Analysen

Euro first Athen then31.01.2018: Zwei wichtige Akteure der Europäische Union – Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der französische Präsident Emmanuel Macron - haben kürzlich in vielbeachteten Reden ihre Vorstellungen für die weitere Entwicklung der Europäischen Union dargestellt. Der Zeitpunkt für grundsätzliche Entscheidungen scheint näher zu rücken. Walter Baier beschreibt die europäische Herausforderung, wie sie aus der Perspektive des Machtzentrums der Europäischen Union wahrgenommen wird und stellt ihr zwei unterschiedliche strategische Ansätze der Linken gegenüber.

"Denken ist etwas, was aus Schwierigkeiten folgt und dem Handeln vorausgeht", notiert Bertolt Brecht. Die Europäische Union ist in Schwierigkeiten. Die Linke ist es auch. Am spektakulärsten wird das anhand der Sozialdemokratie in Europa demonstriert, die Wahlniederlagen in einem Ausmaß einstecken muss, das ein Fragezeichen über ihre weitere Zukunft als politische Kraft im europäischen Maßstab setzt. Fragen, wenn auch anderer Art, wirft auch die Zukunft der "radikalen Linken", also der Parteienfamilie links von Sozialdemokratie und Grünen auf.

Die Herausforderung, der sie sich auf europäischer Ebene zu stellen hat, wurde in einem Artikel für die Zeitschrift transform vom griechischen Politikwissenschaftler Gerassimos Moschonas 2011 folgendermaßen beschrieben:

"Die Europäische Union untergräbt durch ihre Struktur die Handlungsmodi des historischen Radikalismus. Verhandlungen – die endlosen Prozesse von Kompromissen und Kuhhandel – und die gestiegene Bedeutung technokratischer Lösungen sind mit der Kultur des Radikalismus nicht vereinbar. … Es gibt keine revolutionäre Strategie für Europa und es hat keinen Zweck, eine solche formulieren zu wollen. Wenn eine linke Partei der Revolution Priorität einräumt oder denkt, dass die Bedingungen für einen anti-kapitalistischen Umsturz oder sogar den vollständigen Ausstieg aus dem Kapitalismus existieren oder in naher Zukunft existieren werden, ist es nicht sinnvoll, in ein kompliziertes Spiel mit 26 Mitstreitern und ein extrem starres System der Regierung auf mehreren Ebenen verwickelt zu werden (ein System, das darüber hinaus mit einem riesigen Arsenal von Auslassventilen ausgestattet ist – mindestens 27, so viele wie es dort nationale Regierungen gibt). Das ist irrational. Für alle politischen Parteien, die sich dafür entscheiden, im Rahmen der EU zu arbeiten, lautet der Schlüssel für jegliche Kohärenz "Reform". Der Bereich der radikalen Linken, der sich für eine europäische Strategie entscheidet, entscheidet sich aus Notwendigkeit für eine Reformstrategie. Das europäische Gebiet ist per Definition ein Gebiet der Reformen, und zwar schwieriger, umständlicher Reformen. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal ist der Stellungskrieg, nicht der Bewegungskrieg."
(Moschonas, Gerassimos: "Die Europäische Union und das Dilemma der radikalen Linken")

Von diesem Dilemma werde ich ausgehen. Ich werde zunächst die europäische Herausforderung beschreiben, wie sie aus der Perspektive des Machtzentrums der Europäischen Union wahrgenommen wird. J. C. Juncker hat im Anfang März veröffentlichten Weißbuch zur Zukunft der Europäischen Union die Strategie skizziert, mit der die Europäische Kommission sich dieser stellen will. Dieser stehen zurzeit seitens der Linken zwei unterschiedliche strategische Ansätze gegenüber: der "Plan B", wie er von J.L. Mélenchon vertreten wird, und die von Yannis Varoufakis repräsentierte Initiative DiEM25. Beiden – gegensätzlichen – Ansätzen ist eines gemeinsam: Sie halten die strategischen Möglichkeiten der bisherigen Europapolitik der Linken für erschöpft und erachten eine Änderung für erforderlich. Der Aufstieg der radikalen, populistischen Rechten in zahlreichen Ländern Europas (zuletzt bei den Wahlen in Deutschland und Österreich) verweist darauf, dass zur politischen Krise Europas auch eine Krise der nationalen Beziehungen gehört.
Abschließen werde ich, indem ich einige Prinzipien zur Diskussion stelle, die eine Grundlage für weitere Konkretisierungen bilden.

1. Juncker, Macron – Der Diskurs innerhalb der Eliten

J. C. Juncker verweist am Beginn des "Weißbuches zur Zukunft Europas" auf das berühmte, 1941 von Altiero Spinelli und Ernesto Rossi in der Verbannung verfasste Manifest von Ventotene.

Es ist offensichtlich, dass die Vision Spinellis und Rossis eines durch die Gräuel zweier Weltkriege belehrten, antifaschistischen, sozialistischen und föderalistischen Europa und die Realität der heutigen Europäischen Union durch einen tiefen Graben getrennt sind. Trotzdem bleibt anzuerkennen, dass Europa praktisch und ideell ein Kampffeld ist, das die radikale Linke vor Jahrzehnten betreten hat, von dem sie sich nicht abdrängen lassen darf.

EU JC Juncker European ParliamentJuncker gesteht auch zu, dass "die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise, die im Jahr 2008 in den Vereinigten Staaten begann, Europa bis in seine Grundfesten erschüttert" hat, und dass Zweifel bestünden, dass die soziale Marktwirtschaft der EU und ihr Versprechen, niemanden zurückzulassen und dafür zu sorgen, dass es jeder Generation besser geht als der vorigen, hinterfragt werden". (Weißbuch, S.9 f.)

Richtiger Weise wird anerkannt, dass die Dimension der Herausforderung, der sich die europäischen Gesellschaften gegenübersehen, erst im internationalen Kontext ermessen werden kann.

