Europa

11.01.2023: Die Brüsseler Ermittlungen zur Korruption im EU-Parlament zeigen, dass die Geheimdienste und die Regierung in Rabat Druck auf die Abgeordneten ausüben. Aber die Partnerschaftsabkommen - das zeigt der offizielle Besuch von Josep Borrell - sind auf dem besten Weg.

 

Säcke mit Bargeld, die im Haus aufbewahrt wurden, Abhörprotokolle, in denen Gespräche über 100.000 Euro Urlaub aufgezeichnet wurden - die belgischen Ermittler fanden Beweise für Aktivitäten, die weit über den üblichen Lobbyismus hinausgehen und Korruption und Geldwäsche belegen. Bei Abgeordneten des EU-Parlaments und einigen Beamten wurden 1,5 Millionen Euro in bar beschlagnahmt. Am Abend des 9. Dezember 2022 wurde die griechische Europaabgeordnete Eva Kaili trotz ihrer während der laufenden Sitzungsperiode bestehenden Immunität von der belgischen Polizei verhaftet. Neben Kaili, die bis dahin Mitglied der Sozialdemokratische Fraktion eine der Vizepräsident:innen des Europäischen Parlaments war, wurde der ehemalige italienische Europaabgeordnete Antonio Panzieri, ebenfalls Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion, und Mitarbeiter:innen von Abgeordneten verhaftet.

Nach Angaben eines Sprechers der belgischen Bundesstaatsanwaltschaft erfolgte die Beeinflussung von Entscheidungen des Europäischen Parlaments durch das Golfemirat Katar über viele Monate hinweg durch "die Zahlung hoher Geldbeträge oder das Angebot teurer Geschenke an Dritte, die eine bedeutende politische oder strategische Position im Europäischen Parlament innehaben".

Ziel Katars war es, das Image des Landes für die Fußballweltmeisterschaft zu fördern und Fortschritte beim Schutz der Menschenrechte und bei den Arbeitsbedingungen von Migrant:innen zu propagieren. Die französische Abgeordnete Manon Aubry, Sprecherin der Linksfraktion, sagte: "Während der Verhandlungen über meine Entschließung zu den Menschenrechten hatte ich den Eindruck, dass einige Kollegen die Erklärungen von Katar Wort für Wort wiederholten."

Die Spur führt nach Rabat

Inzwischen führt die im Juli eingeleitete Untersuchung über "Unterwanderung und Einmischung in die Politik der Union", wie sie von den Brüsseler Ermittlungsbehörden aufgedeckt wurde, neben der katarischen Spur nun auch nach Marokko. Rabat ist daran interessiert insbesondere in der Frage der Handelsrechte und der Westsahara auf die Europaabgeordneten einzuwirken.

Nach Ansicht der Brüsseler Staatsanwaltschaft, wirkt der marokkanische Geheimdienst auf die Abgeordneten des Europäischen Parlaments ein, mit einem Ausmaß, das "nur die Spitze eines Eisbergs" darstellt.

Nach dem neuesten Stand der Ermittlungen soll "die Politik der Fraktion der Sozialisten und Demokraten im Namen Marokkos von einem Team aus drei Italienern beeinflusst worden sein", deren Namen der Reihe nach genannt werden: Antonio Panzeri, der derzeitige Europaabgeordnete Andrea Cozzolino und sein Mitarbeiter Francesco Giorgi, unterstützt von Mohamed Belahrache, einem Beamten der DGED (Generaldirektion für Studien und Dokumentation), dem Geheimdienst Marokkos.

Laut der belgischen Zeitung Le Soir hat die Brüsseler Staatsanwaltschaft "Beweise für Korruption und Rekrutierung durch den marokkanischen Geheimdienst" bei einer Gruppe von Politiker:innen im Europäischen Parlament gefunden, um "die notwendigen Beschlüsse zur Förderung von Wirtschaftsabkommen mit Marokko, das Image des Landes im Bereich der Menschenrechte und die Umsetzung des Annexions- und Autonomieplans für die Westsahara" zu beeinflussen.

Marokkos geheimer Plan war, die Abkommen mit der EU zu verlängern, insbesondere mit Hilfe von Panzeri (damals Leiter der Delegation des Europaparlaments für den Maghreb), dem Franzosen Gilles Pargneaux, dem deutschen Sozialdemokraten Elmar Brock, dem spanischen Europaabgeordneten José Ignacio Salafranca und dem belgischen Sozialisten Marc Tarabella, allesamt "vertraute Freunde" Rabats.

Das marokkanische Königreich hat über seine Verbindungen zu Exponenten wie Panzeri Handelsabkommen mit Europa - dem größten Binnenmarkt der Welt - abgeschlossen, ohne dabei jemals das politische Ziel der Anerkennung der Westsahara als Region unter seiner "Souveränität" aus den Augen zu verlieren. Marokko hat die Europäische Union wiederholt aufgefordert, die gleiche Linie wie Washington (Anerkennung der Besetzung im Jahr 2020 durch Präsident Trump) einzuschlagen und den marokkanischen Vorschlag von 2007 "über die Autonomie der Westsahara innerhalb der Grenzen des Königreichs" zu unterstützen.

Die Unterstützung Marokkos wurde u.a. durch das 2019 in Kraft getretene Abkommen zwischen der EU und Marokko über "Landwirtschaft und Fischerei" deutlich. Das Europäische Parlament billigte mehrheitlich ein Abkommen, das die von Marokko völkerrechtswidrig okkupiert Westsahara ausdrücklich einschließt. Die Französin Patricia Lalonde, Mitglied der Fraktion der Liberalen und Berichterstatterin des Europäischen Parlaments für den umstrittenen Vorschlag, hatte sich vehement dafür eingesetzt, das Abkommen auf die besetzte Westsahara auszudehnen.

