Literatur und Kunst

Zur Berliner Erstaufführung der Originalfassung DIE TAGE DER COMMUNE  

Tage-der-Kommune-129.11.2017: Am 17. November 2017 und an zwei unmittelbar folgenden Abenden, exakt 61 Jahre nach der posthumen 1956er Uraufführung von Bertolt Brechts "Die Tage der Commune", ging das Simon-Dach-Projekttheater Berlin mit der erstveröffentlichten Fassung (Versuche, Band 15) auf interaktive Tuchfühlung zum vergnüglich über-/einstimmenden Publikum.

Die aufs wesentliche konzentrierte Inszenierung mit nur 10 Darsteller_innen unterschiedlicher Generation in 14 thematischen Kleinszenen hält sich konsequent an Brechts nüchterne Szenenvorgaben und an seine benutzten Quellen. (Mögliche mündliche Änderungsabsichten sind in diese Drucklegung bei seinem plötzlichen Tod nicht mehr eingegangen.) Erstmals wird die komplette Orchestermusik auch verwendet, wie sie Hanns Eisler vor der Uraufführung in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) für die Tonaufzeichnung dirigierte – kleine Ouvertüre, Zwischenaktmusiken und Finale, drei Tänze. Vier neue Lieder entstanden 1956, ergänzend zu seinen weltbekannten thematischen Vorgriffen aus den 30er Jahren: "In Erwägung" und "Keiner oder alle". Das außerhalb des Stücks entlehnte "Bankenlied" schärft als siebentes die kommentierende Ebene (musikalische Leitung und Klavier: Uwe Streibel).

Die wenigen Mehrfachdarsteller, Regisseur und Ausstatter Peter Wittig eingeschlossen, bewältigen vor dem Brechtvorhang insgesamt 40 Rollen in ernstzunehmender Auseinandersetzung als kollektiv agierende Helden für eine neue Zeit.

 

Darum geht es.

Das Stück erzählt die Geschichte einer kleinen Familie inmitten von großer Geschichte.
Es ist Drama, es ist Komödie, auch schwarze Komödie, es hat viel Musik.
Es beginnt als Räuberpistole: Einem Kellner werden von den Gästen die Preise gemacht und ein Brathuhn wird beschlagnahmt.
Es endet als Requiem. Der Apfelbaum blüht, doch es sind alle tot.
Vielleicht aber sagen wir lieber: Alle sind tot, doch der Apfelbaum blüht.
Das Stück erzählt von den 72 Tagen der Pariser Commune im Jahre 1871. Es rühmt ihre revolutionären Leistungen, kritisiert ihre Fehler und zeigt ihren Kampf gegen die Konterrevolution, den sie nicht gewinnen konnte.
Wir spielen kein Historiendrama. Wir riskieren den Rückblick auf vergangene Kämpfe als Vorblick auf die zukünftigen.

http://www.sidat-pro.de/#!/main/premiere

 

"Theater kann die Welt nicht ändern. Theater kann Mut machen, sie zu ändern. Dass wir das Stück im 100. Jahr der Klassenkämpfe spielen, die einmal die Welt erschütterten, ist Programm", betont der Berufsregisseur und Schauspielschuldozent Peter Wittig. "Dass wir es spielen angesichts der eskalierenden imperialistischen Roll-Back-Politik, ist Ausdruck unserer Sorge. Wer sich einlässt auf 'Tage der Kommune' – so der ursprüngliche Titel (*) –, kommt an der Referenzinszenierung des Berliner Ensembles nicht vorbei, mit 188 Aufführungen von 1962 bis 1971 eine Theaterlegende. Wir würdigen die tiefgreifend bearbeitete bis umgeschriebene Spielfassung des Berliner Ensembles als eine eigenständige Version des Stücks. Bei allem gebotenen Respekt, für uns ist sie historisch. Wir wagen die Berliner Erstaufführung von Brechts Original und werden das Stück bis zu seinem 120. Geburtstag am 10. Februar spielen."  

Die Anregung zu schlüssigem Nachdenken im gastgebenden Prenzelberger "Theater unterm Dach" bringt mir Brechts Exil-Erfahrung in Erinnerung, er ziehe (improvisatorische) Universitätsaufführungen seiner Stücke den kommerziellen vor.