  • Europas Anteil an der Weltbevölkerung wird kleiner;
  • seine relative wirtschaftliche Macht gemessen am Anteil am weltweiten BIP verringert sich;
  • die Bedeutung des Euro als Weltwährung nimmt ab. (Weißbuch, S. 8)

Damit wird die Fähigkeit, in der weltweiten Großen Transformation Europas Platz zu definieren, zum eigentlich ausschlaggebenden Kriterium jeder europapolitischen Debatte.

Fünf unterschiedliche Szenarien für die europäische Integration präsentiert das Weißbuch

  1. "Weiter wie bisher",
  2. "Schwerpunkt Binnenmarkt",
  3. "Wer mehr will, tut mehr",
  4. "Weniger aber effizienter",
  5. "Viel mehr gemeinsames Handeln".

Zwar wird der Eindruck erweckt, es würde in Alternativen gedacht, doch vor allem geht es um mehr Effektivität, Geschwindigkeit und den Abbau von Reibungsflächen im Rahmen des als gegeben gesetzten Entwicklungsmodells des europäischen Kapitalismus. In keinem der geschilderten Szenarien wird der Vorrang von Wettbewerbsfähigkeit und Geldwertstabilität, also die neoliberale Grundausrichtung der Integration in Frage gestellt.

Auf welche Weise ein Weiter wie bisher zu anderen Ergebnissen als den bisherigen führen soll, wird wohl ein Geheimnis der Europäischen Kommission bleiben.

Im April stellte die EU-Kommission das Reflexionspapier zur sozialen Dimension Europas vor, das im November zur Verabschiedung der Europäischen Säule der sozialen Rechte führen soll. Damit, kann positiv vermerkt werden, wird ein Fenster für einen politischen Diskurs in Europa geöffnet, der sich vom neoliberalen Wettbewerbsregime weg zur Frage der sozialen Rechte und der sozialen Angleichung nach oben wendet. Andererseits werden aus der "Europäischen Säule der sozialen Rechte" keine verbindlichen, einklagbaren Ansprüche entstehen, da Sozialpolitik in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten liegt. Zudem bleibt die Frage der Verknüpfung mit anderen, mit wesentlich größerer rechtlicher Verbindlichkeit ausgestatteten EU-Politiken ausgespart.

Das gilt in besonderem Maß für das im Mai vorgestellte "Reflexionspapier zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion".

Statt selbstkritischer Reflexion der krisenverschärfenden Wirkung der durch die EU-Kommission und die Eurogruppe durchgesetzten Austeritätspolitik und ihrer schädlichen Folgen liest man dort von einer Erfolgsstory. Ein allgemeiner "Reformschwung" in vielen Mitgliedsstaaten würde "durch weitere Maßnahmen auf EU-Ebene gefördert…, die wieder auf das ‚magische Dreieck‘ aus Investitionsförderung, Strukturreformen und verantwortungsvolle Haushaltspolitik ausgerichtet wurde". (S.10). Die einzelnen Maßnahmen zur Errichtung der Bankenunion und der Kapitalmarktunion seien entweder schon implementiert oder auf dem Wege dazu. Neue "Finanzierungsinstrumente", sogenannte "staatsanleihenbesicherte Wertpapiere (Sovereign Bond-Backed Securities, SBBS), was im weitesten Sinn als eine Einführung von Eurobonds interpretiert werden kann, würden geprüft. Allerdings hat die brüske Ablehnung seitens der deutschen Regierung die Chancen auf einen Konsens sehr stark reduziert.

Selbstbewusster als im vorigen Jahr fiel auch J. C. Junckers Rede über die Lage der Union vor dem Europäischen Parlament am 13. September 2017 aus: Banken gerettet, öffentliche Defizite gesenkt, "illegale Flüchtlinge", die den Menschen in vielen Ländern Angst gemacht haben, im Griff. (Jean-Claude Juncker: Rede zur Lage der Union 2017)

Zumindest im Hinblick auf die soziale und wirtschaftliche Lage von 20 Millionen Arbeitslosen in Europa ist das Selbstbewusstsein der verantwortlichen Kräfte nicht gerechtfertigt.

Trotz Wirtschaftswachstums zeigen alle relevanten Kennzahlen – Arbeitslosenrate, materielle Deprivation, Langzeitarbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit, Prekarität, Armut trotz Arbeit u.a. – , dass sich die soziale Lage in der EU und in der Eurogruppe im Vergleich der Vorkrisenzeit noch immer nicht erholt hat. Es haben sich vor allem die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten im Verlauf der Krise und danach deutlich akzentuiert, was sich als eine der ernsten Hypotheken auf die Zukunft der europäischen Integration erweisen wird.

Dabei sind Gewinner und Verlierer der Krise deutlich auszumachen, wie die gegensätzliche Entwicklung der Handelsbilanzen der Mitgliedsstaaten der Eurogruppe zeigt.

Trotz der rechtlichen und technischen Änderungen, die die EU für einen neuerlichen Kriseneinbruch belastbarer machen soll, bleiben die grundlegenden Probleme ungelöst und die Risikofaktoren kumulieren weiter.

Allerdings gibt es einen politischen Aspekt. Sah Juncker sich in seiner Rede 2016 noch veranlasst, "die großen, demokratischen Nationen Europas" aufzurufen, "sich nicht vom Populismus verführen zu lassen", so treibt ihn diese Sorge nach den Wahlniederlagen der rechtsradikalen Kandidaten und Parteien im Frühjahr dieses Jahres weniger um. Doch schon die Wahlergebnisse im Herbst (Deutschland, Österreich und Tschechien) sollten in Erinnerung rufen, dass Europas rechtsradikale Parteien sich auf einem in der Nachkriegsgeschichte bisher nicht gekannten Niveau politisch etabliert haben. Die Gefahr ist keineswegs gebannt. Das Jahr 2017 kann auch aus dieser Perspektive nur als ein Moment der Atempause beschrieben werden, die die ökonomische und politische Entwicklung den Herrschenden gewährt.

