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Selensky AKW Saporischschja Guardian18.08.2022:  Seit Tagen steht das größte AKW Europas unter Beschuss ++ der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky erklärt, dass russische Soldaten im Atomkraftwerk Saporischschja ins Visier genommen werden ++ Internationale Atomenergiebehörde IAEO: Gefahr einer nuklearen Katastrophe ++ Russland schlägt Feuerpause und Besuch durch Internationale Atomenergieagentur vor

 

Seit Tagen steht das Atomkraftwerk Saporischschja in der Stadt Energodar in der Südostukraine unter Beschuss. Berichten zufolge gab es Schäden an einem Stickstoff-Sauerstoff-Lager sowie in einer Schaltanlage. Auch das Standortzwischenlager für abgebrannte Brennelemente und eine Pumpstation soll zuletzt getroffen worden sein, Messeinrichtungen für die Umgebungsüberwachung gingen zu Bruch. Russland und die Ukraine machen sich gegenseitig für die Angriffe auf das AKW verantwortlich.

Russische Truppen hatten die Anlage - das größte Kernkraftwerk Europas, das bis zu 20 % des ukrainischen Energiebedarfs deckt - zu Beginn des Krieges erobert. Der Betrieb des AKW wird immer noch von den ukrainischen Mitarbeiter*innen aufrecht erhalten, die aber jetzt für den russischen Atomenergie-Konzern Rosenergoatom arbeiten.

Zwei der sechs Reaktoren sind derzeit in Betrieb, und die Ukraine hat behauptet, Russland versuche, das Kraftwerk wieder an die besetzte Krim anzuschließen und die Stromversorgung der von Kiew gehaltenen Städte abzuschalten.

Vor diesem Hintergrund ist die von der ukrainischen Regierung verbreitete und den hiesigen "Qualitätsmedien" kritiklos übernommene Meinung äußerst unwahrscheinlich, dass sich die russische Armee selbst beschießt -auf die Gefahr hin, ihre Soldaten zu verstrahlen, das eroberte Gebiet unbewohnbar zu machen und das Risiko einzugehen, dass bei normalen Wetter- und Windverhältnissen (der Wind bläst in Saporischschja überwiegend Richtung Süden oder Osten) große Gebiete Russlands bis zum nur 460 km entfernten Moskau verstrahlt werden.

Dass die ukrainische Armee das AKW beschießt, wurde vom ukrainischen Präsident indirekt bestätigt. Die britische Zeitung The Guardian veröffentlichte am 14. August ein Video, in dem Selensky erklärt, dass die Ukraine "russische Soldaten im Atomkraftwerk Saporischschja ins Visier" nimmt. [1] Außerdem gab die ukrainische Armee bekannt, dass sie erfolgreich ein Wasserkraftwerk beschädigt habe, das zur Kühlung des AKW nötig ist und nun im Notbetrieb läuft.

Gefahr einer nuklearen Katastrophe

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO), die das Kraftwerk inspizieren will, hat vor einer möglichen nuklearen Katastrophe gewarnt, falls die Kämpfe nicht eingestellt werden. Nuklearexperten befürchten, dass die Kämpfe die Becken mit abgebrannten Brennelementen oder die Reaktoren der Anlage beschädigen könnten. Die größte Gefahr liegt aber darin, dass – ähnlich wie bei der Katastrophe von Fukushima in Japan – die unabhängige elektrische Zufuhr zur Kühlung der Brennstäbe – auch der Brennstäbe der bereits abgeschalteten fünf Generatoren – unterbrochen wird. In diesem Fall überhitzen die Brennstäbe, Gas bildet sich, er kommt zu einer gewaltigen Explosion – siehe Fukuschima – und einer Kernschmelze.

Für das AKW Saporoschje wird die zur Kühlung benötigte elektrische Energie von dem in der Nähe liegenden Wasserkraftwerk Kachowka, das am Ende des Stausees liegt, über Überlandleitungen geliefert. Diese Kraftwerk wurde von den ukrainischen Streitkräften mehrmals beschossen. Dadurch wurde die Dammbrücke beschädigt und Turbinen mussten abgeschaltet werden, so dass das Kraftwerk nach russischen Angaben nur noch im Notbetrieb läuft.

Anlässlich der Sitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, die am 11. August in New York stattgefunden hat, hat der russische UNO-Botschafter erneut die Selensky-Regierung in Kiew beschuldigt, "nuklearen Terrorismus" zu betreiben. Er warnte dringend davor, dass die ukrainische Artillerieangriffe auf das von russischen Soldaten besetzte AKW zu einer Katastrophe führen könnte, die noch viele schlimmer wäre als die in Tschernobyl im Jahr 1986.

