Analysen

Krise 126.10.2018: Die türkische Lira liegt nahezu 40 Prozent unter dem Wert vom Vorjahr. Die Analysten der Commerzbank rechnen damit, dass sie in den kommenden Monaten noch weiter abstürzen wird. Die Inflation ist im September auf einen Rekordwert von 24 Prozent geklettert. "Unternehmen und Haushalte befinden sich in einem Teufelskreis aus Schulden- und Zinssatz und haben einen Punkt erreicht an dem er zu Konkurs und Arbeitslosigkeit führen kann", sagte kürzlich der Präsident des türkischen Unternehmerverbandes(Türkonfed) Orhan Turan. Axel Gehring analysiert die wirtschaftlichen Probleme der Türkei.

 

 

Auf dem Weg zum IWF? Währungscrash in der Türkei

Nach jahrelangen Kursverlusten, die sich im Laufe dieses Jahres deutlich beschleunigten, befindet sich die Türkei – spätestens seit dem Währungseinbruch auf 4,90 Lira pro US-Dollar im Mai – in einer manifesten Wirtschaftskrise. Bereits damals wurde das baldige Umschlagen der Währungskrise in eine Schuldenkrise erwartet. Einzige Voraussetzung dafür war ein weiterer Kursverlust der Türkischen Lira. Die Versuche der AKP-Regierung Alternativen zu einem IWF-Programm zu finden, verlaufen derweil ernüchternd.

Für die Regierung kam das Ereignis zur Unzeit, hatte sie doch die Wahlen vorgezogen, um der lang erwarteten schweren Wirtschaftskrise gerade noch rechtzeitig zu entkommen. Abgesehen von zwei Zinserhöhungen, die die Zentralbankbürokratie dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan abrang, um einen weiteren Kursabsturz zu verhindern, verzichtete die Regierung auf einen Kurswechsel in ihrer Wirtschaftspolitik hin zu neoliberaler Strukturanpassung. Dieser Schwenk wäre mit staatlichen Ausgabenkürzungen und vor allem einer Stärkung ‚unabhängiger’ Regulierungsagenturen verbunden, die darüber wachen, dass die türkische Wirtschafts- und Finanzpolitik unter möglichst geringer politischer Einflussnahme und frei von Legitimationsdruck gegenüber der breiten Bevölkerung walten kann. So soll ein stabiles – weil absehbares – Umfeld für internationale Investitionen geschaffen werden, das wesentlich durch einen ausgeglichenen Staatshaushalt und hohe Zinsen sowie Privatisierungspolitiken gekennzeichnet ist.

Vor den Wahlen am 24. Juni hatte niemand ernsthaft mit einem Schwenk in diese Richtung gerechnet, denn der wäre unter der Bevölkerung verständlicherweise äußerst unpopulär. Sie hätte die Kosten dafür zu tragen. Nach den Wahlen rechneten aber viele Beobachterinnen genau damit. Stattdessen blieb der Schwenk aus und Erdoğan band Mitte Juli durch Dekrete die Zentralbank sogar noch enger an sich und seine Gefolgsleute. Die Ernennung seines Schwiegersohns Berat Albayrak zum Finanzminister verschärfte Mitte Juli die Talfahrt der Lira. Es zeichnete sich deutlich ab, dass Erdoğan an der orthodox-neoliberalen Regulierung der Krise kein Interesse hatte. Diese Regulierung beinhaltet für gewöhnlich ein sogenanntes Standby-Abkommen, das der Türkei Kredite des Internationalen Währungsfonds gewährt. Spekulative Attacken auf die Währung können dadurch abgewehrt und akute Zahlungsprobleme vermieden werden. Im Austausch muss sich die Türkei allerdings zur Implementierung orthodox-neoliberaler Politiken verpflichten. Die türkische Regierung verzichtete aber darauf und die Lira geriet weiter unter Druck. Streitigkeiten um die Inhaftierung US-amerikanischer Staatsbürger belasteten den Kurs der Lira weiter, doch die türkische Regierung blieb unnachgiebig.

Lira auf Talfahrt

Schließlich erhöhte US-Präsident Donald Trump den Druck auf die Türkei, indem er am 10. August die Einfuhrzölle auf Stahl und Aluminium aus der Türkei verdoppelte. In der Folge brach die Lira gegenüber dem US-Dollar am gleichen Tag um über 15 Prozent ein. 6,40 Lira waren nun für einen US-Dollar zu zahlen und bereits am 13. August wurde die 7-Lira-Marke durchbrochen. Der Wechselkurs hat nun ein Niveau erreicht, bei dem zahlreiche Unternehmen nicht mehr in der Lage sind, ihre Dollar- und Euro-Schulden zu begleichen beziehungsweise neue Kredite aufzunehmen. Obgleich der türkische Staat (offiziell) vergleichsweise gering verschuldet ist, muss er inzwischen über 20 Prozent Zinsen auf neue Staatsanleihen zahlen – etwa so viel, wie das weit höher verschuldete Griechenland auf dem Höhepunkte seiner Krise entrichten musste. Selbst ein Staatsbankrott der Türkei wird unter diesen Bedingungen für möglich gehalten.

