Deutschland

SPD Zwergenaufstand22.01.2018: Das kurz aufflackernde Licht am Ende des Tunnels scheint für die SPD erloschen. Der SPD-Parteitag in Bonn hat am Sonntag (21.1.) mit einer Mehrheit von 362 der 642 Delegierten und Vorstandsmitglieder (56,4 Prozent) für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der Union gestimmt. 279 waren dagegen, einer enthielt sich. Die Koalitionsverhandlungen können damit in den nächsten Tagen beginnen und im besten Fall bereits im Februar abgeschlossen werden. Danach muss aber noch eine Hürde überwunden werden: Die gut 440.000 SPD-Mitglieder stimmen über den Koalitionsvertrag ab und haben damit das letzte Wort. Übrigens: Vor dem Parteitag war die Partei in Meinungsumfragen auf 18 Prozent potentielle Wählerstimmen abgesackt.

Schulz verspricht Nachverhandlungen

In seiner Rede auf dem Parteitag lockte Martin Schulz die Delegierten für den Fall von formellen Gesprächen mit der Union mit der Chance auf weitere Verhandlungserfolge der SPD. So seien seiner Auffassung nach unter anderem in der Gesundheitspolitik Ergänzungen des Sondierungspapiers nötig. "Wir werden konkrete Maßnahmen zum Abbau der Zwei-Klassen-Medizin verlangen – und wir werden sie durchsetzen", sagte er. Zudem müssten befristete Arbeitsverhältnisse künftig die Ausnahme sein. Als dritten Punkt versprach Schulz eine wirksame Härtefallregel für den Familiennachzug von Flüchtlingen.

Die Parteispitze hatte diese drei Forderungen in ihren Antrag für die Parteitagsabstimmung eingebaut. Damit gibt es reichlich Zündstoff für die Verhandlungen mit der Union, denn CDU und CSU sind strikt gegen grundsätzliche Änderungen der 28-seitigen Sondierungsvereinbarung, auf die sich beide Seiten am 12. Januar verständigt hatten. (Ein Blick in ausgewählte Sondierungsergebnisse)

CDU und CSU: keine Nachverhandlung!

Er lehne weitere Zugeständnisse in den Koalitionsverhandlungen ab, hatte Bayerns designierter Ministerpräsident Markus Söder (CSU) der SPD über Bild am Sonntag (14.1.2018) unmissverständlich mitgeteilt. Es gelte die einstimmig beschlossene Sondierungsvereinbarung, bei der auch die SPD viel erreicht habe, sagte er und forderte die Zustimmung der SPD-Basis.

Auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt forderte die SPD zu Geschlossenheit auf. SPD-Chef Martin Schulz solle die interne Kritik in der SPD beenden, sagte er. Schulz müsse jetzt zeigen, "dass die SPD ein verlässlicher Koalitionspartner sein kann und er den Zwergenaufstand in Griff bekommt".


Alexander Dobrinth"Martin Schulz muss jetzt zeigen, dass die SPD ein verlässlicher Koalitionspartner sein kann und er den Zwergenaufstand in den Griff bekommt."
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, Bild am Sonntag (14.1.2018)

 

CDU-Vize Thomas Strobl bekräftigte ebenfalls die Blockade gegenüber zusätzlichen Forderungen der SPD: "Die Union ist strikt dagegen, einzelne inhaltliche Punkte noch einmal aufzumachen: Das Sondierungspapier ist die Grundlage für alle weiteren Gespräche. Grundlegende Dinge, die da nicht drin stehen, kommen auch nicht in einen Koalitionsvertrag."

Vorsichtshalber hat der SPD-Parteitag denn auch nur beschlossen, "im Rahmen von Koalitionsverhandlungen die noch offenen Fragen zu klären" (Beschluss) - auf deutsch: sie werden sich bemühen.

