Aus Bewegungen und Parteien

isw forum2018 109.05.2018: Zufall oder geplant - auf jeden Fall passend. Am 5. Mai, dem 200 Geburtstag von Karl Marx, fand im Münchner Gewerkschaftshaus das 26. isw-Forum statt. "Wir vom isw stehen in der Tradition von Karl Marx", bekräftigte Sonja Schmid, Vorsitzende des isw, in ihrer Begrüßung. Marx habe der Sehnsucht nach Befreiung eine Theorie und ein Ziel gegeben, so Sonja Schmid: "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". Doch es steht nicht gut um diese Sache. Dies wurde im Beitrag von Walter Baier, Koordinator von transform! europe, einem europaweiten Netzwerk linker Institute, deutlich. 

 

Krise der europäischen Integration. Wo bleibt die Linke?

Walter Baier iswforum2018Walter Baier beschäftigte sich mit der Frage "Krise der europäischen Integration: Risiko und Chance für die Linke". Die europäische Integration befinde sich in einer tiefen Krise, so Baier. Trotz Wirtschaftswachstums zeigten alle relevanten Kennzahlen – Arbeitslosenrate, Prekarität, Armut trotz Arbeit u.a. – , dass sich die soziale Lage in der EU und in der Eurogruppe im Vergleich der Vorkrisenzeit noch immer nicht erholt hat. Vor allem hätten sich die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten im Verlauf der Krise und danach deutlich akzentuiert, was sich als eine der ernsten Hypotheken auf die Zukunft der europäischen Integration erweisen werde. Dabei seien Gewinner und Verlierer der Krise deutlich auszumachen. Baier konstatierte eine wachsende Kluft zwischen reichen und armen EU-Ländern, zwischen West und Ost, und Nord und Süd innerhalb der EU sowie zwischen Oben und Unten in den einzelnen Ländern. Dazu kämen die noch nicht absehbaren Auswirkungen politischer wie wirtschaftlicher Krisen - Brexit, Handelskrieg USA-China, Konflikt USA-Iran, … - auf die EU.

Doch anstatt die krisenverschärfende Austeritätspolitik zu beenden setzen die Vorschläge von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und des französische Präsidenten Emmanuel Macron nur darauf, die neoliberale Struktur der EU widerstandsfähiger zu machen. Zwar werde der Eindruck erweckt, es würde in Alternativen gedacht, doch in Wirklichkeit werde der Vorrang von Wettbewerbsfähigkeit und Geldwertstabilität, also die neoliberale Grundausrichtung der Integration, nicht in Frage gestellt. So werde sich die Krise der europäischen Integration weiter verstärken.

mehr zum Thema
Der linke Weg zu einem demokratischen Europa

Europe ... what’s left? Strategies after the Coup

The Party of the European Left, DiEM25 and
the Transnational Campaign of Jean-Luc Mélenchon
towards the European Elections in 2019

Baier warnte davor, die von der extremen Rechten ausgehende Gefahr zu unterschätzen. Zwar hätten Front National (Frankreich) und die Partij voor de Vrijheid (Niederlanden) im Jahr 2017 nicht die befürchteten Erfolge erzielen können, aber dies könne nur als ein Moment der Atempause beschrieben werden. Denn zu diesem Bild gehöre, dass sich Europas rechtsextreme Parteien auf einem in der Nachkriegsgeschichte bisher nicht gekannten Niveau politisch etabliert haben. Über 17,5 Mio. Wähler*innen stimmten im Jahr 2017 bei Wahlen für Parteien der extremen Rechten. Eine Steigerung um 160 Prozent (6,836.000 auf 17,785.921 Stimmen). Schon bei der Europawahl 2014 war der Anteil von Abgeordneten der extremen Rechten von 11 auf 22 Prozent gestiegen.

Der Aufstieg der extremen, populistischen Rechten in zahlreichen Ländern Europas verweise darauf, dass zur politischen Krise Europas auch eine Krise der nationalen Beziehungen gehört. Eine zentrale Quelle des Nationalismus sei die undemokratische, hierarchische Struktur der EU. Spätestens mit der Niederlage von Syriza wurde deutlich, dass die EU keine Mechanismen hat, um Gegensätze und nationale Widersprüche demokratisch zu bearbeiten, so Walter Baier. Baier: "Europa kann nicht funktionieren, wenn 62 Prozent der Bevölkerung Griechenlands in einem Referendum die Austerität ablehnen und die EU zwingt Griechenland dann erst recht ein knallhartes Kürzungsprogramm auf." Eine der Antworten werde dann von der extremen Rechten gegeben, die wie z.B. Victor Orban in Ungarn die europäische Flüchtlingspolitik ignoriert.