Der ukrainische Präsident Selensky seinerseits wirft Russland Erpressung vor. "Keine Nation der Welt kann sich sicher fühlen, wenn ein terroristisches Land ein Atomkraftwerk angreift", sagte Selensky in einer seiner Videobotschaften. Die "Besatzer" nutzten das AKW, um "auf extrem zynische Weise", Angst zu verbreiten, so Selensky. Selenskyj forderte den Westen zu Sanktionen gegen Russlands Atomindustrie auf. Die Strafmaßnahmen müssten die Nuklearindustrie Russlands treffen. Ukrainische Diplomaten und Vertreter der Partnerstaaten unternähmen nun alles, um Russlands Atomindustrie zu blockieren. Außerdem müsste der Westen mehr und schwerere Waffen liefern.

Die NATO-Staaten und ihre engsten Verbündeten fordern Russland dazu auf, seine Soldaten aus dem AKW Saporischschja und aus der Ukraine abzuziehen.

Russland: Feuerpause um das AKW

Moskau hat laut der russisches Nachrichtenagentur Ria Nowosti eine Feuerpause vorgeschlagen. Die Feuerpause soll demnach in der gesamten Umgebung des Atomkraftwerks gelten. Der Vertreter der russischen Besatzungsbehörde, Rogow, sagte, die internationalen Vermittler sollten nicht darüber sprechen, Streitkräfte zu entmilitarisieren, sondern darüber, unter welchen Bedingungen der Beschuss aufhören könne.

Inzwischen deutet Russland an, einer Entmilitarisierung der Zone um das AKW Saporischschja nicht vollständig abgeneigt zu sein. Die Forderung einer Entmilitarisierung sei "vernünftig", erklärte der Vizechef des Außenausschusses im russischen Parlament, Wladimir Dschabarow. "Ich denke, wir werden das unterstützen", sagte er der Agentur Interfax zufolge. Die Kontrolle über das AKW werde Moskau aber behalten.

Russland ist eigenen Angaben auch dazu bereit, internationale Experten den Zugang zu Saporischschja zu ermöglichen. Der russische UNO-Botschafter Wassili Nebensja erklärte, eine solche Mission solle "möglichst schnell – vielleicht sogar bis Ende August stattfinden".

Der russische Vertreter bei der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA), Michail Uljanow, sagte in einem Interview der russischen staatlichen Nachrichtenagentur TASS, dass es jetzt Aufgabe des UN-Sekretariats sei, grünes Licht für einen Besuch des AKW durch Expert*innen der IAEA zu geben. Die IAEA könne sich dann selbst um die "Modalitäten der Reise in die Unruheregion" kümmern, sagte Uljanow. Zuletzt war ein Inspektionsbesuch der IAEA gescheitert, weil es Streit um die Reiseroute gibt. Wie es heißt, hat die UN eine Reise von IAEA-Chef Rafael Grossi nicht nur aus Sicherheitsgründen bisher nicht erlaubt, sondern auch weil Grossi zum Ärger der Ukraine etwa unter russischem Schutz über die Schwarzmeer-Halbinsel Krim anreisen könnte. "Wir haben mit der Organisation sehr eng gearbeitet im Mai/Juli und den Besuch vorbereitet. Das UN-Sekretariat hat ihn im letzten Moment blockiert, ohne die Gründe dafür zu erklären", sagte Uljanow.

Von ukrainischer Seite gibt es bislang keine Stellungnahme zum russischen Vorschlag einer sofortigen Waffenruhe. Am gestrigen Mittwoch schlugen wieder Granaten im Gelände des AKW ein. Was bedeutet, dass die Lage in und um Saporischschja nach wie vor angespannt ist und mit jeder neuen Attacke die Gefahr einer nuklearen Katastrophe wächst.

"Wenn die Welt untergeht, weil wir der Ukraine helfen, dann soll es halt so sein!", sagte die ukrainische Sängerin Mariana Sadovska am 28. März im Kanzleramt bei einer Veranstaltung in der Reihe "Kultur im Kanzleramt". (siehe kommunisten.de: "Nein, die Welt soll nicht untergehen, Frau Sadovska. Es gibt vernünftigere Lösungen.")
Mit dem Beschuss des AKW Saporischschja rückt dieser "Weltuntergang" ein Stück näher.

 

Anmerkungen

[1] The Guardian, 14.8.2022: "Ukraine says it will target Russian soldiers at Zaporizhzhia nuclear power plant"
https://www.theguardian.com/world/2022/aug/14/ukraine-says-it-will-target-russian-soldiers-at-zaporizhzhia-nuclear-power-plant
https://www.theguardian.com/world/video/2022/aug/14/ukraine-target-russian-forces-zaporizhzhia-nuclear-plant-zelenskiy-video