Andrea Nahles: Die Bürger würden uns "den Vogel zeigen"

Entscheidend für den Sieg der GroKo-Anhänger war der Auftritt von SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles. In ihrer bekannt lockeren Art ("Ab morgen kriegen sie in die Fresse" kurz nach der Bundestagswahl in Richtung Union) sagte Andrea Nahles auf dem Parteitag: "Wir werden verhandeln, bis es quietscht auf der anderen Seite." Sie warnte vor einem Einbruch ihrer Partei bei einer Neuwahl und setzte sich vehement für Koalitionsverhandlungen mit der Union ein. Die Bürger würden der SPD einen Vogel zeigen und sagen, sie hätte doch das meiste durchsetzen können, wenn die SPD dann mit dem erreichten Sondierungsergebnis und weitergehenden Forderungen in eine Neuwahl ziehe, rief Nahles den Delegierten zu.


Andrea Nahles
  • "Aber ab morgen kriegen sie in die Fresse." (27. Sept. 2018)
  • "Wir haben ein gutes Ergebnis erzielt" (15. Januar 2018)
  • "Da wird jetzt ein Ergebnis schlechtgeredet von einigen, die, egal was wir rausverhandelt hätten, gegen die GroKo sind" (15. Januar 2018)
  • "Wir werden verhandeln, bis es quietscht auf der anderen Seite." (21. Januar 2018)

 

Franz Müntefering: bei Ablehnung "Einstieg zum Abstieg in die Bedeutungslosigkeit der Sozialdemokraten"

Vor dem SPD-Parteitag, der über den Einstieg in die Koalitionsverhandlungen zur Merkel-GroKo in der dritten Auflage entschied, fehlte es nicht an wohlmeinenden Empfehlungen prominenter Sozialdemokraten.

So beschwor z.B. Franz Müntefering im "Berliner Tagesspiegel" die zum Sonderparteitag eilenden Genossinnen und Genossen, mit der Ablehnung des Verhandlungsergebnisses der Sondierungsgespräche würden sie "den Einstieg zum Abstieg in die Bedeutungslosigkeit der Sozialdemokraten" einläuten. Wohlweislich verschweigend, dass er in seinen Funktionen als Minister, Vizekanzler, Fraktionsvorsitzender und Parteivorsitzender der SPD neben Gerhard Schröder wesentlich verantwortlich für den Verlust von zehn Millionen Wählern und für den Absturz dieser Partei von 40,9 % im Jahre 1998 auf 20,5 % im Jahre 2017 war. Die Zahl der SPD-Mitglieder ging im gleichen Zeitraum von 950.000 auf 443.000 Mitglieder Ende November 2017 zurück.

Ursula Engelen-Kefer: "In einer GroKo wird die SPD die sozialen Defizite nicht weiter angehen können"

Ursula Engelen-Kefer, ehemalige stellvertretende DGB-Vorsitzende und Mitglied im Vorstand der SPD, schrieb im "Neuen Deutschland": "Vordergründig geht es bei dem GroKo-Streit in der SPD um das Sondierungsergebnis, in Wirklichkeit aber um die Glaubwürdigkeit ihrer Spitze. Vor allem hat sie mit der Riester-Rente, den Hartz-Gesetzen und der Agendapolitik einen Großteil der sozialen Ungerechtigkeiten selbst verursacht. Diese sind bis heute trotz mehrfacher GroKo-Beteiligung nur unzureichend korrigiert. Die bitteren Konsequenzen für Millionen Arbeitnehmer sind prekäre Beschäftigung, Niedriglöhne sowie Armut im Alter. Auch noch so laute Rufe nach Nachbesserungen bei den Sondierungsergebnissen können die Spaltung in Gesellschaft und Partei nicht überdecken, geschweige denn überwinden. (...) In einer GroKo wird die SPD die sozialen Defizite nicht weiter angehen können. Das ginge nur in der Opposition, allerdings mit wenig Durchsetzungskraft. Deshalb ist der Parteitag am Sonntag auch eine Entscheidung darüber, ob die Partei wieder zu ihren Wurzeln zurückfindet. Notwendig ist es allemal."

SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles hatte den GroKo-Kritikern vorgeworfen, das Ergebnis "mutwillig schlecht zu reden" - einigen sei "egal, was wir verhandelt hätten, gegen die GroKo". Auch Martin Schulz wurde nach den Sondierungen nicht müde zu erklären: "Ich glaube, dass wir hervorragende Ergebnisse erzielt haben."