So scheint es auch Juncker selbst zu sehen: "Uns öffnet sich jetzt ein Fenster der Möglichkeit. Aber es wird nicht ewig offen bleiben. Lassen Sie uns das Meiste aus diesem Schwung herausholen, lassen Sie uns den Wind in unseren Segeln nutzen." (S. 7)

Eine für diese politische Operation geeignete Plattform will Juncker mit seinem persönlichen "Szenario Sechs" (S. 12) vorlegen. Ist dies realistisch, das heißt, ist es tatsächlich geeignet, die Kräfte des rechten und linken Zentrums zu konsolidieren und zu erneuern, nicht nur um der Opposition gegen eine Fortsetzung der Austeritätspolitik seitens der Linken entgegenzutreten, sondern auch um die radikale Rechte dauerhaft von der Macht fernzuhalten?

Junckers "Szenario Sechs"

  1. Die europäische Handelsagenda ist zu stärken, Verhandlungen über Handelsabkommen mit Australien und Neuseeland sollen à la CETA abgeschlossen werden.
  2. Wenn wir den Schutz unserer Außengrenzen verstärken wollen, dann müssen wir Rumänien und Bulgarien unverzüglich den Schengen-Raum öffnen.
  3. Alle außer zwei Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, dem Euroraum beizutreten, sobald sie alle Bedingungen erfüllen.
  4. Die Bankenunion muss unverzüglich vollendet werden.
  5. Die Mitgliedsstaaten müssen sich so schnell wie möglich auf die europäische Säule sozialer Rechte einigen.
  6. Wir müssen eine glaubhafte Erweiterungsperspektive für den westlichen Balkan aufrechterhalten.
  7. Eine EU-Mitgliedschaft der Türkei in absehbarer Zukunft ist ausgeschlossen.
  8. Der ESM soll schrittweise zu einem Europäischen Währungsfonds ausgebaut werden.
  9. Wir brauchen einen Wirtschafts- und Finanzminister der EU (!), der positive Strukturreformen in unseren Mitgliedsstaaten fördert und unterstützt.
  10. Bis 2025 brauchen wir eine funktionierende Europäische Verteidigungsunion. Wir brauchen sie. Und die NATO hätte sie gerne.
  11. Die Kommission schlägt neue Regeln zur Finanzierung politischer Parteien und Stiftungen vor. Ich halte auch europaweite, transnationale Listen für eine gute Idee.
  12. Das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission soll mit dem des Präsidenten des Europäischen Rates verschmolzen werden. (S. 15f.)

 

Zwei Tage nach der Wahl des deutschen Bundestages stellte Emmanuel Macron in einer programmatischen Ansprache an der Sorbonne seine "Initiative für Europa" vor.

FR Macron RevolutionOhne die Meinungsunterschiede zwischen den bisherigen Protagonisten der Debatte – Europäische Kommission, französische Regierung und deutsche Regierung – klein reden zu wollen, fällt auf, dass Macrons Pariser Rede sich in großen Teilen (Gemeinsame Armee, Migration) auf der von Juncker vorgegeben Linie bewegt. Ferner klammerte Macron einige kontroverse Vorschläge, die Errichtung eines Eurozonen-Parlaments und eines Eurozonenfinanzministers aus oder modifizierte sie in eine mit der Position der Europäischen Kommission kompatible Form.

Als Signal in Richtung deutsche Regierung ist schließlich Folgendes zu verstehen:

"Die Solidarität, die ein (gemeinsames) Budget erfordert, kann nur mit einer gestiegenen Verantwortung funktionieren, die mit einer Einhaltung der Regeln beginnt, die wir uns gegeben haben, und der Durchführung der notwendigen Reformen. Ein Budget kann außerdem nur funktionieren mit einer starken politischen Führung durch einen gemeinsamen Minister und einer auf europäischer Ebene ausgeübten parlamentarischen Kontrolle." (S. 8).

Damit bewegt sich Macron auf Grundlage des neoliberalen Konsenses, der das Zentrum der EU zusammenhalten soll. Die darüber hinausgehenden Vorschläge (z.B. Eurobonds) haben angesichts des nach den Wahlen weiter bestehenden deutschen Einspruchs keine Chance auf eine Verwirklichung.

Wie immer fällt es in solchen Debatten leicht, die auf dem Tisch liegenden Vorschläge als unzureichend und fehlorientiert zurückzuweisen. Eine ebenso leichte Übung ist, festzustellen, was wir unter allen Umständen ablehnen:

  • Die Schaffung einer europäischen Militärunion, zumal zum Gefallen der NATO;
  • Die Installierung eines europäischen Präsidialsystems durch die Vereinigung der Positionen von Rats- und Kommissionspräsidentschaft.

Doch eine Partei, die sich nur über ihre Gegnerschaft identifiziert, eine Partei des "Anti-Alles" verfügt über kein hegemoniales Potential.

Sie mag über die Einführung europäischer Listen bei den bevorstehenden Europaparlamentswahlen glücklich oder unglücklich sein, diese Entscheidung wird nicht von ihr abhängen. Zurzeit diskutiert die Partei der Europäischen Linken, ob sie bei den Europaparlamentswahlen 2019 neuerlich einen gemeinsamen Spitzenkandidaten für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission nominieren wird oder nicht. Dabei handelt es sich nicht um eine taktische, sondern um eine strategische Entscheidung, die signalisieren wird, für welche Alternative eines anderen, progressiven, demokratischen, ökologischen und sozialen Europa sich die Linke entscheidet.

