Europa

07.09.2010: Frankreich heute - der öffentliche Nahverkehr ist zum Erliegen gekommen, der Züge verkehren nur sporadisch, die Flughäfen sind menschenleer, die Justiz- und andere Verwaltungen werden bestreikt. Frankreich ist im Protest gegen die Rente mit 62. Für den Nachmittag werden zwei Millionen Menschen bei den Kundgebungen der Gewerkschaften erwartet.

Das isw - Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung - beschäftigt sich in einer aktuellen Publikation (isw-spezial 24: Für die Krise zahlen? Nein! Wie die Linke in Europa gegen die Sparprogramme mobil macht) mit der Situation und dem Stand der Auseinandersetzungen in einigen europäischen Ländern im Vorfeld der Herbstaktionen gegen die Sparpakete. Wir dokumentieren das Kapitel, das sich mit Frankreich befasst.


Auszug aus isw-spezial 24: Für die Krise zahlen? Nein! Wie die Linke in Europa gegen die Sparprogramme mobil macht

 

Frankreich: Die Verschärfungen betreffen alle, dementsprechend groß ist der Widerstand

Am 8. Juni hatte die Regierung von Nicolas Sarkozy noch ein Sparpaket nach deutschem Muster abgelehnt. In Frankreich gebe es dafür keine Notwendigkeit. Frankreich habe im Krisenjahr 2009 die geringste Rezession in ganz Europa verzeichnet, sagte der französische Konjunkturminister, Patrick Devedjian. Frankreichs Verschuldung sei zwar "vergleichsweise groß", aber kein Problem, sagte der Minister weiter. Sie ruhe "auf der Wirtschaft einer großen Nation", die fällige Zahlungen ohne Weiteres leisten könne. Frankreichs Finanzministerin Christine Lagarde attakiert seit Längerem die Regierung in Berlin, weil Deutschland auf Kosten Frankreichs und anderer Euroländer wachse, indem es mit seiner restriktiven Lohnpolitik und der Senkung der Arbeitskosten auf unfaire Weise seinen Partnern Marktanteile abnehme. Sie forderte die deutsche Regierung auf, dem Beispiel Frankreichs zu folgen und den privaten Konsum zu stimulieren. In Frankreich ist der Binnenmarkt seit Jahren der wichstigste Pfeiler des Wachstums.
Aber schon zwei Wochen später, am 21. Juni, erfolgte die Wende. Staatspräsident Sarkozy war mit seinem Versuch, auf europäischer Ebene eine stärkere Regulierung und so etwas wie eine gemeinsame Willensbildung der Eurostaaten zu etablieren, vor allem an der deutschen Regierung gescheitert.
Angesichts der immensen Neuverschuldung (8% im laufenden Jahr), steigender Zinsdifferenzen zu Deutschland für die Umschuldung alter Ausleihungen und der Notwendigkeit 111 Mrd. Euro für den Euro-Rettungsfonds bereitzustellen gab Sarkozy klein bei und vollzog schließlich auch den Schwenk in die Konsolidierung des Staatshaushalts. Die öffentlichen Ausgaben sollen um 45 Mrd. Euro gekürzt werden. 5 Mrd. Euro will man durch die Schließung von Steuerlücken aufbringen und 35 Mrd. Euro soll der konjunkturelle Aufschwung an Steuermehreinnahmen einbringen. Die Einkommenssteuer und die Steuer für Veräußerungsgewinne werden geringfügig (ein Prozent) erhöht.
Seit 2007 wurden ca. 100.000 Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen, ebensoviel sollen bis 2013 folgen. Die Zuwendungen an die Gebietskörperschaften werden für drei Jahre eingefroren. Zwar wurden die geplanten Einschnitte in das Rentensystem nicht in das an die EU-Kommission übermittelte Kürzungskonzept aufgenommen, nichts desto trotz sind sie Teil des generellen "Sparprogramms".
Mit insgesamt 20 Maßnahmen soll bis 2018 das derzeitige Rentendefizit von 32 Mrd. Euro zur Hälfte ausgeglichen werden: Das gesetzliche Renteneintrittsalter wird von jetzt 58 bzw. 60 Jahren auf 62 Jahre schrittweise angehoben; der Bezug der vollen Rente soll schrittweise von 65 auf 67 Jahre verschoben werden. Um die volle Rente zu beziehen, sind für die Jahrgänge ab 1953 künftig 41 Jahre und drei Monate Beitragsjahre nötig.
Verlängerung der Beitragszeiten, Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 62 Jahre bzw. auf 67 Jahre, um im Falle fehlender Beitragszeiten den vollen Rentenanspruch geltend machen zu können: Die Verschärfung betrifft also praktisch alle und ganz besonders Prekäre, Frauen, Arbeitslose, die wohl vielfach bis 67 versuchen müssen, irgendwie erwerbstätig zu bleiben.