Zahlreiche Beobachterinnen rätseln darüber, warum die türkische Regierung diese Eskalation der Krise so leichtfertig riskierte – schließlich hat sie doch erst jüngst die Wahlen für sich entschieden und könnte nun mit frischem Mandat und umfangreichen präsidialen Vollmachten auch einen harten Sparkurs durchsetzen und sich so für ein Standby-Abkommen qualifizieren. Und gerade liberale Stimmen hatten darauf gehofft, die Märkte würden Erdoğan schon disziplinieren und seinen Despotismus in die Schranken verweisen. Das aber ist bislang nicht geschehen. Und vor allem stellt sich die Frage, warum die türkische Regierung nach den Wahlen einen derart harten Konfrontationskurs gefahren hat, denn sie wusste von der Tiefe der Wirtschaftskrise.

Liberale liegen durchaus richtig, wenn sie vermuten, dass Erdoğan im Falle eines Standby-Abkommens mit dem IWF einen Machtverlust befürchtet. Denn tatsächlich gewinnen technokratisch handelnde Finanzinstitutionen dann wieder mehr Einfluss auf die Politik in der Türkei.

Wie es dazu kam

Bis zur 2007 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise hatte die AKP-Regierung selbst einen überwiegend orthodox-neoliberalen Kurs verfolgt und bis 2008 sogar als neoliberale Musterschülerin Standby-Abkommen umgesetzt. Unter den Bedingungen reichlich vorhandener globaler Liquidität konnte sie ein hohes Wirtschaftswachstum erzielen – vor allem dank internationaler Investitionen, die durch umfangreiche Privatisierungen angezogen wurden. Das EU-Beitritts-Projekt sicherte den Kurs der Neoliberalisierung politisch ab und trug mit zum Ansehen der AKP als Kraft der Demokratisierung bei.

Währenddessen wurden in den Jahren des Wachstums zentrale Schwächen der türkischen Ökonomie nicht überwunden: Das von Konsum und Bauindustrie getragene Wachstum änderte an der geringen Fertigungstiefe der türkischen Industrie wenig und so musste das Land weiterhin mehr importieren als es produzierte. Die Folge waren hohe strukturelle Leistungsbilanzdefizite. Dabei galt die Gleichung: je höher das Wirtschaftswachstum, desto höher die Defizite. Dies ist die wesentliche Ursache für die extrem investorenfreundliche Politik der AKP, denn nur Kapitalzuflüsse können Defizite schließen.

Mit der Weltwirtschaftskrise ab 2007 flossen die Investitionen nicht mehr wie von selbst in die Türkei, zugleich geriet das Land damals nicht in eine ernste Krise wie zahlreiche andere mediterrane Staaten. Die AKP-Regierung erkannte sogar den Handlungsspielraum, auf weitere unpopuläre und tendenziell deflationär wirkende Standby-Abkommen mit dem IWF zu verzichten – und die ökonomischen Klauseln der Verträge mit der EU schienen als Neoliberalisierungsanker zu reichen.

Alternative von rechts

2008 hatte sich die AKP primär am orthodox-neoliberalen Paradigma, das mit dem IWF vereinbarten Strukturanpassungspolitiken zusammenging, orientiert. Demnach sollten durch eine ‚solide’ und an Geldwertstabilität orientierte Finanz- und Geldpolitik Investitionen ins Land gelockt werden. Die unabhängige Zentralbank, die eine Politik der hohen Zinsen verfolgte, spielte hier eine wichtige Rolle. Unter den Bedingungen der lahmenden neoliberalen Expansion waren fortan stärker expansive Politiken gefragt. Die Regierung spielte eine immer größere Rolle darin, die nachlassende Profitabilität der Privatwirtschaft durch die forcierte Entwicklung von Großprojekten und eine expansive Geldpolitik zu unterstützen. Sowohl die Widerstände der (orthodox-neoliberalen) Fachbürokratien als auch der breiten Bevölkerung dagegen wurden repressiv gebrochen.

