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Libanon Beirut 2020 08 08 2von Omar Deeb, Verantwortlicher für internationale Beziehungen der Libanesischen Kommunistischen Partei    

11.08.2020: Gestern (10.8.) hat der libanesische Ministerpräsident Hassan Diab den Rücktritt seiner gesamten Regierung erklärt. Damit gibt der Regierungschef dem Druck der Bevölkerung nach, die zu Massen auf den Straßen ist. Sie machen die Regierung für die katastrophale Detonation im Hafen von Beirut verantwortlich, mit mindestens 160 Toten und mehr als 6.000 Verletzten. Doch diese Katastrophe ist nur der Auslöser: Das Land ist bereits vorher wirtschaftlich zusammengebrochen und befindet sich seit langem in politischer Stagnation. Omar Deeb befasste sich bereits Ende Juni in einem Artikel mit den Ursachen der Krise und möglichen Lösungswegen:

 

Libanon Omar DeebIm Libanon kommt es zu einer Häufung von Krisen. Die Menschen fragen sich satirisch, was die nächste Apokalypse sein wird, die das Land nach allem, was es in den letzten Monaten erlebt hat, bevorsteht.

Der unvermeidliche wirtschaftliche Zusammenbruch hat sich seit mehreren Jahren immer weiter beschleunigt.

Eine Rentierwirtschaft, der es an Produktion mangelt und die nach Überweisungen, Bankeinlagen und Kredite jagt, um zu überleben, ist nicht nachhaltig - wie linke Kräfte gewarnt haben und wie die bittere Realität jetzt zeigt.

Nach der Anhäufung historisch beispielloser Schulden im Verhältnis zum BIP ist die Regierung im März 2020 zahlungsunfähig geworden. Die Währung wurde in den vergangenen sechs Monaten um fast 300 Prozent abgewertet und fiel von 1.500 Lira gegenüber dem US-Dollar auf etwa 4.400 Lira. Bei einer Wirtschaft, die die meisten grundlegenden Güter importiert, führte dies zu einer enormen Preisinflation und einer Halbierung der Kaufkraft der lokalen Löhne.

Das Land befindet sich seit langem in politischer Stagnation. Das konfessionelle politische System hat zu einem korrupten Klientelismus geführt, bei dem jeder Arbeitsplatz, jeder öffentliche Dienst und jeder Anspruch auf Sozialleistungen von lokalen Religionsführern abhängig ist, und die sie über ihre Strukturen verteilen und sich als Gegenleistung Loyalität erkaufen.

Doch schon vor der aktuellen Krise wandte sich ein wachsender Teil der libanesischen Bevölkerung gegen dieses religiös-konfessionelle System. In den letzten Jahren beteiligten sich immer mehr Menschen an den von linken, demokratischen und sozialen Organisationen sowie von Gewerkschaften organisierten Protesten. In den Jahren 2018 und 2019 organisierten linke und säkulare Kräfte eine nationale Kampagne unter dem Motto "Gemeinsam retten wir unser Land durch politischen Wandel", die Zehntausende von Menschen mobilisierte.

Libanon Demo 2019 10Im Oktober 2019 wurden die Straßen aller größeren Städte vom größten Volksaufstand in der Geschichte des Libanon überflutet. Etwa ein Drittel der vier Millionen Menschen im Libanon beteiligte sich aktiv an Protesten gegen das konfessionelle politische System und gegen die Besteuerung der Arbeiterklasse. Sie forderten einen radikalen politischen Wandel: ein säkulares System in Verbindung mit einer neuen Wirtschaftspolitik, die die Einkommen umverteilt und die reichsten 1 Prozent zwingt, für den wirtschaftlichen Zusammenbruch zu zahlen.

Der Aufstand wurde mehrfach von regierungsfreundlichen Gruppen und paramilitärischen Kräften angegriffen, die mit den religiösen Parteien in Verbindung stehen. Dennoch hielten die massiven Mobilisierungen bis Anfang 2020 an.

Nur der Ausbruch der Corona-Pandemie rettete die Regierung und stoppte den Volksaufstand.

Die im Februar gebildete neue Regierung ging mit der Infektion ein »Bündnis« ein. Die Menschen waren gezwungen, in ihren Häusern zu bleiben, und die Maßnahmen zur sozialen Distanzierung und zur Eindämmung der Pandemie boten den herrschenden Kräften die Gelegenheit, sich neu zu organisieren und die Initiative zu ergreifen.

Die amtierende Regierung unter Führung des neuen Premierministers Hassan Diab gab eine lange Liste von Versprechungen ab und behauptete sogar, dass sie den materiellen Forderungen des Volksaufstandes nachkommen würde. In ihrer ersten Erklärung rief sie zu Wirtschaftsreformen auf, die die Zentral- und die Privatbanken zwingen würden, sich an den Kosten der Krise zu beteiligen. Doch es wurden keine konkreten Maßnahmen ergriffen.