Die Ergebnisse der SPD-Verhandler waren so "hervorragend", dass wenige Stunden später die halbe SPD nachverhandeln wollte, darunter Malu Dreyer und Ralf Stegner, die selbst bei den Sondierungen dabei waren. Kurioserweise waren auch sie nicht mehr damit zufrieden, was sie selbst mit ausgehandelt hatten.

Von "Absage an große [sic] Koalition ohne jede Hintertür! Basta!" zu "die SPD ist sich ihrer Verantwortung bewusst"

Nach ihrem bislang schlechtesten Nachkriegsergebnis bei einer deutschlandweiten Wahl hatten die sozialdemokratische Führungsriege noch am Wahlabend eine Neuauflage einer "Großen Koalition" ausgeschlossen. SPD-Vize Ralf Stegner hatte am 29. September sogar getwittert: "Opposition und Absage an große [sic] Koalition ohne jede Hintertür! Basta! Glaubwürdigkeit der SPD auf dem Spiel!" Noch am 20. November erklärte er im ZDF-Morgenmagazin: "Wenn wir uns am Wahltag entschieden haben, wir machen keine GroKo, dann gilt das auch noch zwei Monate später."

Als dann die Jamaika-Sondierungen gescheitert waren und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine Genoss*innen an eine angebliche staatspolitische "Verantwortung" gemahnt hatte, sahen sie sich in die "Pflicht" genommen ("Die SPD war und ist sich ihrer Verantwortung für unser Land bewusst") und gaben auf ihrem Berliner Parteitag (7.-9.12.17) grünes Licht für Sondierungsgespräche. Dabei formulierten sie hohe Hürden, über die die Unions-Sondierer gefälligst springen sollten. Dabei sollte es um nicht weniger als darum gehen, dass "eine neue Bundesregierung sich in jedem Fall den großen Fragen unserer Zeit stellen (müsse). Dazu gehören zweifellos die globalen Gerechtigkeitsfragen und die grundlegende Erneuerung Europas. Für uns ist dabei auch klar: Die Verantwortung der SPD besteht nicht automatisch darin, dass sie sich für den Eintritt in eine große Koalition zur Verfügung halten muss. Maßstab für eine Koalition bleibt für die SPD einzig und allein die Umsetzbarkeit des inhaltlichen Wählerauftrags, den ihre Wähler ihr am Wahltag mitgegeben haben." Originalton des in Berlin beschlossenen Leitantrages.

Als essentielle Markenkerne der SPD galten danach:

  • Martin Schulz: "Ich werde Schluss machen mit der willkürlichen Befristung von Arbeitsplätzen."
  • Karl Lauterbach: "Die Bürgerversicherung ist für uns ein zentralen Anliegen. Wenn wir bei diesen Gerechtigkeitsfragen nichts erreichen, gibt es nicht den Hauch einer Chance, dass die SPD Mitglieder einem Koalitionsvertrag zustimmen würden."
  • Andrea Nahles : "Wir müssen Spitzenverdiener stärker an der Finanzierung staatlicher Aufgaben beteiligen (...) durch einen höheren Spitzensteuersatz und eine Reichensteuer".

"Mit uns zieht die neue Zeit"?

Mit diesen Forderungen sind die SPD-Sondierer aber samt und sonders gegen die schwarze Wand gefahren. Gleichzeitig warnte Nahles vor "Illusionen", was mögliche Nach-Verhandlungen angehe. In den Sondierungen seien "die großen Themen durchgesprochen" worden. "Wir haben beispielsweise tagelang über die Bürgerversicherung oder die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverhältnissen verhandelt, und wir haben festgestellt: Die Union will das unter keinen Umständen."

SPD Mitgliederbefragung TitanicAuszuschließen ist aber auch nicht, dass Merkel noch ein bisschen kompromissbereiter gegenüber der SPD ist, als es im Sondierungsergebnis vereinbart ist. Bei Koalitionsverhandlungen könnte sie diesen Spielraum nutzen, damit die innerparteilichen Schwarz-Rot-Befürworter in der SPD genug vorweisen können, um die Regierungsvereinbarung über die 50 Prozent-Zustimmung ihrer Mitgliederbefragung zu hieven.

Die Sozialdemokraten gehen jedenfalls jetzt nach dem Parteitagsbeschluss frohen Mutes in die Koalitionsverhandlungen.