Die AKP entwickelte eine Alternative von rechts zum Neoliberalismus á la IWF. Der Aufstieg des expansiv-neoliberalen Paradigmas war eng mit Zentralisation der politischen Macht unter Recep Tayyip Erdoğan verbunden, der ein populistisches Gegengewicht zur kalten ökonomischen Rationalität der offiziellen Fachbürokratie in den Ministerien und den ‚unabhängigen’ Regulierungsagenturen wie der Zentralbank darstellte. Expansive AKP-Politik sollte daher auch nicht als eine emanzipatorische Alternative zum austeritätsfixierten Neoliberalismus orthodoxer Prägung verstanden werden. Dies liegt nicht nur an autoritären Tendenzen, die sie befördert und die sich in der Türkei längst in Form einer offenen Diktatur materialisiert haben, sondern ist ebenso unmittelbar klassenpolitisch begründet.

Die expansiv-neoliberalen AKP-Politiken gehen schon seit etwa 2011 mit einem deutlich sinkenden Wechselkurs und wachsenden inflationären Tendenzen einher. Diese werden von ihren Verfechterinnen bewusst in Kauf genommen, um den Akkumulationsprozess aufrecht zu erhalten. Regierungsnahe Unternehmen, zum Beispiel in der Bauindustrie, konnten davon stärker profitieren als zum Beispiel die großen türkischen Holdingunternehmen, die eine große Rolle spielen und tiefer in den internationalen Kapitalkreislauf integriert sind. Vor allem aber leiden darunter schon seit Jahren jene Teile der lohnarbeitenden Bevölkerung, die vor dem Hintergrund einer hohen Arbeitslosigkeit und einer repressiven Gewerkschaftsgesetzgebung kaum höhere Reallöhne für sich erstreiten können, während die Preise steigen. Das expansiv-neoliberale Paradigma stabilisiert also den Akkumulationsprozess des türkischen Kapitals indem es – vermittelt über den Weg der Inflation – die Risiken der einzelnen Unternehmen sozialisiert, also auf die Bevölkerung umlegt. Die systemimmanente Alternative wären stark deflationär wirkende orthodox-neoliberale Politiken gewesen, sie hätten den Wechselkurs der Lira weniger belastet, aber das Wachstum reduziert.

Die Bevölkerung zahlt

Populistisch-expansiver und orthodoxer Neoliberalismus stehen für zwei konkurrierende Paradigmen der Ausbeutung der lohnarbeitenden Bevölkerung. Orthodoxer Neoliberalismus ist für die AKP weniger attraktiv, denn in einem solchen Falle wird sie politisch unmittelbar mit den Sparpolitiken identifiziert.

Es ist daher falsch zu sagen, dass mit dem jetzigen Währungskollaps von nun an die breite Bevölkerung den Preis für die Wirtschaftspolitik entrichten muss. Sie entrichtet ihn schon seit Jahren, auch deshalb steigt die Verschuldung der Privathaushalte im Land kontinuierlich. Allerdings wird sich ihre Lage nun weiter verschlechtern.

Für die ökonomischen Eliten des Landes markiert der Währungscrash hingegen jenen Umschlagspunkt, an dem die quantitativen Belastungen durch sinkende Wechselkurse eine neue Qualität erreichen: Der in den letzten Monaten rasant abgestürzte Wechselkurs gefährdet ihre Refinanzierung auf den internationalen Kapitalmärkten. Bereits seit Monaten rollt eine Insolvenzwelle übers Land.

Während die größten Holding-Unternehmen des Landes schon seit Jahren für eine verschärfte Bekämpfung der Inflation und bessere Beziehungen zum Westen eintreten, meiden sie unter den Bedingungen einer Diktatur allzu offene Kritik an der Regierung. Während überhaupt nur noch wenige regierungsnahe Unternehmen vom populistisch-expansiven neoliberalen Paradigma profitieren, versucht die Regierung Erdoğan eben jenes verzweifelt beizubehalten.