Die Handlungsebene beginnt um den 19. Januar und erstreckt sich bis zum 28. Mai 1871. In der quartiers-"familiären" Feier zur Proklamation der Kommune am 28. März 1871 kulminieren die charakteristischen Einzelzüge der Fabel-Figuren, die im materialistisch-dialektisch bewegten Gesamtzusammenhang von Sieg – Niederlage eine bisher unbekannte Einheit von "oben" und "unten" verkörpern: Ein reformorientierter, Abordnungen offenstehender Rat der Kommune und dynamisch drängende Arbeiter. Zunehmend geht es dabei um die sofort anzupackende Zerschlagung des alten Staats- und Regierungsapparats am Rückzugsort in Versaille. Von dort aus wird Bismarcks konterrevolutionäre Militärhilfe zum tödlichen Schlag gegen die Kommune gesteuert – in Form von zurückgegebenem französischem Kriegsgerät sowie von gelieferten Maschinengewehren, und zusätzlich aufgestellten Regimentern von 150.000 freigelassenen Soldaten aus ländlichen, oft weniger klassenbewussten Gemeinschaften.

 

"In den Zeiten der Schwäche fehlt es oft nicht an richtigen Leitsätzen, sondern an einem einzigen.
Von der Lehre passt ein Satz zum anderen, aber welcher passt zum Augenblick?
Es ist alles da, aber alles ist zuviel.
Es fehlt nicht an Vorschlägen, aber es werden zuviele verfolgt.
Es fehlt nicht an Wahrnehmungen, aber sie werden zu rasch vergessen.
In den Zeiten der Schwäche ist man engagiert, und man engagiert sich nicht. / In den Zeiten der Schwäche / ist vieles wahr aber es ist gleich wahr; ist viel nötig und kann vieles geschehen; der Ausgeschaltete ist in Ruhe versetzt und hat keine Ruhe."

Bertolt Brecht, Werke Band 21, S. 585

 

Wie schon bei Brecht angelegt, erscheinen die antagonistischen Widersacher der Kommunarden durchgehend in satirischer Verfremdung: Bourgeoises als Verkörperung bzw. Vertreter der zu Bürgerkrieg und nationalem Verrat bereiten Regierung Thiers. Schon vor dem preußischen Friedensdiktat Bismarcks gegen die Communen von Paris und anderen Städten versuchen sie vorauseilend die freiwillige proletarische Nationalgarde zu entwaffnen bzw. schweres Kriegsgerät heimlich von den Nationalgardisten abzuziehen und in mögliche Zonen der nachrückenden preußischen Siegermacht zu verbringen. (Die historische Nationalgarde rettete 227 Kanonen vor deren Zugriff.) Dieser Kampf geht einher mit Versuchen vorenthaltener Löhnung und von Lebensmittelverknappung gegen die gefährliche proletarische Bewegung. August Bebel und Wilhelm Liebknecht haben ihr im Berliner Reichstag internationalistische Solidarität bekundet und von einem Beispiel für Europa gesprochen. Den Quartieren der roten Fahne, im Stück dem Arbeiterbezirk Montmartre, einem "besonders gefährlichen Nest", sagt die Internationale des Kapitals schon aus diesem Grund den vernichtenden Kampf an.

Was geht szenisch vor sich, was ist historisch mitzudenken?

In der sich abzeichnenden Kapitulation von Paris im Belagerungsring der preußischen Truppen haben sich die Regierungssoldaten der nationalen Verteidigung – bürgerlich geführte französische Linientruppen – und die freiwillig zur Verteidigung der Nation bereite proletarische Nationalgarde, ebenfalls unter Regierungskommando, objektiv auf einen bewaffneten Kampf gegeneinander vorzubereiten. Es gibt Demonstrationen gegen den eilig bewerkstelligten französisch-deutschen Waffenstillstand. Denn die motivierte und durchaus erfolgreiche Nationalgarde will weiter kämpfen. Dies suchen zwei Liniengeneräle im Auftrag der verräterischen Regierung durch "Aderlass"-Taktik - mörderisch befohlene Einsätze - zu unterbinden. Mit der provisorischen Übernahme Tage-der-Kommune-2der Macht durch die Nationalgarde am 18. März 1871 werden sie dafür ohne schriftliches Urteil erschossen.