Das zum Abschluss gemeinsam gesungene "Mit uns zieht die neue Zeit" hat allerdings nichts mehr mit der Politik der SPD zu tun.

 

 

Ein Blick in ausgewählte Sondierungsergebnisse

Frieden und Abrüstung

Die Bundeswehreinsätze in Afghanistan und Mali sollen fortgesetzt werden, der Einsatz in Nordirak beendet werden. Ein Erreichen es Zwei-Prozent-Ziels der NATO-Staaten ist nicht im Papier enthalten. "Offensichtlich haben sich die Sondierungsteams von CDU/CSU und SPD auf 10 Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr verständigt", kritisiert Tobias Pflüger, Militärexperte der Fraktion DIE LINKE. Damit sei klar, dass die geplante Koalition aus CDU/CSU und SPD weiterhin anstrebt das Zwei-Prozent-Ziel der NATO umzusetzen. Christine Buchholz, Mitglied des Parteivorstands DIE LINKE, kritisiert die Sondierungsergebnisse in Bezug auf Atomwaffen: "Von einer Unterstützung internationaler Abrüstungsinitiativen ist dort nichts zu lesen, auch nichts von einem Abzug der Atombomben aus Büchel." Im Wahlkampf hatte Martin Schulz den Abzug der Atomwaffen aus Büchel versprochen. Der "Kassler Friedensratschlag" kritisiert, dass die Konfrontationspolitik der NATO gegenüber Russland weiter aktiv mit vorangetrieben wird. Deutsche Truppen bleiben an der Westgrenze Russlands, wider aller historischen Vernunft.

Positiv ist, dass vereinbart wurde: "Die Bundesregierung wird ab sofort keine Ausfuhren an Länder genehmigen, solange diese am Jemen-Krieg beteiligt sind." Die Rüstungsindustrie und ihre Lobby ist schon auf den Barrikaden, um diesen Passus zu kippen.

Klimapolitik: Klimaziel aufgegeben

Merkel KlimazielDas Klimaziel, die Kohlendioxidemissionen bis 2020 um 40 Prozent zu verringern, wurde aufgegeben. Stattdessen heißt es im Papier, man wolle "die Lücke bis zum Ziel so schnell wie möglich schließen." Zumindest bis 2030 könne man das Ziel erreichen. Bis Ende des Jahres soll ein Zeitplan für den Kohleausstieg festgelegt werden. Klimaschutz "Dies soll unter Beachtung des Zieldreiecks Versorgungssicherheit, Sauberkeit und Wirtschaftlichkeit sowie ohne Strukturbrüche realisiert werden. Unter diesen Voraussetzungen streben wir einen Anteil von etwa 65 % Erneuerbarer Energien bis 2030 an."

BDI zufrieden

Beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ist man höchst zufrieden mit diesem Resultat. "Neben der Steuerpolitik gehöre die Energie- und Klimapolitik auf den Prüfstand. Wir brauchen mehr Realismus in der Energie- und Klimapolitik", verkündete BDI-Präsident Dieter Kempf. "Offenbar sind hier Sondierer willens, die Realität anzuerkennen. Die Politik muss die Energiewende zu einer Erfolgsgeschichte machen, pragmatisch und an der Wirtschaftlichkeit orientiert."

Umweltverbände: am Klimaziel festhalten und konkrete Maßnahmen

Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), die atomkritische Ärztevereinigung IPPNW, der Naturschutzbund (NABU) sowie mehrere regionale Anti-Atomkraft- und Anti-Braunkohle- Initiativen kritisieren die Ergebnisse der Sondierungsgespräche zur Neuauflage der Großen Koalition scharf: "Das Thema Klimaschutz wurde an eine Kommission ausgelagert, die Atomkraft ganz ausgeklammert. Weder gibt es eine schnellere Abschaltung der noch laufenden Atomkraftwerke noch eine Vereinbarung zur längst überfälligen Stilllegung der Urananreicherungsanlage in Gronau und der Brennelementefabrik in Lingen. Die Umweltorganisationen und -initiativen fordern von einer zukünftigen Regierung, sich nicht nur formell zum Klimaziel 2020 zu bekennen, sondern konkrete Beschlüsse zu fassen, um dieses auch zu erreichen.