2. Zur Verfassung der EU

Mit der nun initiierten Debatte um die Zukunft der Europäischen Union wollen die maßgeblichen liberalen Eliten der EU den Konsens zur europäischen Integration erneuern, allerdings unter den von ihnen gesetzten Bedingungen. Inwieweit diese Debatte elitär selbstreferentiell bleibt oder ob sie zu einer demokratischen und populären Diskussion wird, hängt auch davon ab, ob sich die Linke daran beteiligt oder nicht.

In dieser Diskussion um "Reform", "Erneuerung" oder "Neugründung der EU" scheint ein weißer Elefant durch den Raum zu marschieren: Die Verträge sollen, auch hier scheinen sich Juncker und Macron einig zu sein, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt aus der Debatte ausgeklammert werden. Das ist keine Kleinigkeit, denn obwohl eine Verfassung der EU bei den Volksabstimmungen 2005 abgelehnt wurde, bilden die Verträge (Vertrag über die Europäische Union und der Vertrag über die Funktionsweise der Europäischen Union) doch eine verfassungsmäßige Ordnung der EU.

So werden sie auch vom Europäische Gerichtshof interpretiert, der 1991 in einer formellen Stellungnahme festhielt: "Der EWG-Vertrag (inzwischen Vertrag über die Funktionsweise der Europäischen Union, W.B.) bildet, obwohl er als internationales Abkommen geschlossen wurde, nichts desto weniger die Verfassung der Europäischen Union." (Smith, Jeremy/Weeks, John (2017): "Bringing Democratic Choice to Europe’s Economic Governance. The EU Treaty changes we need, and why we need them", S. 8)

J. C. Juncker wählte dazu in der Rede zur Lage der Union eine in ihrer Paradoxie erhellende Formulierung: "Unsere Union ist kein Staat, aber sie ist ein Rechtsstaat." (S.14). Er hätte auch sagen können: Unsere Union ist keine Demokratie, aber sie erzeugt Gesetze mit rechtsstaatlichen Prozeduren. Das heißt, die EU wird auf Grundlage allgemeiner Rechtsnormen regiert, die ihrerseits auf Grundlage von übergeordneten Rechtsnormen erzeugt werden. An dieser Stelle wechselt der Stufenbau der Rechtsordnung allerdings den Modus, denn diese übergeordneten Rechtsnormen bestehen in zwischenstaatlichen Verträgen. Daher können sie auch nur durch internationale Abmachungen einstimmig, nicht aber durch einen souveränen demokratischen Prozess der ihnen unterworfenen Bevölkerungen abgeändert werden.

Die zweite Besonderheit der faktischen europäischen Verfassung besteht in ihrem Umfang und ihrer Regelungstiefe. Während die Verfassung der USA mit 34 Artikeln und Abänderungen auskommt, bestehen die Europäischen Verträge aus 413 Artikeln.

Verfassungen legen im Allgemeinen die institutionelle Beziehung und die Kompetenzen der Staatsorgane fest, sie beschreiben grundlegende Staatsziele und die grundlegenden Rechte der Staatsbürger_innen. Die "Verfassung" der Europäischen Union unterscheidet sich in dieser Hinsicht von allen anderen Verfassungen, indem sie eine spezifische ökonomische Philosophie (oder Ideologie) und davon ausgehend detaillierte Regeln für die Wirtschaftspolitik formuliert, sie "konstitutionalisiert". Diese Regeln wurden sukzessive mit Sanktionsmechanismen ausgestattet, deren Ziel in der wirksamen Durchsetzung der Austeritätspolitik und der Verhinderung einer aktiven Fiskalpolitik besteht.

Die Verschiebung von Vorschriften, die im Rechtsstaat durch einfache Gesetze geregelt werden, in die Verfassung, stattet den Europäischen Gerichtshof mit einer außergewöhnlichen Macht aus und erlaubt ihm, sich die Rolle eines Motors der Integration anzumaßen. Mit den Entscheidungen in den Fällen "Viking (2007)" und "Laval (2007)" hat der EuGH den wirtschaftlichen Freiheitsrechten des EG‐Vertrages, namentlich der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit, Priorität gegenüber der gewerkschaftlichen Aktionsfreiheit eingeräumt. Im Fall "Rueffert" erklärte er das Niedersächsische Vergabegesetz für unvereinbar mit dem Europäischen Recht, und im Fall "Luxemburg" stellte er den Vorrang der Dienstleistungsfreiheit gegenüber nationalem Arbeitsrecht fest.

Darüber, wie diese Urteile des EUGH in gewerkschaftliche Rechte eingreifen, existiert eine ausführliche Literatur.

Über ihre integrationspolitische Bedeutung wird aber zu wenig diskutiert.

Schon frühzeitig konstruierte der EuGH die Doktrin eines Vorrangs europäischen Primär- und Sekundärrechts vor jeglichem nationalen Recht, inklusive des Verfassungsrechts. Er formulierte die Direktwirkung des Europarechts und führte den Grundsatz der Verpflichtung Privater durch das Europarecht ein, sodass auch das autonome Handeln von Gewerkschaften und Arbeitgebern gegen die europäischen Grundfreiheiten abzuwägen ist. Schließlich deutete er die in den Verträgen festgeschriebenen Diskriminierungsverbote im Sinne allgemeiner Beschränkungsverbote, die ihn in die Lage versetzten, nationale Regulierungen auch dann für europarechtswidrig zu erklären, wenn in den konkreten Fällen keine Diskriminierung ausländischer Anbieter vorlag.
(Siehe Martin Höpner: "Usurpation statt Delegation: Wie der EuGH die Binnenmarktintegration radikalisiert und warum er politischer Kontrolle bedarf")

Jeremy Smith und John Weeks konfrontieren in der bereits zitierten Studie den gültigen Text der europäischen Verträge mit von ihnen formulierten Abänderungsvorschlägen, die die einseitig wirtschaftsliberale Ausrichtung der EU-Verträge korrigieren würden. Ihr erster unter vielen Vorschlägen bezieht sich auf Artikel 3, Absatz 3 und 4 des Vertrags über die Europäische Union, in denen die Einrichtung des Binnenmarkts und die Einführung des Euro verankert sind.