Am auszuhungernden Montmartre, einem Aktionsbereich der Nationalgardisten, greifen Sprechchöre der Frauen aufs solidarisch mitmachende Publikum über. So eingestimmt, kann auch der verhinderte heimliche Abzug einer Kanone durch den zivilen Widerstand von Proletarierfrauen locker mitempfunden werden. Im Bund mit der Näherin Madame Cabet (Margarete Steinhäuser) entschärfen sie den mit der Waffe im Anschlag geführten Loyalitätskonflikt von vorerst feindlichen Brüdern gleich mit: Francois und Philippe (Jerome Winistädt und Konstantin Klemm).

"Im Besitz der Waffen zur freien Kommune"

Beim Lied der Kommunarden in Marschformation („Resolution“) gelingt die gemeinsame stimmkräftige Aktion mit dem Publikum. „In Erwägung, dass wir der Regierung, was sie immer auch verspricht, nicht trau’n, haben wir beschlossen, unter eig’ner Führung uns ein gutes Leben aufzubau’n“ führt direkt zur Pariser Stadthaus-Besetzung am 19. März durch die Nationalgarde, zur Einsetzung ihres ZK als provisorische Regierung. Die lässt zum Schaden der abwesenden Thiers-Regierung eine Million Francs an die notleidende Bevölkerung in 20 Pariser Arrondissements verteilen. „Die Nationalgarde ist die bewaffnete Nation gegenüber der Staatsmacht.“

Der Internationalist Eugène Varlin (Merlin Delhaes) erklärt den Aufstand der Proletarier gegen den Versuch der Thiers-Regierung, sie zu entwaffnen, für rechtmäßig, damit sie ihr Geschick in die eigenen Hände nehmen können. „Im Besitz ihrer Waffen schreiten sie zur Wahl ihrer eigenen, freien und souveränen Kommune.“ Er verlangt für die Nationalgarde das Recht, ihre Führer zu wählen und ein freies Paris, aus dem das stehende Heer ausgeschlossen wird. Die fünf Milliarden Francs Kriegsentschädigung an die Preußen sollen jene bezahlen, die bisher am Krieg verdienten und nun enteignet werden sollten.  

Vier konservative Gemeinde-Bürgermeister protestieren gegen die gerechte Hinrichtung der beiden Generäle durch die Bevölkerung und rufen aus diesem Grund nach neuen Gemeinderatswahlen. Den proletarischen Gardisten soll die Regierungsverantwortung genommen werden. Das wird in der satirischen Form eines fingernden „Zylinderhutspiels“ vorgeführt (Maximilian Wrede, Jerome Winistädt). So sehr der blanquistische (anarchistische) Abgeordnete Rigault (David Hannak) auf das Recht der Verteidiger des Landes verweist, über das zukünftige Schicksal des Landes noch einmal mit der Gewehrkugel zu entscheiden – allein die bürgerlichen Wahlen werden beschlossen. Der Arbeiter Pierre Langevin (Markus Riexinger) antwortet auf die Feststellung der Lehrerin Geneviève (Anne Sophy Schleicher), Uneinigkeit sei schlecht: "Nein, das ist gut, das ist Bewegung. Vorausgesetzt, es ist die richtige Richtung."

Tage-der-Kommune-3Geneviève spricht begeistert von einem der größten Tage in der Geschichte Frankreichs. Der begleitende Nationalgardist „Papa“ (Robert Schonk) konstatiert nüchtern, entgegen seinem Rat werde nicht zugleich auf Versailles marschiert. Denn der geflohene Thiers und seine Leute haben die militärische Niederlage und den nationalen Verrat im Bund mit Bismarck zu verantworten. Trotzdem sucht  „Papa“ eine Ehrenrettung für den Augenblick: „Niemand wird sagen können, die Vertreter des Volkes haben den Bürgerkrieg gewollt.“ Geneviève träumt sogar hoffnungsvoll von einem Stück Utopie: „Es wird eine neue Zeit sein und es wird kein Blutbad gewesen sein.“

Marx, historisch über die Vorgänge immer gut informiert, sah im zu frühen Platzmachen der bewaffneten Regierung für die Kommune bereits ein Zeichen ihrer Schwäche und ihres unvermeidlichen Untergangs.     