Kriegserklärung an die Gewerkschaften

Für die Gewerkschaften stellt dieser Gesetzentwurf eine Kriegserklärung dar. Die gesetzliche Rente mit 60 Jahren ist eine Errungenschaft aus der Zeit der Linksunion aus dem Jahre 1983. Zwei Drittel der Franzosen betrachten die Rente mit 60 als ihren sozialen Eigentumstitel. So hatte denn auch Sarkozy immer beteuert, das Renteneintrittsalter nicht antasten zu wollen. In Erinnerung ist, dass die Regierung Chirac zwar 2003 gegen heftigen Widerstand einen Einschnitt bei den Renten durchsetzen konnte, aber bei der darauffolgenden Wahl 2005 abtreten musste.
So waren auch fast zwei Millionen Menschen am 24. Juni dem Aufruf des Aktionsbündnisses der sechs größten französischen Gewerkschaften (ohne Force Ouvrière) zu einem landesweiten Streik- und Aktionstag gegen die beabsichtigte "Rentenreform" gefolgt. Selbst die bürgerliche Presse wie "Le Monde" musste feststellen, dass eine "deutlich höhere Mobilisierung" als zum vorherigen Gewerkschaftsaktionstag am 17. Mai zu verzeichnen war.
Bei den im März und im Mai stattgefundenen Protesttagen war die Teilnahme hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Das lag zum einen daran, dass es im Öffentlichen Dienst bereits zu einem Deal zwischen Sarkozy und den Gewerkschaften über die Reform der Renten gekommen war und andererseits die konkreten Pläne noch unklar waren.
Die Gewerkschaften haben angekündigt, dass sie die Aktionen nach der Sommerpause noch weiter verstärkt fortsetzen werden, falls die Regierung den derzeitigen Rentengesetzentwurf nicht zurücknimmt. Als nächster Höhepunkt gilt der 7. September, an dem die Beratung des Rentengesetzes im Parlament beginnen soll.

Vor diesem Hintergrund hat Sarkozy eine Entlastungsoffensive in Richtung Repression gegen die Krisenopfer und ihrer Diskriminierung gestartet. Der Präsident selbst spricht von einem "nationalen Krieg" gegen bestimmte Gruppen von Unheilstiftern. Dabei bringt er Kriminalität direkt mit der Herkunft bestimmter Bevölkerungsgruppen (Roma, Sinti und andere Nichtsesshafte sowie Migranten und Bürger mit Migrationshintergrund) in Zusammenhang. Bei Vergehen gegen Repräsentanten der öffentlichen Gewalt soll künftig die Staatsbürgerschaft aberkannt werden können. Die öffentlichen Behörden werden dazu instrumentalisiert, systematisch Ressentiments zu erzeugen.
Sarkozy verletzt mit dieser Offensive der staatliche Fremdenfeindlichkeit bewusst die demokratischen Prinzipien, um einen qualitativen Sprung in Richtung der extremen Rechten zu machen. Es geht ihm darum, den für den Herbst anstehenden sozialen Konflikt mit den Gewerkschaften und der politischen Linken auf dieses Feld umzulenken. Außerdem steht er vor der Herausforderung, für die Wahl 2012 eine neue politische Mehrheit formieren zu müssen. Die Regionalwahlen im März 2010 waren zu einem Debakel für die um Sarkozy gescharten Kräfte geraten und hatten ihren Legitimtätsverlust gezeigt. Offensichtlich setzen diese Kräfte nun auf die soziale, politische und rassistische Polarisierung der französischen Gesellschaft, um das neoliberale Modell fortführen und die verschärfte staatliche Repression legitimieren zu können.