Die schnelle Abschaltung der klimaschädlichsten Kohlemeiler bis 2020 sowie ein kompletter Kohleausstieg bis 2025 sind unabdingbar, um dem Klimaschutz und einer echten Energiewende eine reale Chance zu geben. "Das Pariser Klimaabkommen enthält die völkerrechtlich bindende Vorgabe, die globale Erderwärmung deutlich unter 2 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter zu halten. Um den Vertrag nicht zu verletzen, muss Deutschland diesen schnellen Kohleausstieg vollziehen."

IG BCE: gut, dass Klimaziel aufgegeben wird

Im Gegensatz zu den Umweltverbänden findet es der Vorsitzende der Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), Michael Vassiliadis, gut, dass Union und SPD das Klimaziel aufgeben. Bei einem Pressegespräch in Hannover sagte er: "Wir sind erfreut, dass die drei Groko-Sondierer bereit sind, beim Etappenziel nachzujustieren."

Flucht und Migration

"Die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft dürfe nicht überfordert werden", heißt es. Deshalb "dürfen die Zuwanderungszahlen die Spanne von jährlich 180.000 bis 220.000 nicht übersteigen." Der Familiennachzug soll "nur aus humanitären Gründen" gestattet werden. Human ist, dass 1.000 Menschen pro Monat zu ihren Angehörigen nach Deutschland kommen können. Union und SPD wollen ein Migrationsrecht schaffen, das die Fachkräfteeinwanderung ordnen und steuern soll.

Wortwörtlich heißt es in dem Papier: "Bezogen auf die durchschnittlichen Zuwanderungszahlen, die Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre sowie mit Blick auf die vereinbarten Maßnahmen und den unmittelbar steuerbaren Teil der Zuwanderung – das Grundrecht auf Asyl und die GFK bleiben unangetastet – stellen wir fest , dass die Zuwanderungszahlen (inklusive Kriegsflüchtlinge, vorübergehend Schutzberechtigte, Familiennachzügler, Relocation, Resettlement, abzüglich Rückführungen und freiwilligen Ausreisen künftiger Flüchtlinge und ohne Erwerbsmigration) die Spanne von jährlich 180 000 bis 220 000 nicht übersteigen werden.

Zur Sicherung der Freizügigkeit innerhalb Europas gehört ein wirksamer Schutz der europäischen Außengrenzen. Dazu wollen wir Frontex zu einer echten Grenzschutzpolizei weiterentwickeln. Bis der Schutz der EU-Außengrenzen effektiv funktioniert, sind Binnengrenzkontrollen vertretbar.

Das Gesetz zur Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzbedürftige läuft aus. Anstelle des bisherigen Gesetzes mit einem generellen Familiennachzug für subsidiär Geschützte tritt eine Neuregelung, mit der ein geordneter und gestaffelter Familiennachzug nur aus humanitären Gründen wie folgt geregelt wird:

  1. Im Rahmen der Gesamtzahl ermöglichen wir 1000 Menschen pro Monat den Nachzug nach Deutschland. Im Gegenzug laufen die EU-bedingten 1000 freiwilligen Aufnahmen pro Monat von Migranten aus Griechenland und Italien aus.
  2. Dieser Familiennachzug wird nur gewährt, wenn es sich um Ehen handelt, die vor der Flucht geschlossen worden sind, keine schwerwiegenden Straftaten begangen wurden, es sich nicht um Gefährder handelt, eine Ausreise kurzfristig nicht zu erwarten ist."

PRO ASYL warnt vor Ausgrenzungsrepublik

Der FLÜCHTLINGSRAT Schleswig-Holstein und PRO ASYL bewerten das Ergebnis der Sondierungen als einen Sieg der Hardliner über Humanität und Menschenrechte. Die sich anbahnende Große Koalition geht zulasten von Asylsuchenden und Flüchtlingen.

Die dauerhafte Isolierung aller Schutzsuchenden in Entscheidungszentren ist für faire Asylverfahren katastrophal. FLÜCHTLINGSRAT und PRO ASYL befürchten, dass damit ein faires Asylverfahren in der Praxis verhindert wird.