"Die Frage, wie 500 Mio. Europäer*innen mit 2,5 Mio. Flüchtlingen auskommen, stellt das Problem auf den Kopf. Die Frage ist, wie 10 Mrd. Menschen mit diesen 500 Mio. in Europa auskommen."
Walter Baier
   

 
Baier schlussfolgerte, dass die demokratische Lösung nationaler Probleme, die Demokratisierung der EU, die Voraussetzung für die Vertretung der Interessen der arbeitenden Klasse bilde. Da sich Problem wie die Macht der Finanzmärkte - Baier: "in Wirklichkeit die Macht der Banken und Finanzinvestoren" -, Konkurrenz, Flucht, Umwelt, … nicht auf nationaler Ebenen lösen ließen, müsse die Linke nicht nur gemeinsam kämpfen, sondern auch europäische Regeln durchsetzen.

Doch die radikale Linke habe sich zwar von dem tiefen Einbruch nach 1989 etwas erholt, sei aber immer noch weit von der Stärke entfernt, die sie nach 1945 hatte. Im Wahlzyklus 2017/2018 habe die radikale Linke mit 10,5 Mio. Wähler*innen 19 Prozent dazu gewonnen, dies dürfe jedoch nicht über die Problem hinwegtäuschen.

Europa Wahlen Linke

Wahlergebnisse der Parteien der radikalen Linken

Zu der Schwäche der Parteien kämen divergierende Strategien hinzu. Während die extreme Rechte mit der "Charta der Fraktion Europa der Nationen und Freiheit" ein kohärentes, gemeinsames Programm habe, finde die radikale Linke keine gemeinsame Linie. Gegenwärtig stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber: Der "Plan B in Europa” von J. L. Mélenchon und das Projekt eines "New Deal for Europe" von Yannis Varoufakis' DiEM25. Die strategische Grundidee von DiEM25, den Kampf um einen European New Deal innerhalb der Verträge mit einer Strategie, die EU in etwas Neues zu transformieren, zu verbinden, steht im Gegensatz zur Strategie von Plan B, den Kampf um Reformen innerhalb der Verträge dazu zu benützen, die EU also solche zu sprengen.

Und trotzdem hält Walter Baier ein Zusammengehen zur Europawahl 2019 für möglich. Es liege in der Verantwortung der Partei der Europäischen Linken, Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, eine Konzeption des Bruchs mit der Austerität zu entwickeln und ein kohärentes Programm vorzuschlagen, das folgende Punkte beinhalten müsste:

  • soziale und ökologische Rekonstruktion Europas
  • Probleme der Jugend und der Prekarisierung
  • Opposition gegen die Militarisierung der EU
  • Zusammenarbeit der Linken
  • regionale Zusammenarbeit, v.a. Zusammenarbeit der Südländer der EU
  • radikale Demokratisierung der EU
  • Rechte der Flüchtlinge und Migrant*innen

 

Marga Ferré: Die Städte des Wandels und der Kampf um Demokratie

Marga Ferre iswforum2018Die Erfahrungen der "Städte des Wandels" standen im Zentrum des Beitrages von Marga Ferré. Marga Ferré ist Mitglied der Vorstandes der Vereinigten Linken Spaniens (Izquierda Unida), des Vorstandes der Partei der Europäischen Linken und von transform! europe.

Mit der Kommunalwahl 2015 habe sich die politische Landkarte Spaniens verändert, so Ferré. Mit der "Bewegung der Empörten" (Indignados) sei eine starke gesellschaftliche Bewegung entstanden, die das politische Klima verändert habe. Zu einem bestimmten Zeitpunkt habe die Bewegung begriffen, dass es nicht ausreicht, auf die Straße zu gehen, sondern dass die Bewegung auch die politischen Institutionen erobern muss. Dies sei der Zeitpunkt gewesen, an dem sich Podemos gründete und zu dem in hunderten spanischen Städten kommunale Plattformen entstanden, um die Rathäuser zu erobern.

