPI und CPI(M) seit 2009 aus. Die Jugend- und die Bauernorganisationen der CPI(M) haben ein Drittel ihrer Mitglieder verloren.

Die Verluste sind vor allem in Westbengalen zu verzeichnen. Die Mitgliederzahlen der CPI(M)-Massenorganisationen haben sich dort nach der Wahlniederlage 2011 halbiert. Die Partei hat über 70.000 von 320.000 Mitgliedern verloren. Die CPI(M) führt dies auf die Repression der neuen Regierung zurück. Der Rückgang hatte allerdings schon vor 2011 eingesetzt.

Die Entwicklung in Westbengalen hat vielfache Gründe. Auch wenn CPI und CPI(M) an einer marxistisch-leninistischen Programmatik festhalten, wurde die Wirtschaftspolitik der Linksregierung von Kritikern bestenfalls als sozialdemokratisch und schlimmstenfalls als neoliberal bezeichnet. Die Regierung war stets bemüht für beste Investitionsbedingungen, auch für multinationale Konzerne, zu sorgen. Hier trifft sich der Neoliberalismus mit einer Sozialismuskonzeption, nach der die regierende Linke - ähnlich wie die KP Chinas - für die Entwicklung des Kapitalismus sorgen soll, um die Bedingungen für den Übergang zum Sozialismus zu schaffen.

Auch in der Landwirtschaft hat für die CPI(M) die kapitalistische Entwicklung Vorrang. Landarbeiter kamen kaum in den Genuss einer schleppenden Landreform und anders als in den anderen Bundesstaaten, wurde eine Landarbeitergewerkschaft außerhalb der Bauernorganisation der CPI(M) erst nach der Wahlniederlage 2011 gegründet. Die Förderung von landwirtschaftlichen Genossenschaften wurde mit dem Verweis abgelehnt, dass die Produktionsverhältnisse der Entwicklung der Produktivkräfte entsprechen müssten und, dass es selbst in sozialistischen Staaten wie China, Kuba und Vietnam zu einer Entkollektivierung käme.

Einen großen Ansehensverlust hat die westbengalische CPI(M) durch die Ereignisse in Nandigram von 2009 erlitten, die die neoliberalen Auswüchse der Wirtschaftpolitik verdeutlichen. Hier sollten 4.000 ha für eine Sonderwirtschaftszone enteignet werden, um den Bau einer Chemiefabrik von Dow Chemical zu ermöglichen. 70.000 Einwohner wären zu diesem Zweck vertrieben worden. Gegen den massenhaften Widerstand der Bevölkerung, der vom Trinamool-Kongress unterstützt wurde, wurde schließlich ein massives Polizeiaufgebot eingesetzt, bei dessen Einsatz 14 Personen getötet wurden.

Nach der Niederlage von 2011 erfolgte keine deutliche Umorientierung bei der westbengalischen CPI(M). Um wieder an die Regierung zu gelangen, verbündete sie sich mit der Kongresspartei, mit der sie eine lange Feindschaft pflegte. Im Gegensatz zur CPI hatte die CPI(M) stets Bündnisse mit ihr abgelehnt, da sie sie als eine bürgerliche und neoliberale Partei betrachtete.

Der Wahlpakt mit der Kongresspartei könnte vielen Wählern als prinzipienlos erscheinen. Während die Kongresspartei von dem Bündnis profitierte und Sitze dazu gewann, fuhr die Linksfront eine weitere Niederlage ein. Trotz Kritik des Zentralkomitees verteidigte die CPN(M) in Westbengalen ihr Vorgehen mit dem Argument, ohne das Bündnis mit der Kongresspartei hätte sie noch mehr Sitze verloren.

Nico Biver, Marburg