Der demonstrativ-gestische Überraschungscoup in der verklungenen letzten Strophe von „Resolution“ stand dazu in Beziehung: Wenn es hieß, die Kanonen umzudrehn, zeigte die Gruppe auf das Wohin: „Bankfurt – monetär besetzte Zone“. (Das ist die Projektion eines provisorischen Ortseingangsschilds aus einer Blockupy-Dokumentation von 2013.)

Am selben Abend setzen sich die bürgerliche Regierung und ihr konterrevolutionärer Anhang nach Versailles ab. Jeans aufsehenerrende Intervention auf dem Gare du Nord ist gefährlich und hat keinen Erfolg. Im Gepäck das mitgenommene Vermögen der Bank von Frankreich, wird die Bourgeoisie fünf Milliarden Francs als Kriegsentschädigung an Bismarck zahlen und sie damit dem Zugriff der Kommune entziehen.

Am 29. März wird die gewählte Kommune proklamiert. Jetzt ist Schluß mit geheim zu beschließenden Not- und Unterdrückungsmaßnahmen. Eine Reihe von libertären Rechten des Volkes wird verkündet. An vorderster Stelle die Auflösung des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch das bewaffnete Volk: „Fordern wir die Arbeiter in den deutschen Heeren auf, den Arbeitern in den französischen die Hand zu reichen.“ Stundung der Mieten in Aufhebung eines Erlasses von Thiers; Einstellung des Verkaufs von verpfändeten Gegenständen. Eigentum darf nichts anderes sein als das Recht jedes einzelnen, nach dem Maß seiner Mitarbeit an dem kollektiven Ergebnis der Arbeit aller teilzunehmen.

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Die kriegerischen Reaktionen der Gegenseite lassen nicht lange auf sich warten. Um die dekretierten Freiheiten auch verteidigen zu können, fehlt es den Kommunarden in der Umbruchphase daran, sie gemäß den strategischen Erfordernissen auf Prioritäten auszurichten.

"Die Stadt ist bewohnbar geworden!"

„Wir brauchen keine bess’ren Herren, sondern keine.“ Die Pointe der passend eingefügten „Ballade vom Wasserrad“, gesungen von Margarete Steinhäuser, ist Brecht/Eislers „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ entlehnt. Dramaturgisch geschickt wird damit im Montmartre-Quartier an der Rue Pigalle zur Feier einer sich vergrößernden „Familie“ unter der roten Fahne übergeleitet (26. März). Mit Witwe Cabet, ihrem anfangs politisch unreifen Sohn Jean (Maximilian Wrede), später ein sehr verlässlicher Kommunarde, und mit seiner Liebsten Babette (Bianca Faber). Mit Jeans Freund Francois (Jerome Winistädt), der endlich von einem Priesterseminar weg zu einem staatlich finanzierten naturwissenschaftlichen Studium kommen will, und seiner Freundin, der Lehrerin Geneviève. Hinzu kommen die Nationalgardisten „Papa“ und Coco (Konstantin Klemm).

Sie trachten von außen danach, den Rat der Kommune „immer ein Stückchen weiter“ voranzutreiben. Der Kellner (David Hannack) ist jetzt neuer Patron des Caféhauses noch bevor das Übergabe-Dekret von verlassenen Produktionsstätten an die Arbeiter verabschiedet wurde. Der deutsche Kriegsgefangene „Fritz“ (Peter Wittig) sympathisiert und wird einbezogen. „Die Stadt ist bewohnbar geworden!“, ruft „Papa“ und meint den Auszug der Bourgoisie nach Versailles. Die Helden des Stücks erleben die Kommune, wie sie mit vorerst wenig Gewalt zur Macht gekommen ist, und idealisieren produktiv sich abzeichnende Veränderungen. Sie hoffen auf dauerhaft menschliche Verhältnisse.