Im Unterschied zu früher und zu den etablierten Parteien wurden die Kandidat*innen über Vorwahlen aufgestellt, an denen sich jede und jeder beteiligen konnte - sowohl als Kandidat*in wie auch als Wähler*in. Auf den Einwand aus dem Publikum, dass dies in Deutschland wegen der restriktiven Wahlgesetze nicht möglich sei, entgegnete Ferré, dass die Wahlgesetze in Spanien genauso restriktiv seien und es an der Kreativität der beteiligten Parteien - in Spanien im Wesentlichen Izquierda Unida und Podemos - liege, diese Hürden zu umgehen. Diese breite Beteiligungsmöglichkeit bei der Aufstellung der Kandidat*innen sei auf jeden Fall eine zentrale Voraussetzung für die Wahlerfolge dieser kommunalen Listen gewesen. Als Spitzenkandidat*innen wurden Menschenrechtsaktivist*innen wie in Madrid, Aktivist*innen der Bewegung gegen Zwangsräumungen wie in Barcelona, Intellektuelle etc. gewählt. Die Wahlprogramme waren das Ergebnis einer breiten Debatte an der Basis. Die Linke müsse radikaler und offener werden, schlussfolgerte Ferré.

"Die Linke muss radikaler und offener werden."
Marga Ferré
   


Im Ergebnis konnten bei der Kommunalwahl die Rathäuser großer Städte wie Madrid, Barcelona, Valencia, Zaragossa, … erobert werden. Die kommunalen Plattformen wie Ahora Madrid, Barcelona en Comú, Zaragoza en Común, Coalició Compromís in Valencia bilden in ihren Städten Minderheitsregierungen, die je nach Situation von der sozialdemokratischen PSOE oder regionalen Parteien unterstützt werden. In der kurzen Zeit seit Übernahme der kommunalen Regierungsverantwortung konnten Verbesserungen in Bereichen wie Wohnen, Partizipation, Rekommunalisierung kommunaler Dienste etc. erreicht. Zum Beispiel konnten in Madrid durch die Veränderung der kommunalen Steuern sowohl die Investitionen zu Gunsten der Bevölkerung erhöht wie auch die Verschuldung um 20 Prozent gesenkt werden.

Diese Erfolge riefen die Rechtskräfte um die regierende Partido Popular auf den Plan. So wurden die Finanzkompetenzen der Kommunen ebenso beschnitten wie kommunale Zuständigkeiten generell, um die Möglichkeiten der im Netzwerk "Städte des Wandels" zusammenarbeitenden progressiven Stadtregierungen einzuengen.

Zu diesen Angriffen der Rechten kämen aber auch selbstgemachte Probleme, sagte Marga Ferré. So sei es in vielen Städten nach der Wahl zu einem Abbrechen der Beziehungen mit den gesellschaftlichen Bewegungen gekommen; mit der starken Fokussierung auf Führungsfiguren bestehe die Gefahr der Personalisierung. Zudem würden die regierenden kommunalen Plattformen den üblichen Fehler der Linken an Regierungen machen: führende Aktivist*innen der gesellschaftlichen Bewegungen werden mit Regierungsämtern betraut und so die Bewegungen geschwächt.

Heute habe sich die politische Situation in Spanien aber schon wieder geändert, berichtete Ferré. Ein Erfolg wie 2015 sei heute nicht mehr möglich. Im Zusammenhang mit dem Katalonienkonflikt habe sich das ganze Land nach rechts verschoben, die politische Landschaft werde durch die Konfrontation von zwei Nationalismen geprägt. In Barcelona selbst werde alles überlagert durch die Frage der katalanischen Unabhängigkeit.

Im Ergebnis seien zwei starke rechte Parteien, die extrem neoliberalen Ciudadanos und die traditionelle Rechtspartei Partido Popular von Regierungschef Rajoy entstanden, und eine Linke, die zu schwach ist, um die Situation zu verändern. Die nationale Frage könnte nur durch Demokratisierung und eine föderale Struktur mit weitgehenden Autonomierechten gelöst werden. Aber gegenwärtig bestehe keine Aussicht auf diese Lösung, so dass der "Kampf der Fahnen" weitergehen werde, fürchtet Ferré. Izquierda Unida und Podemos arbeiten als Unidos Podemos zusammen und haben sich das Ziel gesetzt, stärkste Kraft im linken Lager - vor der PSOE - zu werden.