Jetzige Version des Artikels 3, Absatz 3 und 4

(3) Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt.
Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.
Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.

(4) Die Union errichtet eine Wirtschafts- und Währungsunion, deren Währung der Euro ist.

 

Vorgeschlagene Änderung

(3) Die Union wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und Prosperität, Vollbeschäftigung bei qualitativ guter Arbeit, vernünftige Preisstabilität, sozialem Fortschritt und einem hohen Niveau des Schutzes und der Verbesserung der Umwelt im Rahmen einer Gesellschaft, die auf einer dynamischen und gemischten Ökonomie aufbaut, die effektiven sozialen Schutz und öffentliche Dienste garantiert. Sie wird den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt fördern. Um diese Ziele zu erreichen, errichtet die Union einen Binnenmarkt. Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.
Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten…

(4) Um diese Ziele zu erreichen, errichtet die Union eine Wirtschafts-und Währungsunion, deren Währung der Euro ist.

Was sich auf der sprachlichen Ebene als Umformulierung durch Umstellung einzelner Sätze darstellt, würde bedeuten, in der Wirtschaftsverfassung der EU Hayek durch Polanyi, deregulierte Märkte durch die Idee einer sozial eingebetteten Marktwirtschaft zu ersetzen. Politisch wäre das nicht Reform, sondern Schubumkehr.

Auf nicht weniger muss die Politik der Linken zielen. Im durch die Verträge der EU abgesteckten Rahmen, davon überzeugt die Studie von Smith und Weeks, wird diese sich nicht verwirklichen lassen.

3. Zum Zustand der "radikalen Linken"

Die Europapolitik ist nach der Weigerung der europäischen Institutionen, mit der Syriza-geführten griechischen Regierung einen fairen Deal über die Schulden zu schließen, neuerlich zu einem Thema innerhalb der Linken geworden. Die Kontroverse ist weder erstaunlich noch neu.

Divergierende Strategien der Parteien kennzeichnen den gesamten Weg der radikalen Linken. Nach den Europaparlamentswahlen, die im Juni 1989 noch vor dem Fall der Berliner Mauer stattgefunden hatten, spaltete sich die im Europaparlament bestehende "Gruppe der Kommunisten und Verbündete" in eine integrationsfreundliche Gruppe (KP Italiens, KP Spaniens und KP Griechenlands – Inlandsflügel) und eine die Integration ablehnende (KP Frankreichs, KP Griechenlands – Auslandsflügel und KP Portugals) auf.

 Europa Wahlen Linke

Seither hat sich die politische Landschaft verändert. Der Graph zeigt, dass die westeuropäischen Kommunist_innen bzw. die an ihre Stelle tretenden "radikal linken Parteien" zu keinem Zeitpunkt eine wahlpolitische Stärke wie vor dem Zusammenbruch des Staatssozialismus erreichten. Vier Etappen lassen sich seit 1989 ausmachen.

Die Periode bis 1993 ist durch einen schnellen, gravierenden und allgemeinen Einbruch gekennzeichnet. Der aggregierte Stimmenanteil fiel von 9,4 auf 5,4 %. Für diesen Einbruch ist vor allem der Übertritt der Kommunistischen Partei Italiens zu den Sozialdemokraten verantwortlich. In der Periode bis 1999 gelang eine kräftige Erholung: Der aggregierte Stimmenanteil erreichte 7,2 %, in 14 von 17 Ländern wurden Gewinne verzeichnet, und in zwei großen Ländern (Frankreich und Italien) traten die Parteien "der radikalen Linken" in Mitte-Links-Regierungen ein.

Ab 2000 stagnierte der Stimmenanteil, vor allem, weil sich die Beteiligungen an den Regierungen als nicht nachhaltig und nicht erfolgreich erwiesen.

Die große Krise ab 2008 führte in einigen Ländern des europäischen Südens zu außergewöhnlichen Gewinnen, in Irland und in Belgien konnten sich linke Parteien neu verankern. Dem stehen Stagnation und Rückgang in Ländern des Zentrums gegenüber. Das führte auch zu einem durchwachsenen Ergebnis bei den Europaparlamentswahlen 2014, bei denen die zu verzeichnenden Stimmen- und Mandatsgewinne unter den Erwartungen blieben. (Daten aus: Chiocchetti, Paolo (2017): "The Radical Left Party Family in Western Europe, 1989 – 2015", London, New York, Routledge, S. 210 f.)

Die strategische Position der "radikalen Linken" in Europa ist auch dadurch geschwächt, dass in Mittel- und Osteuropa mit Ausnahme Tschechiens keine nennenswerte Verankerung besteht. Erst 2014 gelang der Vereinten Linken Sloweniens der Einzug in das nationale Parlament.

Die Wahlerfolge J. L. Mélenchons und seiner Bewegung France Insoumise sind in dieser Trendbeschreibung noch nicht berücksichtigt, obwohl sie das Bild zahlenmäßig und qualitativ verändern. Mit Podemos und France Insoumise, die sich vage als "links-populistisch" beschreiben, verschieben sich der geographische Schwerpunkt und auch das ideologische Profil der "radikalen Linken". Das Gewicht der traditionsreichen kommunistischen Bewegungen Italiens, Frankreichs und Spaniens hat abgenommen; die Glaubwürdigkeit der von Syriza vertretenen proeuropäischen Strategie hat durch die Verweigerung eines fairen Schuldendeals gelitten. Schwierigkeiten innerhalb der Partei der Europäischen Linken, mit der sich abzeichnenden neuen Konstellation umzugehen, zeichnen sich ab.