Nach der Ausbreitung des Coronavirus forderte die Linke die Regierung auf, ein Soforthilfepaket für Arbeiter*innen und Arbeitslose bereitzustellen und mit einem vorgeschlagenen Budget von 1,2 Milliarden Dollar, das 1,6 Prozent des BIP entspricht, eine universelle Krankenversicherung für alle zu gewährleisten.

Die Antwort der Regierung war minimal: ein kleines Hilfsprogramm in Höhe von 50 Millionen Dollar oder 0,1 Prozent des BIP. Selbst dieser Kleinstbetrag wurde über die üblichen Kanäle der Korruption und des Klientelismus bereitgestellt.

Infolge des wirtschaftlichen shutdown sind die Arbeiterklasse und große Teile der Mittelschicht unmittelbar von Armut betroffen. Durch die Abwertung werden Nahrungsmittel und Güter des Grundbedarfs zunehmend unbezahlbar - neuere Studien stufen etwa die Hälfte der Bevölkerung als unterhalb der Armutsgrenze liegend ein.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Devisenreserven nur ausreichen, um die Importe einiger Monate zu decken, und dass das Land mit einer tatsächlichen Nahrungsmittelknappheit konfrontiert ist.

Die Regierung hat keines ihrer Versprechen eingelöst und bemüht sich nun um mehr Kredite beim Internationalen Währungsfonds (IWF) als einzige Möglichkeit um Devisenreserven zu erhalten.

Unnötig zu erwähnen, dass der IWF einen Forderungskatalog aufstellt, der die Privatisierung der öffentlichen Unternehmen (Elektrizität, Telekommunikation, Wasser), die Streichung der staatlichen Subventionen für lebensnotwendige Güter (Weizen, Medizin), die "Reform" der Rentensysteme durch Senkung der Renten und den Abbau des öffentlichen Sektors umfasst.

Darüber hinaus hat das US-Außenministerium seine eigenen politischen Bedingungen für die Unterstützung im IWF-Exekutivdirektorium angekündigt. Diese sehen vor, dass der Libanon die US-Sanktionen gegen Syrien anwendet und die Grenze zu Syrien abriegelt. Außerdem sollen die Südgrenzen des Libanon neu definiert werden, so dass die israelischen maritimen Ansprüche auf Offshore-Gas befriedigt werden.

Diese wirtschaftlichen und politischen Bedingungen erfordern eine vollständige Kapitulation vor den Interessen des Großkapitals und den geopolitischen Interessen Israels und der von den USA geführten imperialistischen Kräfte.

Dies wäre wirtschaftlicher und politischer Selbstmord für die arbeitenden und einkommensschwachen Klassen im Libanon sowie für die Souveränität des Landes.

Unsere Regierung hat nichts aus den neoliberalen Rezepten des IWF für Lateinamerika und in jüngster Zeit für Ägypten und Griechenland gelernt.

Die Libanesische Kommunistische Partei (LCP) hat einen Alternativplan vorgeschlagen.
Die LCP ist gegen die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen. Ein öffentlicher Sektor, der sich auf das Gemeingut stützt, erbringt Dienstleistungen weitaus billiger, wenn er keine privaten Gewinne erwirtschaften muss.

Stattdessen fordern die libanesische Kommunist*innen neue und höhere Steuern auf Einkommen und Vermögen, auf Finanzdienstleistungsunternehmen, Bankeinlagen, Einzelpersonen mit einem Nettovermögen von über 500.000 Dollar, Vermögenserbschaften, Gewinne aus Immobiliendienstleistungen und die Aufhebung von Steuerbefreiungen für Holdinggesellschaften.

Die LCP argumentiert, dass dies dem öffentlichen Sektor ein von den Märkten unabhängiges Instrument gibt, um einen Teil des kapitalistischen Mehrwerts in den Wiederaufbau der Infrastruktur in den Bereichen Elektrizität, Straßen, Wasser und Kommunikation zu transferieren, zusätzlich zur Erhaltung der natürlichen Umwelt und zur Unterstützung der produktiven Sektoren. Die "Ausbeutung" der Rentensektoren, um dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem "sozialistische Elemente" einzuflößen, ist der einzig mögliche Weg, um ein dynamisches, produktives und modernes Wirtschaftsmodell aufzubauen und aufrechtzuerhalten, das den Interessen der Mehrheit des libanesischen Volkes dienen kann.

Die kommenden Monate werden für das Land entscheidend sein und seine Zukunft bestimmen

Die Regierung kann die Bedrohung durch die extreme Armut nutzen, um das libanesische Volk im Interesse des Kapitals als Geisel zu nehmen.

Alternativ kann die Bevölkerung für eine neue »Regierung der Rettung« kämpfen, um tief greifende Reformen durchzusetzen, die im Interesse der arbeitenden Bevölkerung und der Menschen mit niedrigem Einkommen liegen und das Land auf Produktion, Umverteilung des Reichtums, Säkularismus und sozialen Fortschritt neu auszurichten.

Der Artikel ist am 30. Juni im britischen Morning Star mit dem Titel "Das gescheiterte System des Libanon droht nun mit Nahrungsmittelknappheit" veröffentlicht worden.

eigene Übersetzung


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