Tage-der-Kommune-5 neuIn lärmender Spiellaune, mit reichlich viel Liedern, choreografierten Szenen der Liebe, der Eifersucht und des zusammenführenden Tanzes (Nadja Herzog) wird im Herzen der Kommune ein Stück lebbarer Utopie gezeigt. Das szenische Zentrum beherrscht der eingeladene Delegierte der Kommune, der Arbeiter Pierre Langevin (Markus Riexinger) mit seinem freundlichen, fruchtbaren, das heißt wohl auch seinem kämpferischen Verhältnis zur roten Fahne. „Fritz“ obliegt es zur internationalistischen Seite hin zu erweitern. Auf die solidarisch aus Berlin grüßenden sozialdemokratischen Abgeordneten August Bebel und Wilhelm Liebknecht bringt er einen Toast aus, kaum dass sie, vorerst, einer Festungshaft entkamen. Nach ihrem Beispiel lässt auch „Fritz“ die Kommune hochleben.

In den bekannten Liedern klingen Abwehr von Armut und Hunger, Genussfähigkeit in Todesverachtung, Sehnsüchte nach friedlichem Leben an. „Margot“ (vorgetragen von Anne Sophy Schleicher): Geneviéve verkündet zum trommelnden Rataplan-Refrain eine erfolgreiche proletarische Gegenstrategie zur künstlich verfügten Lebensmittel-Verknappung und Teuerungswelle. „Père Josephe“ (vorgetragen von Bianca Faber): Babette besingt im ihr zugedachten Lied einen genussfähigen Obdachlosen, der selbst vor seiner Hinrichtung nicht von echten Genüssen wie Schnittlauch für den Salat ablassen will; „Ostern ist’s. Bal-sur-Seine“: Wenn Madame Cabet und „Papa“ solo Walzer zu dieser friedlichen Antizipation tanzen, kann die Bedrückung des über 72 Tage stetig näherrückenden letzten Gefechts auf den Mai-Barrikaden kaum ausgeblendet werden („Ostern“ wird dort noch einmal gesungen).

Keine Gewehre als Stimmzettel

Mit dem sozialen Verrat der Bourgoisie geht der nationale Verrat zusammen. Regierungschef Thiers, Repräsentant der Finanz- und Industriekreise (Margarete Steinhäuser), macht sich in Bismarcks Auftrag bald daran, den signalgebenden ersten proletarischen Staat in Europa in Blut zu ersticken. „Wählt, solange ihr könnt!“, ruft der Nationalgardist „Papa“ den Delegierten im Stadthaus zu. „Doch unsere Stimmzettel müssen die Gewehre sein! Marschiert sofort auf Versailles!“ Denn die Waffen können nicht einfach abgegeben werden nach der vorläufigen Einstellung der Kämpfe mit den Preußen. Es geht um die Abwehr von Anschlägen, von Sabotage, von Spitzeln im Nonnenkostüm, von Verrätern und Überläufern. Im Rat kommt keine Einigung zustande, die Nationalbank zu beschlagnahmen und den Staatsapparat mit Gewalt zu zerschlagen.

Aus umfangreichen Materialsammlungen und Berichten zur historischen Commune von 1871 – die Brecht benutzte – geht hervor, daß ihrem gewählten Rat 17 Mitglieder der Ersten Sozialistischen Internationale angehörten. Einige von ihnen lässt Brecht in Spielszenen oder mit wesentlichen Auszügen ihrer Redebeiträge auftreten. Der zum Kapital versöhnlerisch gestimmte Charles Beslay (Konstantin Klemm), Mitglied des Finanzausschusses und Delegierter der Kommune bei der Banque de France, knickt vor der bürgerlichen Autorität ein und verhindert im Rat maßgeblich die Übernahme der Nationalbank. Auch wenn er nachträglich dem Bankgouverneur (Anne Sophy Schleicher) noch einmal richtige Fragen stellt, lässt er sich vom „Ehrenmann“ im Scheinwerferlicht blenden. Wo kaum zu übersehen ist, daß jener über den Erzbischof in Versailles die Regierung Thiers’ stützt, erklärt sich der Erpresste „für friedliche Verhandlungen“ bereit. Und versucht dann, die Kommune zu einem „Sparkurs aus Sachzwang“ zu überreden. Angesichts seines Verrats sieht er keinen anderen Ausweg als „mit den wenigen Mitteln hauszuhalten“.

Da kann extern nur eine Aufforderung aus dem „Bankenlied“ (Walter Mehring/Hanns Eisler) hereinfunken: „Wir stürmen die Banken, revidieren die Kassen!“ Peter Wittig nimmt es kommentierend ins Stück und singt es selber mit wacher, sehr kritischer Emphase.

