Europa

FreeCanDundar R. Harms05.03.2016: Gestern abend stürmten Polizisten gewaltsam die oppositionelle Tageszeitung "Zaman" in Istanbul. Die türkische Regierung hat die Aufsicht über die Zeitung übernommen. Staatspräsident Erdogan geht nicht nur mit äußerster Brutalität gegen die kurdische Bevölkerung vor, sondern seit einigen Monaten auch rücksichtslos gegen kritische Medien. Als Can Dündar, Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet vor wenigen Tagen aufgrund einer Verfügung des türkischen Verfassungsgerichtshofs aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, verurteilte Erdogan die Freilassung. Bundesinnenminister de Maizière ficht das nicht an."Wir sollten nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein", sagte er. Demgegenüber erklärte Can Dündar: "Vom ersten Tag an werden wir bei unserem für den 25. März angesetzten Prozess die Verbrechen des Staates ins volle Licht rücken“.

 

„Vom ersten Tag an werden wir bei unserem für den 25. März angesetzten Prozess die Verbrechen des Staates ins volle Licht rücken“. Das erklärte Can Dündar, der Chefredakteur der oppositionellen türkischen Tageszeitung Cumhuriyet am 2. März auf einer Pressekonferenz in Istanbul. Fünf Tage vorher hatte er zusammen mit seinem Kollegen Erdem Gül, dem Leiter des Hauptstadtbüros der Zeitung in Ankara, aufgrund einer Verfügung des türkischen Verfassungsgerichtshofs nach 92 Tagen aus der Untersuchungshaft entlassen werden müssen. Angehörige und Anhänger hatten die beiden am Gefängnistor jubelnd im Empfang genommen.

Die Inhaftierung der beiden prominenten türkischen Journalisten, die klare Gegner des zunehmend autoritärer amtierenden türkischen Staatschefs Erdogan und seiner islamo-konservativen AKP-Regierung sind, hatte sowohl in der Türkei als auch in der internationalen Öffentlichkeit zahlreiche Proteste und Solidaritätsbekundungen ausgelöst. Cumhuriyet hatte im Mai 2015 kurz vor der türkischen Parlamentswahl nach umfangreichen Recherchen und mit Fotos und einem Video belegt, dass der türkische Geheimdienst in großem Umfang Waffen an islamistische „Dschihadisten“ in Syrien geschmuggelt hat, obwohl die AKP-Regierung unter Erdogan das immer bestritten hatte.

Wie verlautet, soll Erdogan über den Beschluss des Verfassungsgerichts vor Wut geschäumt haben, Er hatte höchstpersönlich gegen die beiden Journalisten Strafantrag wegen „Spionage“, Verrat von Staatsgeheimnissen und angeblichem Versuch eines „Staatsstreichs“ gestellt und ihnen öffentlich mit schwerer Bestrafung gedroht, Das Gericht hatte befunden, dass mit der Inhaftierung der beiden Journalisten deren Rechte auf persönliche Freiheit und Sicherheit verletzt worden sind und sie deshalb freigelassen werden müssen. Das Verfassungsgericht ist die letzte hohe Instanz des türkischen Staates, die noch nicht völlig unter der Kontrolle Erdogans steht. Die Mehrzahl seiner Mitglieder sind noch vor Erdogans Amtsantritt in ihr Amt nominiert worden. Das Gericht hatte auch mehrere von der AKP-Mehrheit im Parlament beschlossene Gesetze teilweise oder ganz annulliert.

„Wir werden uns nicht verteidigen, wir werden den Staatsverbrechen den Prozess machen“, kündigte Can Dündar voll kämpferischen Elans auf der Pressekonferenz nach seiner Freilassung an. Ironisch meinte er: „Wenn Sie Journalist in der Türkei sind, gehört Ins-Gefängnis-Gehen zu Ihrem Karriereplan“. „Aber wir sind Journalisten, keine Funktionäre im Dienst des Staates“, fügte er hinzu. „Unsere Pflicht ist es, die Öffentlichkeit zu informieren, einschließlich der illegalen Aktionen der Regierung“. Es gehe darum. „das vom Regime installierte Regime der Angst unter den Journalisten“ anzuprangern. Das illegale Engagement der Türkei im Krieg in Syrien sei nicht zuletzt der Auslöser für einen anderen Krieg gewesen, nämlich dem Krieg in der Türkei selbst, den die türkische Armee gegen die kurdischen Rebellen im Südosten der Türkei führt.

Kritik an den „kleinen schmutzigen Kombinationen“ der EU mit der Türkei

Can Dündar kritisierte auf der Pressekonferenz auch die „schmutzigen kleinen Kombinationen“, die die Europäische Union (EU) mit der Türkei eingegangen ist, damit diese als Gegenleistung für eine Finanzhilfe in Milliardenhöhe und politische Zugeständnisse den „Flüchtlingsstrom“ in die EU einschränken hilft. Der eingegangene Handel laute: „Du hältst die Flüchtlinge bei dir unter Kontrolle, und im Austausch dafür toleriere ich deine autoritäre Regierung“. „Das das ist nicht das Europa, das wir wollen“, fügte Dündar hinzu.

Der im März angesetzte Prozess gegen Dündar und Gül verlangt höchste Aufmerksamkeit und Solidarität der internationalen demokratischen Öffentlichkeit. Denn es geht dabei nicht nur um das persönliche Schicksal von zwei bürgerlich-oppositionellen türkischen Journalisten, denen für ihre verdienstvolle Enthüllung von Erdogans illegalen Aktionen gegen Syrien nach wie vor hohe Strafen drohen könnten. Die Aufhebung des Haftbefehls gegen sie ist keine Garantie, dass sie in dem angesetzten Prozess vor einem anderen türkischen Gericht auch von der Anklage freigesprochen werden, die der Staatschef gegen sie erhoben hat. Zugleich aber geht es mit diesem Verfahren um die Pressefreiheit in der Türkei und die journalistische Betätigungsfreiheit generell. Ein Freispruch für Dündar und Gül wäre eine erhebliche politische Niederlage für Erdogan und würde in der Tat dazu beitragen, das „Klima der Angst“ abzubauen, das das Erdogan-Regime gegen alle demokratischen Bestrebungen in diesem Land eingeführt hat und weiter verstärken will.

Text: G. Polikeit          Foto. R. Harms


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