Logo mut2"Die Spitze der Unmenschlichkeit ist es dann noch, wenn auch Union und SPD – nach Jamaika – die in Bayern bereits existierenden Lager in ganz Deutschland einrichten wollen."
Marie Luise Kunst, mut

 

Das Grundrecht, als Familie zusammenzuleben darf nicht kontingentiert werden. Auch wer als Opfer vor Krieg und Folter flieht und subsidiären Schutz erhält, kann beim Familiennachzug nicht mit dem Hinweis auf die bereits erreichte Obergrenze abgespeist werden. Dem steht auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) entgegen.

Schaut man auf die Kriterien für einen Familiennachzug, so stellt man fest, dass es gegenüber den bisher geltenden Härtefalldefinition Verschärfungen gibt. Die Regelungen zum Familiennachzug stellen einen Vertrauensbruch gegenüber den betroffenen Flüchtlingen dar. Zu befürchten ist, dass Behörden sich in Sachen Familiennachzug häufig darauf berufen werden, dass eine Ausreise kurzfristig zu erwarten sei und damit versuchen, den Anspruch auf Familiennachzug ins Leere laufen zu lassen.

Vereinbart wurde die Absicht, Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten einzustufen. Angesichts von bereinigten Anerkennungsquoten bei diesen Staaten von mehr als fünf Prozent (die bereinigte Schutzquote für die Maghreb-Staaten betrug im zwischen Januar und November 2017 10,2 % für Marokko, 6,1 % für Tunesien und 5,2% für Algerien) würde eine der zentralen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen kaum erfüllbar sein (Verfolgungsfreiheit und keine strukturellen Menschenrechtsdefizite).

Gesundheitspolitik

Die Einführung einer Bürgerversicherung ist nicht vorgesehen. Zur Gesundheitspolitik gibt es im Papier nur ein Sammelsurium von Allgemeinplätzen. Auf der Positivseite reklamiert die SPD, dass Arbeitgeber und Versicherte zukünftig wieder den gleichen Anteil am gesamten Versicherungsbeitrag zahlen sollen. Aber: Wer hatte diese Ungerechtigkeit 2005 überhaupt erst eingeführt? Die SPD in der damaligen GroKo.

Beschäftigungspolitik

Im Sondierungspapier heißt es: "Wir wollen einen Rahmen schaffen, in dem Unternehmen, Beschäftigte und die Tarifpartner den vielfältigen Wünschen und Anforderungen in der Arbeitszeitgestaltung gerecht werden können. Wir wollen Familien in ihrem Anliegen unterstützen, mehr Zeit füreinander zu haben und die Partnerschaftlichkeit zu stärken. Wir werden dazu Modelle entwickeln, mit denen mehr Spielraum für Familienzeit geschaffen werden kann.

Im Teilzeit- und Befristungsrecht wird ein Recht auf befristete Teilzeit eingeführt - aber:

  1. Es besteht kein Anspruch auf Verlängerung oder Verkürzung der Arbeitszeit oder vorzeitige Rückkehr zur früheren Arbeitszeit während der zeitlich begrenzten Teilzeitarbeit.
  2. Der neue Teilzeitanspruch nach diesem Gesetz gilt nur für Unternehmen, die in der Regel insgesamt mehr als 45 Mitarbeiter beschäftigen.
  3. Für Unternehmensgrößen von 45 bis 200 Mitarbeitern wird eine Zumutbarkeitsgrenze eingeführt, dass lediglich einem pro angefangenen 15 Mitarbeitern der Anspruch gewährt werden muss. Bei Überschreitung dieser Grenze kann der Arbeitgeber einen Antrag ablehnen.
  4. Der Arbeitgeber kann eine befristete Teilzeit ablehnen, wenn diese ein Jahr unter- oder fünf Jahre überschreitet. Die Tarifvertragsparteien erhalten die Möglichkeit, hiervon abweichende Regelungen zu vereinbaren.
  5. Nach Ablauf der zeitlich begrenzten Teilzeitarbeit kann der Arbeitnehmer frühestens nach einem Jahr eine erneute Verringerung der Arbeitszeit verlangen.

Das Verbot von sachgrundloser Befristung von Arbeitsverträgen ist nicht vorgesehen; ebensowenig eine Abschaffung des Hartz-IV-Systems.