4. Konkurrierende Konzepte

Alternative Vorschläge für eine Reform von wichtigen Aspekten der europäischen Integration gibt es ohne Zahl. So der 2013 beschlossene Plan des Europäischen Gewerkschaftsbundes "A New Path for Europe" oder das dieses Jahr von Mario Pianta, Metteo Lucchese und Leopoldo Nascia vorgestellte Dokument "What is to be produced ? The Making of an New Industrial Policy in Europe".

Vorschläge für ein Narrativ, das auf sinnstiftende Weise die Vision eines solidarischen und gerechten Zusammenlebens auf dem europäischen Kontinent mit einer Strategie und politischen Methoden ihrer Anwendung verbindet, wären notwendig, sind aber seltener.

In jüngster Zeit wurden zwei ambitionierte Versuche unternommen, ein neues Narrativ zu schaffen.

A.) J. L. Mélenchon: "Plan B in Europa”

FR Jean Luc MelenchonIn einem Interview im März 2017 fasste der Gründer von France Insoumise vier Prinzipien einer Plan-B-Konzeption zusammen:

  • "Was mich von anderen Strömungen der Linken unterscheidet, ist, dass für mich die Nation ein Hebel des europäischen Kampfes ist."
  • "Ausstieg aus den Verträgen "und "Verhandlungen über neue Regeln " – und ein Plan B: "einseitiger Ausstieg Frankreichs aus den europäischen Verträgen" – falls die erste Methode nicht funktioniert.
  • Die Franzosen werden aufgerufen werden, durch Volksabstimmung souverän zu entscheiden, ob sie an einer neu gegründeten Europäischen Union teilnehmen oder aus ihr austreten möchten. Falls das nicht funktioniert, wäre die zweite Option, dass Frankreich seine Beiträge zum EU-Budget einstellt und eine Kontrolle des Kapital- und Güterverkehrs an seinen Grenzen einführt.
  • Es wird nicht nur einen Plan B geben. Der Plan B wird in Abhängigkeit von den verschiedenen Ländern ein verschiedener sein.
    (Le Monde, 10 March, 2017)

B.) Yannis Varoufakis: DiEM25

Varoufakis Diem25Soll Europa gerettet werden, fragt DiEM25 und antwortet mit dem Projekt eines "New Deal for Europe":

"Ja, wir haben die Pflicht zu zeigen, dass Europa gerettet werden kann und muss. Europa muss gerettet werden, weil die Alternative in der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verarmung der Europäer_innen besteht." (S. 6)

Der "New Deal for Europe" beinhaltet Politikvorschläge und Strategien auf der Grundlage von vier Prinzipien:

  • Alle Europäer_innen sollten das Recht auf lebensnotwendige Güter (wie z.B. Nahrung, Obdach, Transportmittel, Energie) genießen, zusammen mit dem Recht auf vergütete Beschäftigung zur Erhaltung ihrer Communities, und zwar von einem existenzsichernden Einkommen über anständige Sozialwohnungen, hochwertiger Gesundheitsversorgung und Bildung bis hin zu einer nachhaltigen Umwelt.
  • Europas Zukunft hängt von der Fähigkeit ab, den angehäuften Wohlstand in Europa zu nutzen und ihn in eine reale, grüne, nachhaltige und innovative Wirtschaft zu investieren. Es geht nicht darum, die Wettbewerbsfähigkeit eines europäischen Landes im Vergleich zu einem anderen zu stärken, sondern den flächendeckenden Anstieg der Produktivität in nachhaltigen Sektoren überall zu fördern.
  • In einer zunehmend digitalisierten Wirtschaft werden Kapitalgüter mehr und mehr von allen produziert, während ihre Renditen aber weiterhin privatisiert werden. Um Stagnation und Unzufriedenheit in einem technologisch weiter voranschreitenden Europa zu vermeiden, müssen Strategien zur Verteilung der Erträge aus Digitalisierung und Automatisation implementiert werden, die allen Bürgern zugutekommen.
  • Europas Ökonomien stagnieren, weil ihr Management auf makroökonomischem Niveau zu lange "Technokraten” überlassen wurde, die dafür noch nicht einmal zur Rechenschaft gezogen werden können. Es ist höchste Zeit, das makroökonomische Management grundlegend zu demokratisieren und die Aufsicht der souveränen Bevölkerung zu übergeben.
    (Europäischer New Deal)

Die strategische Grundidee von DiEM25, den Kampf um einen European New Deal innerhalb der Verträge mit einer Strategie, die EU in etwas Neues zu transformieren, zu verbinden, steht im vollkommenen Gegensatz zur Strategie von Plan B, den Kampf um Reformen innerhalb der Verträge dazu zu benützen, die EU also solche zu sprengen.

Steht also die europäische Linke vor dem alten Dilemma, sich zwischen unkritischem Pro- und nationalistischem Anti-Europäismus zu entscheiden?

Oder in den Worten von Gerassimos Moschonas:

"Es geht um grundlegende strategische Kohärenz. … Entweder entscheidet sich die Linke für eine europäische Linke und kommt mit den politischen Konsequenzen klar, oder sie entscheidet sich für eine Anti-EU-Strategie (Verlassen der Union, Wiederherstellung nationaler Souveränität) und lebt dann mit den entsprechenden Konsequenzen. … Inkohärent (i.e. ohne strategische Perspektive) ist es, sich für eine ‚europäische‘ Strategie zu entscheiden (also Lösungen auf europäischer Ebene anzustreben) und weiterhin durch das aufrührerische Modell inspirierte Diskursschemata zu nutzen, oder sich für eine "Rückkehr zur Nation" zu entscheiden, aber zu behaupten, Repräsentant des Universalismus und des Weltproletariats zu sein." (Moschonas, Gerassimos, a.a.O.)