Es geht um Freiheit und um soziale Rechte

Auf Seiten der Linken wird an einer breiten Sammlung aller demokratischen Kräfte gearbeitet. Auf Initiative der "Ligue des droits de l'Homme" (Menschenrechtsliga) haben 50 Organisationen eine gemeinsame Erklärung verfasst, darunter Sozialistische Partei, Grüne, Linkspartei, Kommunistische Partei, Neue Antikapitalistische Partei, Gewerkschaften (CGT, FSU, Solidaires) und viele demokratische, antirassistische, sozial engagierte Bewegungen und Vereinigungen. In ihr wird unterstrichen, dass der Präsident mit Absicht grundlegende demokratische Prinzipien in Frage stellt - und das zu einem Zeitpunkt, an dem in Folge der schweren sozialen und ökonomischen Krise der Zusammenhalt der Gesellschaft massiv bedroht ist. Damit verfolge er eine Logik der sozialen Desintegration, die schwere Gefahren für die Gesellschaft heraufbeschwöre. Die Grenzen seien überschritten, wenn Millionen Menschen auf Grund ihrer Herkunft oder ihrer sozialen Lage a priori als gefährlich erklärt werden. Am 4. September -- dem 140. Geburtstag der Troisième République - werden erste öffentliche Kundgebungen in ganz Frankreich und auf dem Pariser "Place de la République" unter dem Motto: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind unser gemeinsames Gut" stattfinden.

Es wird im Herbst also darum gehen, dass die Frage der Renten nicht in den Hintergrund gerät, sondern dass für die Frage der Freiheiten und der Renten gleichzeitig mobilisiert wird, weil es "im Grunde .. um eine einzige Frage: die Gleichheit jedes Staatsbürgers in Bezug auf die Freiheiten und auf die sozialen Rechte" geht, wie der Nationale Sekretär der PCF, Pierre Laurent (Humanité, 5.8.2010) betont. Denn die Solidarität mit den Migranten wird einer hohen Belastung ausgesetzt, wenn in der nächsten Phase der Austeritätspolitik die Ärmsten und der untere Teil der Mittelschichten durch das Abwälzen der öffentlichen Schulden stark belastet werden. Die extreme Rechte (Front National) stünde dann bereit, den sozialen Protest zu kanalisieren.

"Für alle Kräfte der sozialen und politischen Linken wird die Entwicklung einer glaubwürdigen und Dynamik erzeugenden Alternative immer dringlicher. Sie kann zu einer für die Republik entscheidenden Frage werden." (Elisabeth Gauthier, Direktorin von Espaces Marx und Leitungsmitglied von transform! Europe)

Inhaltsverzeichnis
CONRAD SCHUHLER
Krise vorbei? Alles in Butter?
Warum es schnell noch tiefer abwärts geht ...................................................... ......... 3

LEO MAYER
Europas Linke im Kampf gegen die Krisenprogramme der Herrschenden

Griechenland
Die große Mehrheit im Kampf gegen EU- und IWF-Diktat ................................... ......... 7

Italien
Die kampfbereiten Gewerkschaften sollen ausgeschaltet werden ................................... 8

Frankreich
Die Verschärfungen betreffen alle, dementsprechend groß ist der Widerstand ...    ......... 10

Spanien
Die Beziehung zwischen PSOE und Gewerkschaften
haben sich grundlegend verändert ........................................................................... 11

Portugal
Die Linke Opposition wird stärker ............................................................................. 14

Deutschland
Wie kommen die Gewerkschaften aus eigener Kraft in die Offensive? ..................... ..... 15