Pierre Langevin (Markus Riexinger) trägt als Arbeiter-Delegierter der Internationale mehrfach Sorgen und Lösungsvorschläge an die Kommune heran. Auf seinen Antrag hin dekretiert sie die Trennung von Kirche und Staat. Langevin regt auch an, nur noch Arbeiter-Delegierte mit der Steuerung von finanziellen Kontrakten zu beauftragen. Doch interne Strömungsunterschiede divergieren. Wie bei der diskutierten Machtfrage kann auch hier keine andere Lösung als auf einigender revolutionärer Basis zustandekommen. Chorisches Streitgetöse verkeilt sich gegeneinander. Die Fraktionen rufen abwechselnd: „Übernahme der Banken in eigene Regie!“ – „Auf Versailles marschieren!“ – „Der Sozialismus marschiert ohne Bajonette!“ – „Aber seine Feinde haben Bajonette!“.

Die Berliner Reichstagsrede August Bebels (25. Mai 1871), worin er sich ausdrücklich zur Pariser Kommune bekennt, erhält unmittelbar vor der letzten Schlacht in Paris ein besonderes Gewicht. Diesen Kampf sah er als ein erstes „kleines Vorpostengefecht“ an in der bevorstehenden großen Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in ganz Europa. Bebels Schlachtruf an das gesamte europäische Proletariat begeistert: Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!

Tage-der-Kommune-6„Garantieren, nicht fraternisieren!“ war am 10. Mai 1871 im Foyer der Frankfurter Oper ein eigenartig dagegen gesetzter Ruf zur Spaltung und Vernichtung der Kommune. Es ging um den endgültigen Friedensschluss zwischen Deutschland und dem unterlegenen Frankreich. Bismarck (Robert Schonk) erteilt den Exekutionsauftrag wenn auch incognito, so doch barsch an Jules Favre (David Hannack), Außenminister in der „Regierung der nationalen Verteidigung“. Kontrastierend dazu wiegt er sich zum Belcanto-Selbsttod von Bellinis „Norma“: Die nationale Bourgeoisie hat Staatsopfer zu erbringen, will sie mit Unterstützung der Siegermacht vor der Kommune gerettet werden. 257 Millionen Francs  hat sie heimlich für die garantierte „Aufstandsbekämpfung“ gezogen und nun zu überweisen, zusätzlich zur milliardenschweren Kriegsentschädigung. Die Zustimmung der Nationalversammlung ist gewiss. Für die Beihilfe zur erwarteten Blutorgie in Paris wird zusätzlich ein militärisches Kontingent von französischen Kriegsgefangenen überstellt.

Blutbefleckte oder abgehauene Hände

In zugespitzter Situation bilanziert Langevin mit Geneviève die Dekrete der Kommune: „Sie beschweren sich, daß kein Geld für Kinderspeisungen vorhanden ist. Wissen Sie, was Beslay für den Barrikadenbau gestern triumphierend von der Bank gebracht hat? 11.300 Francs. Was für Fehler wir machen, was für Fehler wir gemacht haben!  Natürlich hätte man auf Versailles marschieren müssen, sofort, am 18. März. Wenn wir Zeit gehabt hätten! Aber das Volk hat nie mehr als eine Stunde. Wehe, wenn es dann nicht schlagfertig, mit allen Waffen gerüstet, dasteht. … Wir hätten nur einen einzigen Punkt statuieren sollen: Unser Recht zu leben!“ Geneviève: „Warum haben wir es nicht getan?“ Langevin: „Der Freiheit wegen, von der man nichts versteht. Wir waren noch nicht bereit, wie jedes Glied einer auf Leben und Tod kämpfenden Truppe auf die persönliche Freiheit zu verzichten, bis die Freiheit aller erkämpft war.“ Geneviève: „Aber wollten wir nicht nur unsere Hände nicht mit Blut beflecken?“ Langevin: „Ja, aber in diesem Kampf gibt es nur blutbefleckte Hände oder abgehauene Hände.“