Angesichts dieses Dilemmas bestehen vier Optionen:

  1. Man kann versuchen, den bestehenden Meinungsunterschied hinter Parteidiplomatie und Formelkompromissen zu verstecken. Angesichts der Krise und der anlaufenden Debatte über die Zukunft Europas scheint diese Methode erschöpft.
  2. Man kann sich entlang der Linie für oder gegen die europäische Integration spalten. Das Ergebnis wäre eine Fragmentierung der radikalen Linken mit allen absehbaren negativen Konsequenzen.
  3. Die Vertreter_innen der unterschiedlichen Konzeptionen können versuchen, ihre Gegenüber von der Richtigkeit des eigenen Standpunkts zu überzeugen. Der Versuch ist aussichtslos, und das Ergebnis bestünde in einer ideologisierte Debatte und der Lähmung der Zusammenarbeitsstrukturen.
  4. Bleibt schließlich die Möglichkeit, die unterschiedlichen Konzeptionen als rationalen Ausdruck der unterschiedlichen Bedingungen, in denen die Parteien wirken, anzuerkennen, und davon ausgehend eine gemeinsame europäische Strategie zu entwickeln.

5. Ein historischer Einschub

Die erneuerte Mobilisierungskraft zwischen- und innerstaatlicher Nationalismen in Europa lässt darauf schließen, dass die virulente Krise der Demokratie auch eine Krise der nationalen Beziehungen zwischen Staaten und innerhalb von Staaten provoziert. Die Nationalismen könnten sich ein weiteres Mal in der europäischen Geschichte für das Haupthindernis bei der Entfaltung einer progressiven politischen Alternative erweisen.

Mit Robert Hobsbawm teilen wir die Auffassung, dass Nationen mehr sind als "ideologische Konstruktionen", die mit einem Staat, der existiert, oder einem Befreiungskampf, dessen Ziel in der Errichtung eines unabhängigen Staats besteht, verbunden sind, nämlich ein Element objektiver sozialer Wirklichkeit.

Sozialistischer Internationalismus bedeutet, der sozialen gegenüber der nationalen Frage den Vorrang einzuräumen. Daraus aber entsteht eine nationalpolitische Aufgabe, nämlich im Zusammenleben unterschiedlicher nationaler Gemeinschaften auf maximale Gleichberechtigung und Demokratie zu drängen, um so die Überdeterminierung der sozialen Gegensätze durch die nationalen zurückzudrängen.

Aus dieser gemeinsamen, grundsätzlichen Position leiteten die Theoretiker_innen der Zweiten Sozialistischen Internationale allerdings unterschiedliche Optionen ab, was in eine auch für heutige Fragestellungen interessante Debatte mündete.

Drei strategische Optionen wurden in die Diskussion gebracht:

  • W. I. Lenin: Wir müssen unausweichlich zur Schlussfolgerung gelangen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Nationen das Recht auf staatliche Lostrennung von fremden Nationalgemeinschaften und die Bildung eines selbstständigen Nationalstaats bedeutet. (1914)
  • Rosa Luxemburg: Die Sozialdemokratie ist deshalb aufgerufen, nicht das Selbstbestimmungsrecht der Nationen zu verwirklichen, sondern nur das Recht auf Selbstbestimmung der arbeitenden Klasse, der ausgebeuteten und unterdrückten Klasse – des Proletariats. (1908)
  • Otto Bauer: "National-kulturelle Autonomie” ... "Personalprinzip” (1907)

Was interessiert an Otto Bauer und am Austromarxismus?

Der bis 1918 bestehende Habsburger-Staat setzte sich aus zwölf anerkannten Nationalitäten zusammen. Jede Nationalität konnte ein Recht auf nationale Selbstbestimmung geltend machen, das entweder durch die Gründung eines unabhängigen Staats oder den Anschluss an einen bestehenden Staat derselben Nationalität zu befriedigen war.

Eine Jahrzehnte lange Staatskrise ergab sich daraus, dass eine Aufteilung des Reichs entlang der Nationalitäten unmöglich war, da nicht nur das Ganze, sondern auch seine Bestandteile, die Kronländer, multinationale Gebilde mit Sprachinseln und national durchmischten Bevölkerungen bildeten.

Die von der österreichischen Sozialdemokratie vorgeschlagene dritte Option in der Nationalitätenpolitik bestand in zwei einfachen und radikalen Prinzipen:

  • Nationale Selbstbestimmung ist kein an ein bestimmtes Territorium gebundenes Recht (Territorialprinzip), sondern ein persönliches Recht (Personalprinzip). JedeR Bewohner_in des Reiches hat unabhängig von der Herkunft und des Aufenthaltsorts das Recht, sich zur Nation seiner/ihrer Wahl zu bekennen.
  • Jede sich nach dem Personalprinzip konstituierende Nationalität hat das Recht zur Selbstbestimmung und Selbstverwaltung. Die Selbstverwaltungsgebiete einer und derselben Nation bilden zusammen einen national einheitlichen Verband, der seine nationalen Angelegenheiten völlig autonom besorgt.

Diese Politik unterschied sich von der Lenins in folgender Weise: Während für die Bolschewiki die nationale Frage ein Instrument zur Sprengung und Zerschlagung des zaristischen Staats darstellte, den sie bedingungslos bekämpften, verstanden die österreichischen Sozialdemokraten sie als eine Herausforderung, an der sie ihre Fähigkeit zur Führung und Transformation des Staats beweisen wollten. Die Parallele zu Antonio Gramscis Unterscheidung zwischen der Strategie des Stellungs- und der Strategie des Bewegungskrieges drängt sich auf.

6. Europa als ein Common

Europa braucht ein soziales und wirtschaftliches Wiederaufbauprogramm, eine Agenda der Transformation seiner Produktions- und Lebensweise mit Blickpunkt Geschlechtergerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit.

Ein solches Programm ist formulierbar, und es ist durchführbar.

Was steht einer Verwirklichung entgegen?

Offensichtlich sind es die bestehenden politischen und institutionellen Kräfteverhältnisse. Aber Veränderung des Kräfteverhältnisses ist ein strategisches Ziel, es ist kein Instrument der Mobilisierung.

