Im Interview

VE Nestor Francia30.11.2021: Der Dichter und revolutionäre Essayist, Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung, Néstor Francia, interpretiert das Ergebnis der Wahlen am 21. November in Venezuela .

 

 

Es war mehr als ein Sieg, es wirkt wie ein Triumph: 20 von 23 Bundesstaaten wurden erobert, plus der Diskrit der Hauptstadt Caracas. Aber die PSUV, die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas, kann es sich nicht leisten, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Denn wenn die extreme Rechte bei den Wahlen am Sonntag genau den Misserfolg geerntet hat, den sie gesät hat, so zeigen die vom Nationalen Wahlrat (CNE) übermittelten Daten auch, dass die Unterstützerbasis der Regierung Maduro gefährlich schrumpft. Deshalb muss die Notwendigkeit einer Wiederbelebung des Traumes von Chávez dringend auf die Tagesordnung gesetzt werden. Il manifesto sprach darüber mit Néstor Francia, einem revolutionären Dichter und Essayisten, der auch Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung war.

Frage: Wie interpretieren Sie das Wahlergebnis?

Néstor Francia: Meiner Meinung nach können wir von einer absoluten und einer relativen Niederlage sprechen. Für die erste steht die extreme Rechte, die von Leuten wie Leopoldo López und Juan Guaidó angeführt wird. Es fehlt nur noch die Errichtung eines Grabsteins, aber das scheint die Aufgabe der US-Regierung, des relativen Verlierers, zu sein.

Mit diesen Wahlen haben die Venezolaner*innen Zeit für Frieden gewonnen. Ich weiß nicht, für wie lange, aber ich hoffe für immer. Andererseits bestätigt das Ergebnis alles, was das venezolanische Volk in den letzten Jahren verloren hat: Vertrauen, Führung, Zugehörigkeitsgefühl. Die PSUV hat an institutioneller Stärke und vielleicht sogar ein wenig an internationaler Legitimität gewonnen, da sie in 21 von 24 föderalen Gremien gewonnen hat. Dies ist jedoch eher auf die Solidität ihres politischen Apparats zurückzuführen als auf die Unterstützung der Bevölkerung, die nach und nach zurückgegangen ist.

VE Wahl2021

 

Venezuela: PSUV gewinnt 20 von 23 Gouverneursposten. 

 

Frage: Ist die niedrige Wahlbeteiligung ein Hinweis darauf?

Néstor Francia: Nach den von der CNE übermittelten Daten erhielt die PSUV etwa 3,7 Millionen Stimmen, während die Oppositionskräfte insgesamt etwa 4,4 Millionen Stimmen erhielten. Von etwas mehr als 21 Millionen Wählern wurde die PSUV von 18 % der Wahlberechtigten gewählt, was das schlechteste Ergebnis in ihrer Geschichte darstellt. Wie der politische Analyst Fernando Rivero sagte, "ist die Bolivarische Revolution in Gefahr".

Es ist die Praxis der Politik selbst, die sich verschlechtert hat. Der Diskurs der verschiedenen Kräfte ist monoton, sich immer wiederholend, pragmatisch, ideenarm und immer weiter von der Realität und den Bedürfnissen der einfachen Menschen entfernt. Mit Chávez gab es eine wichtige Forderung nach Politik, aber diese ist nun fast vollständig verschwunden.

Es ist an der Zeit, dass die PSUV den kritischen Stimmen derjenigen, die ihre Verbündeten waren, demütig und ernsthaft zuhört. Es geht nicht nur um die Verbesserung des wirtschaftlichen und sozialen Managements, wo es einige Anzeichen von Offenheit gibt, die sich als vorteilhaft erweisen könnten, sondern um die Art und Weise, wie Politik gemacht wird.

Frage: Was sind die Hauptgründe für diesen Rückgang der Unterstützung?

Néstor Francia: Eine der Ursachen ist natürlich die Wirtschaftskrise, die zu einem großen Teil auf die kriminellen Sanktionen der Vereinigten Staaten zurückzuführen ist. Aber nicht nur diese. Die chavistischen Regierungen haben viele wirtschaftliche Fehler gemacht. Bereits mit Chávez an der Regierung und mit dem in die Höhe geschossenen Barrelpreis erzielte Venezuela enorme Einnahmen aus dem Ölverkauf. Sie verwalteten jedoch weiterhin die Wirtschaft, indem sie diese Einnahmen in der Art und Weise sozialdemokratischer Regierungen verteilten, was auf lange Sicht keine nachhaltigen sozialen Wirkungen hatte. Natürlich befand sich Chávez in einer kritischen Situation, und es war richtig, dass er mit der Tilgung der immensen sozialen Schulden begann. Dies hätte jedoch mit massiven produktiven Investitionen verbunden werden müssen, um die Wirtschaft von der Ölmonoproduktion zu befreien und uns unabhängiger vom internationalen Kapitalismus zu machen. Dies wurde nicht getan, und der Fehler ist zu spüren.