Dies wird ihr kaum noch gelingen, denn inzwischen droht die Internationalisierung der Krise. Die Türkei ist mit über 200 Milliarden US-Dollar im Ausland verschuldet. Spanische Banken halten davon über 80 Milliarden und französische über 30 Milliarden. Auffällig ist in diesem Kontext insbesondere das starke Anwachsen der Kreditvergabe mit Beginn der Schuldenkrise in den mediterranen EU-Staaten ab Ende 2010. Zudem bestehen zum Teil beträchtliche Kapitalverflechtungen zwischen europäischen und türkischen Banken. Wurden die Unterdrückung der türkischen Opposition und der Krieg im kurdischen Raum sowie die militärische Aggression der Türkei nach außen von den europäischen Regierungen toleriert, so hat die AKP inzwischen wohl die rote Linie überschritten, denn ihre Politik kann die noch immer nicht wirklich überwundene Eurokrise neu anheizen. Der Druck auf die AKP ein Standby-Abkommen mit dem IWF zu schließen, würde wachsen. Das zeichnete sich übrigens schon seit Ende Mai ab. Um dem zu entkommen hatte die Türkische Zentralbank schon Ende Mai die Zinsen erhöht, eine weitere Zinserhöhung kam im September. Sie konnte den Wechselkurs zeitweilig leicht stabilisieren, Zinssätze von 25 Prozent treffen aber kleinere Unternehmen und die breite Bevölkerung hart. Zudem blieb die Erholung des Wechselkurses überschaubar. Das hohe inländische Zinsniveau und eine zeitgleich schwache Währung verstärken sich nun gar gegenseitig in ihrer deflationären Wirkung und die Zahl der Konkurse mehr mehrt sich.

Der jüngste Staatsbesuch in Deutschland – eine Station auf dem Weg zum IWF?

Die Krise der Türkischen Lira bedeutet nicht nur eine Verschärfung für die vielfach gebeutelte Bevölkerung und eine Belastung für die – trotz sprachlicher Zurückhaltung führender Unternehmensverbände – hochgradig angespannten Beziehungen zwischen türkischer Regierung und Bourgeoisie: Ebenso legt sie die Achillesferse der gegenwärtigen europäischen Krisenregulierung offen: Aufgrund niedriger Zinsen und „realwirtschaftlicher“ Verwertungsprobleme in Folge der europäischen Austeritätspolitiken hatte sich europäisches Kapital in der Türkei einen alternativen Anlageraum gesucht, der nun kollabiert.

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Effektive Krisenregulierung kann daher als Ziel europäischer Politik in diesen Wochen ausgemacht werden. Konkret geht es um die Begrenzung der weiteren Abwärtsbewegung der Lira, die das Problem der privaten Auslandsverschuldung verschärft und zahlreiche Unternehmen in die Pleite treibt. So kann letztlich die Zahl fauler Kredite türkischer Banken auf ein Minimum begrenzt werden werden beziehungsweise die Konkurswelle über einen längeren Zeitraum gestreckt werden, um sie regulierten Bahnen zu halten. Die scheint bitter nötig, denn schon jetzt sinken die Ratings türkischer Banken. Doch es unter den Eliten umstritten, was effektive Krisenregulierung konkret bedeutet. Die AKP bemüht sich auf bilateraler Ebene um Direktinvestitionen. Der Gang zum IWF soll so vermieden werden, denn die investierten Milliarden sollen einerseits der konkreten Umschuldung notleidender Großprojekte dienen. Anderseits sollen die Geldzuflüsse ganz allgemein den Wechselkurs wieder anheben und so die Tilgungslast der Fremdwährungskredite reduzieren. Vor allem Qatar unterstützte bislang diesen Kurs durch Investitionszusagen. Zusagen aus Russland und China entsprachen nicht den türkischen Erwartungen. Auch vom jüngsten Staatsbesuch in Deutschland kam der türkische Präsident mit fast leeren Händen zurück.

Es scheint so, als würde die Bundesregierung mit ihrer kalten Abfuhr gegenüber der türkischen Regierung die Verschärfung der türkischen Krise geradezu mutwillig in Kauf nehmen und so ihre Ausweitung nach Europa riskieren. Allerdings ist die Türkei schlicht eine zu große Ökonomie, um im Falle einer weiteren Kriseneskalation überhaupt noch mit bilateralen Instrumenten bearbeitet zu werden. Für Fälle, wie die Türkei, stellt innerhalb der globalen neoliberalen Finanzordnung schlicht der IWF das Instrument der Wahl dar. Seine Kombination aus Strukturanpassung für Kreditzusagen stellt das mit Abstand effektivste Instrument dar, die externe Abwertung (Wechselkursverfall) in eine interne Abwertung (Sparprogramm) zu transformieren und so das Geld der europäischen Banken zu retten, dass von einer externen Abwertung stärker bedroht ist, als von einer internen. Es besteht daher seitens der Bundesregierung kein Interesse daran, der Türkei Alternativen zum IWF zu bieten. Auch deshalb ist die Türkei beim jüngsten Staatsbesuch in Berlin aufgelaufen.

 

In seiner ursprünglichen Fassung ist dieser Artikel am 15. August im ada Magazin erschienen.  Wir danken für die Erlaubnis ihn in einer zweiten, um die Entwicklungen der letzten Wochen aktualisierten, Fassung veröffentlichen zu dürfen.