Der Schlüsselbegriff in einem Kampf um die Veränderung des Kräfteverhältnisses lautet Demokratie. Die Frage der Demokratie ist nicht zu trennen von der Frage der Verträge von Lissabon, Maastricht, dem Fiskalpakt etc., vom gesamten Regelwerk, das den Neoliberalismus als Grundgesetz der EU festschreibt und die Mitgliedsstaaten zur Austeritätspolitik verpflichtet. Diese Verträge sind nicht reformierbar. Sie müssen durch ein anderes, demokratisches Regelwerk ersetzt werden.

Doch damit ist die Frage der Demokratie nicht erschöpft. Das fundamentale Problem ist, wie 500 Millionen Menschen und mehr als 50 Völker und Nationalitäten friedlich und solidarisch in Europa zusammenleben können, und wie sie sich in eine Welt stellen, die in einer nicht fernen Zukunft von 10 Milliarden Menschen bevölkert sein wird.

Was vor allem fehlt, um ein demokratisches Europa zu verwirklichen, ist eine demokratische Bewegung, die nicht anders als im Rahmen der einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union entstehen kann. Doktrinarismus im Hinblick auf europapolitische Konzepte kann der Entwicklung einer transnationalen Solidarität solcher Bewegungen nur abträglich sein.

Mit bitterer Ironie äußerte sich Otto Bauer 1907 über den Doktrinarismus, mit dem der Streit über unterschiedliche Konzepte der Nationalitätenpolitik in der polnischen Linken geführt wurde.

"In einer Zeit, da die Macht des Zarismus noch nicht gebrochen ist, in der noch täglich die Kämpfer der Arbeiterklasse eingekerkert, erschossen, gehenkt werden, streiten die Arbeiter von Warschau und Lodz darum, ob das Verhältnis zwischen Russland und Polen von der konstituierenden Versammlung in Petersburg oder vom konstituierenden Landtag in Warschau geregelt werden soll, ob sie den Achtstundentag von der russischen Duma oder vom polnischen Landtag verlangen sollen, ob Polen Russlands Absatzmärkte braucht oder nicht." (Bauer, Otto (1924): Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien. S. 453)

Erinnert dies nicht an manche ideologisierte Debatte, die heute in der Linken über die richtige Politik bezüglich der Europäischen Union geführt wird?

Der Kampf, in dem sich die Linke engagieren muss, wird viele Formen annehmen. Er reicht von der Ausnützung aller, auch der kleinsten Spielräume, die sich innerhalb des rechtlichen und legalen Rahmens für den Neoliberalismus konterkarierende Politiken bieten, über Ungehorsam, der auch die Nichtbeachtung von durch EU-Autoritäten (Kommission oder EUGH) gesetzten Normen durch Regierungen und Gebietskörperschaften beinhaltet. Er fordert aber auch ein neues Narrativ im Hinblick auf ein demokratisches Zusammenleben der Bevölkerungen Europas.

Ein schlankes Grundgesetz für eine neue, demokratische Europäische Union

  • • Die europäische Grundrechtscharta;
  • die europäische Staatsbürgerschaft, die jedem in Europa lebenden Menschen politische und soziale Rechte garantiert;
  • die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung jedes Staats und jeder Nation in Europa, einschließlich des Rechts auf nationale Autonomie der in Europa lebenden nationalen Minderheiten, seien sie alt eingesessen oder erst kürzlich eingewandert;
  • die Ausstattung des Europäischen Parlaments mit allen Rechten eines souveränen Parlaments, das das Recht die Europäische Kommission als sein Exekutivorgan zu wählen, das Budget der Europäischen Union zu beschließen und die Europäische Zentralbank durch Zielvorgaben anzuleiten und zu kontrollieren beinhaltet;
  • eine intelligente und transparente Aufteilung der Macht und der Kompetenzen zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten bzw. zwischen den Unionsorganen.
  • Die EU wird keine Militärunion. Ihr Ziel ist die Errichtung eines Systems der kollektiven Sicherheit und eine allgemeine Abrüstung in Europa.

Abschließend eine Anmerkung zum verstärkten Akzent auf die Verteidigungsunion im europäischen Elitendiskurs: Der geplante europäische Verteidigungsfonds von 20 Milliarden Euro, der einheitliche Markt für Rüstungsgüter und die Erhöhung der Rüstungsausgaben auf 2 % des Bruttoinlands-produkts der Mitgliedsstaaten stellen gigantische Gewinne der Rüstungskonzerne in Aussicht. Sie unterstreichen aber auch, dass die europäischen Eliten sich darauf vorbereiten, ihre geopolitischen Interessen auf konfrontative Weise zu vertreten.

Einen unverzichtbaren Bestandteil linker Europapolitik muss daher eine Abrüstungsagenda, insbesondere im nuklearen Bereich bilden. Dies kann nur dann gelingen, wenn Europa sich aus der immer riskanteren militärpolitischen Bindung an die USA und die NATO befreit und auf die Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit in Europa hinarbeitet. Das aber setzt auch eine Korrektur der herrschenden Sicht auf Europa voraus. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Europäische Union nicht identisch mit Europa ist, und es auf absehbare Zukunft nicht werden kann. Ein friedliches und wechselseitig vorteilhaftes Auskommen mit seiner näheren Nachbarschaft muss also eine Priorität der Politik bilden.


Walter Baier ist politischer Koordinator von transform! Europe - "Netzwerk für alternatives Denken und politischen Dialog" – Stiftung der Europäischen Linken

isw report111Der Text wurde dem isw-report 111 "Die Zukunft Europas – Ohne demokratische Erneuerung hat es keine" (Nov. 2017) entnommen

Außerdem in diesem Heft

  • Erhard Crome: Deutschland und Europa im globalen Machtgeflecht
  • Conrad Schuhler: Transatlantische Partnerschaft – „kooperativer Imperialismus“ oder aufplatzende Widersprüche?

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