Europa

19.09.2010: Obwohl die rechte Mehrheit in der Nationalversammlung das Gesetz über die „Rentenreform“ am 15. September verabschiedet hat, geben die Gewerkschaften den Kampf nicht auf. Die Gewerkschaft CGT debattiert über einen unbefristeten Streik oder Generalstreik, um die „Rentenreform“ doch noch zu Fall zu bringen. „Wie auch immer im Parlament abgestimmt wird, die Debatte ist damit nicht zu Ende“, sagte der Chef der eher sozialdemokratisch orientierten „Demokratischen Arbeitskonföderation´“ (CFDT), François Chérèque, der am Tag der Abstimmung mit den anderen sieben Gewerkschaftsbünden an einer weiteren Demonstration von Gewerkschaftern vor dem Palais Bourbon, dem Sitz der Nationalversammlung, teilnahm. Die Regierung habe mit der Abstimmung einen „psychologischen Schock“ auslösen und den Eindruck erwecken wollen, dass jetzt alles gelaufen sei, sagte er. Aber die gewerkschaftliche Mobilisierung werde weitergehen, zunächst mit dem schon verabredeten erneuten landesweiten Streik- und Aktionstag am 23. September und danach möglicherweise mit weiteren Aktionen, nicht zuletzt mit Blick auf die noch ausstehende Ratifizierung des Gesetzentwurfs im Oktober im Senat (der zweiten Kammer des französischen Parlaments).

 

Im Senat hat Sarkozys Partei UMP allein keine Mehrheit. Sie ist auf Zustimmung von anderen Abgeordneten angewiesen. Das könnte zu Abänderungen an dem vorgelegten Gesetzentwurf führen. Dann aber müsste eine Art „Vermittlungsverfahren“ in Aktion treten. Denn erst wenn beide Kammern des Parlaments in allen Punkten wörtlich übereinstimmende Gesetzestexte verabschiedet haben, gilt ein Gesetz als angenommen. Dies könnte neue Debatten über die vom Senat verlangten Änderungen auch in der Nationalversammlung auslösen. Insofern betonen die Gewerkschaften zu recht, das die von Sarkozy gewollte Verschlechterung des Rentenrechts mit dem Hinausschieben des Renteneintrittsalters von 60 auf 62 Jahre und des Alters für den Bezug einer Vollrente von 65 auf 67 Jahre noch keineswegs endgültig beschlossene Sache ist.

Mehrere tausend Gewerkschafter hatten sich am Tag der Abstimmung in der Nationalversammlung auf dem Place de  la Concorde versammelt, um die Abgeordneten mit Transparenten zur Ablehnung des Gesetzentwurfs aufzufordern. Die Abgeordneten der Kommunistischen Partei (PCF) und der Linkspartei (Parti de Gauche) waren in geschlossenem Zug demonstrativ direkt aus dem Parlamentsgebäude zu der Gewerkschaftsdemo gekommen.

CGT schließt "nichts aus"
Inzwischen mehren sich unter den Gewerkschaftern Stimmen, die über die Durchführung weiterer Demos hinaus die Ausrufung eines unbefristeten Streiks oder Generalstreiks gegen die „Rentenreform“ in die Debatte bringen. Der Chef des den Kommunisten nahestehenden „Allgemeinen Gewerkschaftsbundes“ (CGT), Bernard Thibault, der bereits vor einigen Tagen erklärt hatte, ein Generalstreik könne nicht von oben dekretiert werden, sprach sich dafür aus, die Debatte in den Betrieben auszuweiten und in Vollversammlungen der Belegschaften über die weiteren Aktionsformen zu diskutieren. Die CGT schließe dabei „nichts aus“. Es gehe aber darum, „das Maximum an Lohnabhängigen zusammenzuführen“.

Parlamentsmehrheit zieht durch
In der Nationalversammlung war die Debatte am frühen Vormittag des 15. September durch einen undemokratischen „Kraftakt“ des Parlamentspräsidenten beendet worden. Die Abgeordneten hatten seit Dienstagnachmittag während der ganzen Nacht ohne Unterbrechung getagt. Als diese Debatte um 7 Uhr morgens beendet werden sollte, wollten die Abgeordneten der Linksparteien jedoch von einem Artikel der Geschäftsordnung Gebrauch machen, der es ihnen erlaubt, jeweils eine fünfminütige persönliche Erklärung zu ihrem Abstimmungsverhalten abzugeben. Mehr als 160 Abgeordnete, Sozialisten, Kommunisten und Linke, meldeten sich dazu zu Wort. Das hätte weitere 13 Stunden Debatte und damit die Verschiebung der für 15 Uhr angesetzten Endabstimmung bedeutet. Der rechte Parlamentspräsident ließ jedoch nur etwa zwanzig zu Wort kommen. Dann brach er die Sitzung unter Missachtung der Abgeordnetenrechte einfach ab, indem er behauptete, es liege ein „Missbrauch“ der Geschäftsordnung vor. Dies hatte lautstarke Proteste der betroffenen Abgeordneten im Sitzungssaal und die Forderung nach seinem Rücktritt zur Folge. Ungeachtet dessen verabschiedete die UMP-Mehrheit um 15 Uhr programmgemäß den Gesetzentwurf mit 324 zu 233 Stimmen, wobei allerdings vermerkt wurde, dass auch einige Abgeordnete der Rechten gegen das Gesetz stimmten oder sich der Stimme enthielten.

Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CSA am gleichen Tag haben 68 Prozent der Befragen die Frage bejaht, ob die Gewerkschaften ihre Aktionen gegen das Rentenreformgesetz fortsetzen sollten. Dies unterstreicht noch einmal, dass die Mehrheit im Parlament in dieser Frage keinesfalls mit der Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung übereinstimmt. Demokratie geht anders.

txt: Pierre Poulain (Vorabdruck aus UZ)