Das Abkommen wurde später, im Jahr 2021, vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) für nichtig erklärt, weil es "ohne die Zustimmung des Volkes der Westsahara und seines rechtmäßigen Vertreters, der Polisario-Front", unterzeichnet wurde.

Lalonde trat später zurück. Der Grund für ihren Rücktritt: ihre Mitgliedschaft in der EuroMedA-Gruppe, einer marokkanischen Lobby mit einem Budget von 20 Millionen pro Jahr, die gegründet wurde, um "neue Unterstützer zu gewinnen". Patricia Lalonde ist außerdem als Verteidigerin des Alijew-Regimes in Aserbaidschan bekannt. Nach der Kritik des Europäischen Parlaments an der Unterdrückung der Menschenrechte und der Unterdrückung der freien Medien in Aserbaidschan gab Lalonde eine Erklärung ab: "Das Europäische Parlament bedrängt Aserbaidschan zu sehr". Darüber hinaus bezeichnete sie auch die Einschränkung der Pressefreiheit durch Aserbaidschan als "verständlich". Lalonde ist auch Vorstandsmitglied der Nichtregierungsorganisation "Global Network for Rights and Development" (GNRD), die sich dafür einsetzt, dass die "bemerkenswerten Bemühungen Aserbaidschans, des einzigen muslimischen Landes in der östlichen Nachbarschaft, von der EU anerkannt und gefördert werden". Die in Norwegen registrierte und von einer Handelsgesellschaft aus den Vereinigten Arabischen Emiraten finanzierte NGO wurde von den norwegischen Behörden wegen des Verdachts auf Geldwäsche angeklagt.

Partnerschaft EU-Marokko

Für Rabat ist die EU-Marokko-Partnerschaft und die Unterzeichnung neuer Abkommen ein "entscheidender Punkt", da sie europäische Hilfe in Höhe von mehreren zehn Millionen Euro pro Jahr zum Thema Migration und Grenzverwaltung bereitstellen. Genau aus diesem Grund wird die Tätigkeit von EuroMedA von Rabat als "wirksam" eingestuft, da sie darauf abzielt, die Menschen über die mangelnde Achtung der Menschenrechte in der Westsahara hinwegzutäuschen.

Neokoloniale Wende in der deutschen Außenpolitik

Die in den letzten Jahren erfolgten "Öffnungen" der EU gegenüber Marokko sind auf die intensive Lobbyarbeit und hauptsächlich auf diplomatischen und wirtschaftlichen Druck zurückzuführen, wie im Falle Deutschlands, oder auf Erpressung im Zusammenhang mit unkontrollierten Migrationsströmen, wie im Falle Spaniens. Diese beiden Länder haben sich kürzlich für den marokkanischen Vorschlag eines Autonomieplans für die besetzte Westsahara ausgesprochen.

Im Rahmen ihres Antrittsbesuchs in Marokko Ende August 2022 hat Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) mit der Regierung Marokkos die Wiederaufnahme und Vertiefung der deutsch-marokkanischen Beziehungen vereinbart. Sie beteuerte, dass es zwischen der deutschen und marokkanischen Sichtweise hinsichtlich der Westsahara nur "in Nuancen Unterschiede“ gebe. Die Ampel-Regierung ist zunehmend an Projekten für erneuerbare Energien und Plänen zur Herstellung von grünem Wasserstoff im Maghreb interessiert und hat eine stärkere politische, wirtschaftliche und technologische Präsenz in Nordafrika zu einer Priorität gemacht. (siehe kommunisten.de: "Westsahara: Neokoloniale Wende in der deutschen Außenpolitik")

Es ist jedoch klar, dass die Regierung des nordafrikanischen Königreichs einen radikalen Tempowechsel auf europäischer Seite anstrebt: daher die Lobbyarbeit, die nach Ansicht der belgischen Richter zu "echten Korruptionshandlungen" geführt hat.

EU-Außenminister Borrell: "wichtige Rolle" Marokkos für Frieden und Stabilität

Dies hindert die EU-Kommission jedoch nicht, die Beziehungen zum autoritär regierten Marokko zu intensivieren. Auf politisch-diplomatischer Ebene fand am 5. Januar ein zweitägiger offizieller Besuch des Hohen Vertreters der EU für Außenpolitik, Josep Borrell, in Rabat statt, um mit Premierminister Aziz Akhannouch und Außenminister Nasser Bourita bilaterale Abkommen zu erörtern. "Wir dürfen nicht vergessen, dass es zum jetzigen Zeitpunkt nur Anschuldigungen, aber keine Beweise und keine abgeschlossenen Untersuchungen gibt. Niemand hat vom juristischen Standpunkt aus gesagt, dass Marokko schuldig ist und bei internationalen Kontakten gemieden werden sollte", erklärte Borrells Sprecher Peter Stano zu diesem Thema.

Borrell lobte in Rabat die "wichtige Rolle" Rabats für Frieden und Stabilität in der Region, insbesondere in Libyen, und kündigte neue Initiativen zur weiteren Stärkung der Partnerschaft zwischen Marokko und der EU an, darunter einen hochrangigen Dialog über Sicherheit, der demnächst in Rabat stattfinden soll.

Borrell erklärte zudem, dass die EU-Hilfe für das Land von 1,4 Milliarden Euro im Zeitraum 2014-2020 auf 1,6 Milliarden Euro im Zeitraum 2021-2027 aufgestockt werde.

Zu den Korruptionsermittlungen sagte Borrell an der Seite des marokkanischen Außenministers Nasser Bourita, er habe diese bei seinem Amtskollegen "zur Sprache gebracht", warte aber auf den Abschluss der offiziellen Verfahren. Im Übrigen gebe es dabei "Null Toleranz".


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