 

Selbstverwaltung und Gleichberechtigung in Rojava

Ibrahim Murad iswforum2018Ibrahim Murad, Europa-Vertreter der Demokratisch-Autonomen Selbstverwaltung in Nordsyrien/Rojava, referierte über das Konzept demokratischer Rätestrukturen im Aufbau der selbstverwalteten Gebiete. Bei der Selbstverwaltung gehe es um die Überwindung ethnischer, religiöser, geschlechtlicher Unterschiede bzw. Diskriminierungen und die gleichberechtigte Zusammenarbeit.

Die Existenz einer Gesellschaft sei an erster Stelle an die Freiheit und die Ethik gebunden, sagte Murad. Der Erhalt der Freiheit und Ethik wiederum werde durch die aktive politische Rolle der Gesellschaft aufrecht erhalten. Deshalb stehe die Politisierung der Bevölkerung ganz oben an, damit sie eine aktive Rolle in der politischen Gestaltung der Region einnehmen kann. Murad: "Die Politisierung einer Gesellschaft erfolgt über die kleinste Ebene der Organisation bis hin zum Rat/Parlament oder einem Kongress. Die kleinste Ebene ist die Kommune. Kommunen auf Ebene der Nachbarschaft, des Viertels, des Dorfes, der Bezirke und Regionen bilden die Basis der Massen für die Bildung von Parlamenten der Dörfer, Städte, Bezirke und Regionen. So wird das Parlament der Bundesräte auch durch die Repräsentanten all der vorher genannten Ebenen gestellt. Die Vollversammlung bzw. der Kongress stellt die höchste öffentliche Instanz dar, in der alle Forderungen und Bemühungen und Anliegen auf nationaler Ebene vereint werden."

"Die Konzeption der Selbstverwaltung beruht auf dem Prinzip der Brüderlichkeit der Völker, d.h. Emanzipation und Gleichberechtigung zwischen den Völkern und auch zwischen Mann und Frau. Die demokratische Selbstverwaltung innerhalb eines Landes, die nach dem Beispiel des Föderalismus geführt wird, harmoniert besser mit der Realität Syriens. Eine dezentrale Regierung stellt eine Alternative für das gescheiterte nationalistische und diktatorische Regierungssystem dar."
Ibrahim Murad
   


Die demokratische Selbstverwaltung arbeite an der Errichtung einer Wirtschaft, die sich an den dringlichsten Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert. Genossenschaften in allen Bereichen der Produktion werden den Platz der Wirtschaft einnehmen und der Mafiawirtschaft einiger machtvoller Reicher ein Ende setzen und die Fähigkeit des Landes entfalten, so Ibrahim Murad. Darüber hinaus soll auf ein Gleichgewicht zwischen Produktion und Umwelt z.B. bezüglich der Staudämme und der Rohstoffe geachtet werden. Murad: "Die kommunale Wirtschaft kann nichts gegen den schlechten Einfluss der globalen Monopolunternehmen tun, jedoch kann sie die Zerstörung der lokalen Wirtschaft begrenzen. D.h. nicht, dass die demokratische Selbstverwaltung die private Wirtschaft vernichtet, nein, es wird eine private Wirtschaft geben, die aber in Vereinbarung an die gesellschaftliche Wirtschaft angepasst wird."

Eine zukünftige Verfassung Syriens müsse die demokratische Selbstverwaltung Nordsyriens anerkennen, forderte Murad. Zudem sei die Selbstverwaltung nicht nur für Syrien geeignet die religiösen, ethnischen und nationalen Konflikte zu lösen, sondern könne ein Beispiel für die gesamte Region des Mittleren Ostens geben.

Hevala Zilan iswforum2018Hevala Zilan, Frauenvertreterin der Demokratischen Selbstverwaltung von Nordyrien/Rojava in Deutschland, beeindruckte durch ihre engagierte Darstellung der gesellschaftlichen Veränderungen. Frauen, die Hälfte der Menschheit, fordern ihre Rechte ein, alle Funktionen werden von einem Mann und einer Frau paritätisch besetzt. Aber auch im privaten Leben ändert sich die Rolle der Frau, so dass "mancher Mann lieber an die Front geht, als sich mit seiner Frau auseinander zu setzen", meinte Zilan.

Das 26. isw-Forum fand zu Recht am Tag des 200. Geburtstages von Karl Marx statt. Theorie und Erfahrungen des politischen Kampfes und der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wurden trotz aller sprachlichen Hürden - spanisch, englisch, arabisch, kurdisch, deutsch - zusammengebracht.


Besuchen Sie auch die Internetseite des isw: https://www.isw-muenchen.de/