Auf der anderen Seite gibt es die politischen Fehler: Arroganz, Eitelkeit, Sektierertum und Intoleranz einiger Führer richten großen Schaden an. Die PSUV ist zu einer Minderheitensekte geworden, ähnlich wie die Evangelikalen, mit ihren Dogmen, Liedern, Psalmen, Pastoren und Ritualen, die sich immer weiter vom Volk entfernt und in sich selbst verschlossen hat. Wäre es nicht an der Zeit für einen Wechsel an der Spitze?

Frage: Was ist aus dem Prozess des Übergangs zum Sozialismus geworden, angesichts solch ausgeprägt kapitalistischer Maßnahmen wie dem "Ley Antibloqueo" und dem Gesetz über die Sonderwirtschaftszonen?

Néstor Francia: Diesen angeblichen Übergang zum Sozialismus hat es in Venezuela nie gegeben. Heute frage ich mich in der Tat, was der Sozialismus eigentlich ist und wie er aufgebaut wird. Fidel Castro sagte einmal in einer Rede an der Universität von Havanna, dass der größte Fehler der kubanischen Revolutionär*innen darin bestand zu glauben, dass jemand wüsste, wie man den Sozialismus aufbaut. Venezuela hat seinen abhängigen Kapitalismus nie überwunden. Und da die Großkapitalisten weiterhin im Lande bleiben und gute Geschäfte machen, sind diese Gesetze zur Einbeziehung des nationalen und internationalen Kapitals in die Wirtschaftsprozesse nichts anderes als das Ende einer Illusion und die Rückkehr zur Realität.

Frage: Welche Auswirkungen hat das Bergbauprojekt "Arco Minero del Orinoco" [1] auf den venezolanischen Amazonas? Hat das Land das beim COP26 unterzeichnete Abkommen über die Entwaldung nicht unterschrieben, um die Bergbauaktivitäten zu erhalten?

Néstor Francia: Das Thema Arco Minero wurde von der Regierung undurchsichtig gehandhabt: Die meisten Venezolaner*innen wissen nichts davon. Etablierte Forscher wie Esteban Emilio Mosonyi und Francisco Javier Velásquez haben sich mit Nachdruck gegen die Art und Weise, wie dieses Projekt durchgeführt wird, ausgesprochen, aber sie wurden ignoriert. Die Regierung verhält sich so, als ob die Region ihr gehöre und niemandem sonst, während sich illegaler Bergbau, Gewalt und Angriffe auf die Umwelt ausbreiten, wobei sie nicht sagen kann, in welchem Ausmaß. Auf jeden Fall kümmern sich die venezolanischen Behörden wenig um Umweltfragen und sind sich der Tatsache nicht bewusst, dass es sich hierbei um das dringendste Problem der heutigen Menschheit handelt. Aber jenseits von "blah blah blah" ist dies leider überall auf der Welt der Fall.

Frage: Halten Sie es trotz allem für notwendig, die Regierung Maduro zu unterstützen?

Néstor Francia: Ich unterstütze, was unterstützenswert ist, und lehne ab, was abzulehnen ist. Uns Kritiker*innen wurde vorgeworfen, die Rechte zu bevorzugen. Ich glaube, was die Rechte begünstigt, sind die Fehler und die mangelnde Kohärenz der Linken. Denn, wie Marx sagte, braucht die Revolution manchmal die Peitsche der Konterrevolution, um voranzukommen.

 

übernommen von il manifesto, Ausgabe vom 28.11.2021
https://ilmanifesto.it/venezuela-la-lezione-di-una-vittoria-a-meta
eigene Übersetzung
 

 

Anmerkungen

[1] 2016 kündigte der venezolanische Präsident Nicolás Maduro Pläne für den "Arco Minero del Orinoco" an, der den Bergbau in einem Regenwaldgebiet von 112.000 Quadratkilometern südlich des Orinoco-Flusses für die Gewinnung von Gold und Coltan (ein Mineral, das in vielen elektronischen Produkten verwendet wird) vorsieht.