Wirtschaft-Verkehr

Im europäisch-kanadischen Handelsabkommen CETA sehen die zukünftigen Koalitionäre "zukunftsweisende Regelungen für den Schutz von Arbeitnehmerrechten, öffentlicher Daseinsvorsorge und für einen fortschrittlichen Investitionsschutz."

Weiter heißt es: "Wir wollen Fahrverbote vermeiden und die Luftreinhaltung verbessern. Die Mobilitätspolitik ist dem Pariser Klimaschutzabkommen verpflichtet.

Dafür bedarf es eines ganzen Bündels von Maßnahmen, wie zum Beispiel der Förderung von Elektromobilität, des Öffentlichen Personennahverkehrs und des Schienenverkehrs; effizienteren und sauberen Verbrennungsmotoren inklusive Nachrüstungen sowie der Verstetigung der Mittel im Rahmen des Nationalen Forums Diesel."

Steuerpolitik

Zu einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes und der Einführung einer Reichensteuer ist im Sondierungspapier nichts vorgesehen. Das SPD-Konzept sah vor, für untere und mittlere Einkommen den Solidaritätszuschlag wegfallen zu lassen. Die Freigrenzen, von denen an er fällig wird, sollten angehoben werden. Der heutige Spitzensteuersatz von 42 Prozent sollte auf 45 Prozent steigen, die bei einem Single ab einem Einkommen von 76.200 Euro erreicht wären. Einkommen aus Arbeit und aus Kapital sollen wieder gleich besteuert, große Erbschaften stärker herangezogen werden.


Kevin Kuehnert"Dass nicht mal ein um drei Prozentpunkte höheren Spitzensteuersatz drin war, das finde ich schon eine wirklich schwache Leistung."
Kevin Kühnert, JUSO-Vorsitzender.

 

Rente

Union und SPD planen eine "Grundrente": Wer 35 Jahre lang beitragspflichtig war oder Zeiten der Kindererziehung bzw. Pflegezeiten aufweist, soll künftig stets eine Rente erhalten, die zehn Prozent über Sozialhilfeniveau liegt. "Voraussetzung für den Bezug der 'Grundrente' ist eine Bedürftigkeitsprüfung entsprechend der Grundsicherung. Dabei wollen wir klarstellen, dass die Bezieher von Grundsicherung im Alter in ihrem selbst genutzten Haus oder ihrer Wohnung im Regelfall weiterhin wohnen können", heißt es.

Die Sondierer wollen in diesem Jahr die Rentenformel ändern, um das Rentenniveau bei 48 Prozent bis 2025 abzusichern. Grundsätzlich wird am Drei-Säulen-Modell festgehalten (gesetzliche Rente, Betriebsrente, private Vorsorge).

Bernd Riexinger3
"Eine Rente, die vor Armut schützt oder eine gute Pflege werden nicht angegangen."
Bernd Riexinger, DIE LINKE

 

Der Rentenexperte der Linksfraktion im Bundestag, Matthias W. Birkwald, meint: "Die sogenannte 'Grundrente' verdient ihren Namen nicht. Sie wird die finanzielle Situation von Menschen mit langen Beitragszeiten nur minimal verbessern. Echte Armutsbekämpfung ist das aber nicht.“ Der Verfall der Renten werde bis 2025 zwar gestoppt, laut Birkwald ein Erfolg, der aber nur ein erster Schritt sein könne: "Jetzt kommt es darauf an, die Talfahrt nicht nur aufzuhalten, sondern die Renten deutlich anzuheben. Dazu brauchen wir aber Geld aus Steuern und Beiträgen. Die Begrenzung der Sozialversicherungsbeiträge auf 40 Prozent schränkt den Spielraum für eine gute Rentenpolitik massiv ein."

Wohnen

Für den frei finanzierten Wohnungsbau will die Koalition steuerliche Anreize schaffen. Ansonsten leere Absichtserklärungen: Die Förderung des sozialen Wohnungsbaus "soll weitergehen". Die Mietpreisbremse stehe auf dem Prüfstand.

Die Europäische Union 

Hierzu heißt es im Papier: Die EU "ist ein historisch einzigartiges Friedens- und Erfolgsprojekt und muss es auch künftig bleiben. Nur gemeinsam können wir unsere Werte und unser solidarisches Gesellschaftsmodell, das sich mit der Sozialen Marktwirtschaft verbindet, verteidigen. Deshalb braucht die EU eine Erneuerung und einen neuen Aufbruch. Wir wollen die Wettbewerbsfähigkeit der EU und ihre Wachstumskräfte im Kontext der Globalisierung stärken, um zukunftsgerechte Arbeitsplätze in der EU zu sichern und neue zu schaffen.

Wir wollen faire Mobilität fördern, jedoch missbräuchliche Zuwanderung in die Systeme der sozialen Sicherheit unterbinden. Wir wollen Fluchtursachen umfassend bekämpfen, die Außengrenzen der EU wirksamer gemeinsam schützen sowie eine solidarische Verantwortungsteilung in der EU schaffen. Wir wollen mit einer kohärenten Afrika-Strategie die Zusammenarbeit mit Afrika auf allen Ebenen ausbauen."

Bekenntnis zur "Europa GmbH"

Gut versteckt unter "Innenpolitik", Unterpunkt "Recht" und in einem von der Digitalisierung handelnden Spiegelstrich (?!) findet sich auf Seite 18 der Sondierungsergebnisse ein Bekenntnis zur Europäischen Privatgesellschaft ("Europa GmbH"), die Deutschland bisher wegen der Umgehungsmöglichkeiten der Arbeitnehmermitbestimmung blockierte.

Substanz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer?

Nach einer ersten Analyse der Sondierungsergebnisse kommen der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und seine Mitgliedsgewerkschaften zu folgender Einschätzung: "Im Vergleich zu den Jamaika-Verhandlungen enthält dieses Ergebnis weit mehr Substanz für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dazu gehören die Stabilisierung der Rente, die Wiederherstellung der Parität in der gesetzlichen Krankenversicherung, die Stärkung von Bildung und die Verbesserung der Pflege. Auch die Vorschläge für ein solidarisches und soziales Europa sind ein wichtiger Schritt. Im Rahmen von Koalitionsverhandlungen muss es bei erkennbaren Schwachpunkten Verbesserungen geben, um die Herausforderungen der digitalen Transformation zu gestalten. Das betrifft insbesondere eine stärkere Akzentuierung von Zukunftsinvestitionen mit einer soliden Finanzierung, und die Förderung von sicherer Arbeit und Tarifbindung."

Katja Kipping 1DIE LINKE: "Dass die SPD jetzt wieder in eine große Koalition geht, halte ich für einen historischen Fehler. Der Bonner Parteitag wird Geschichte schreiben, wie die unsoziale 2010-Agenda-Politik. Es droht die endgültige Atomisierung der deutschen Sozialdemokratie. Ich sage das mit großem Bedauern, denn eine U20-SPD ist auch eine Niederlage für alle progressiven Kräfte links der CDU. Die Aufgabe der SPD darf doch nicht sein, Angela Merkel vor dem Rechtsruck der CDU zu retten, sondern die Idee einer sozialen Gerechtigkeit für die Mehrheit in diesem Land wieder attraktiv zu machen." (Katja Kipping)

Dietmar Dath schrieb am 17.1. in seiner FAZ-Kolumne 'Was sagt Karl Marx': "Gabriel redet als Bauern-, Arbeiter- und Arbeitslosenfänger neuerdings von Heimat, Leitkultur und patriotischer Umverteilung, weil ihm niemand erzählt hat, wie schlimm Lassalle von Marx dafür verprügelt wurde, dass jener naive Mann allerlei Probleme der sogenannten sozialen Gerechtigkeit 'vom engsten nationalen Standpunkt' her fassen wollte. Komplementär dazu singt Schulz das Lied 'Vereinigte Staaten von Europa so schnell wie möglich', um der trostlos erneuerten Koalition mit den Unionsparteien eine politische Idee mitzugeben." Beide Illusionen, "Sozialnationalismus" wie "supranationale Zusammenarbeit im Interesse der Marktverlierer" habe Marx bereits in seiner "Kritik des Gothaer Programms" (1875) als "haltlose Fassade gebrandmarkt".

Anlage: Ergebnisse der Sondierungsgespräche von CDU, CSU und SPD - Finale Fassung

txt: gst