Tage-der-Kommune-7Charles Delescluzes’ Rede vor Kommunarden für die Verteidigung von Paris (vorgetragen von Peter Wittig) versinnbildlicht wachgehaltenen Jakobinergeist und Nachdenken über proletarische Solidarität. Auch Delescluzes hat seine Stimme lange feierlich gegen die Gewalt erhoben. Jetzt lässt er die Übergabe von Unterschriftensammlungen zur Ablehnung von Versöhnungsgesten durch Frauen aus Pariser Arrondissements zu, damit auch die Delegierten der Kommune aus der Axt keinen Spaten machen. Verantwortlich leitet er die organisatorischen Verteidigungsmaßnahmen gegen die vorrückenden Thiers-Truppen ein. Als letzte Mittel bleiben der Barrikadenkampf und das Anzünden von Häusern. Dennoch hofft er darauf, dass Klassenbrüder sich verständigen können: „Ihr seid Arbeiter wie wir!“ Im ungleichen Kampf gegen die alles niederwalzende, rachsüchtige Reaktion wird er selber am 28. Mai 1871 auf einer Barrikade fallen. Der restaurative Staat lässt ihn noch 1874 „in Abwesenheit“ zum Tode verurteilen.

Varlins letzte Botschaft lautet: „Unsere Bourgeoisie verbündete sich ohne Bedenken mit dem Landesfeind, um den Bürgerkrieg gegen uns zu führen. Versailles übt Terror und wird uns noch alle niedermetzeln, so daß keine neue Zeit kommen mag. Wenn wir niedergeworfen werden, dann wegen unserer Milde, was ein anderer Ausdruck für Nachlässigkeit, und wegen unserer Friedlichkeit, was ein anderer Ausdruck für Unwissenheit ist. … Die Frage Unmenschlichkeit oder Menschlichkeit wird entschieden durch die geschichtliche Frage: ihr Staat oder unser Staat. … Wenn ihr die Freiheit wollt, müsst ihr die Unterdrücker unterdrücken. Und von eurer Freiheit soviel aufgeben, als dazu nötig ist. Ihr könnt nur eine Freiheit haben, die, die Unterdrücker zu bekämpfen! – „Nein, das bedeutet Diktatur!“ schallt es von den Bänken der anders denkenden Fraktion: „Wollt ihr leugnen, dass die Anwendung von Gewalt erniedrigt?“

Sklave, wer wird dich befreien?

„Keiner oder alle“ formulierten Brecht und Eisler den bekannten Auftrag, zu dem sich die Mitglieder des Projekttheaters vor einer Projektionswand formieren. Unter heute schwierigeren Bedingungen harrt er seiner Einlösung. Herausfordernd die dazu assoziativ ablaufenden Bilder, wiederkehrend in täglichen Fernsehnachrichten: Ausbeutung von asiatischen Näherinnen in ausgelagerten Produktionsstätten des Kapitals. Überfüllte Flüchtlingsboote im Massengrab des Mittelmeers. Eng unterteilte Notunterkünfte für Flüchtende in einem Klima von Rassismus und rechter Gewalt bei uns. Straßenlosungen zum Widerstand gegen Faschismus, gegen Bombenterror und gegen internationalen Waffenhandel.        

Ostern ist’s. Bal-sur-Seine: In einer Woche im Mai 1871 stürmen die Versailler Truppen Thiers’ schließlich die Barrikaden der Pariser Arbeiter und reißen sie endgültig nieder. Der Apfelbaum steht in voller Blüte, während das Militär vorrückt. In einem Rachefeldzug werden 30.000 Menschen niedergemetzelt werden.

Mit Blüten bekränzt und schußbereit stehen die Helden des Stücks im rot umrandeten Spielflächenkreis an der Barrikade, die ein Transparent ist: Ihr seid Arbeiter wie wir. Den anrückenden Versailler Soldaten, den von der Regierung zurückgekauften Kriegsgefangenen halten sie den Spruch ins Gewehrfeuer. Sie verabschieden sich einzeln und namentlich. Wir, das ist mehr als ich und du. Dann neigen sie nacheinander den Kopf seitlich.

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Die Aufgabe einer pathetischen Totenehrung kann und soll Hanns Eislers ernste Orchestermusik nicht erfüllen, wenn auf der Projektionswand nach und nach Porträts revolutionärer Vorbilder ins Gedächtnis gerufen werden. Die internationalistische Reihe – Wittig nennt sie „revolutionäre Ikonostas“ - beginnt bei Charles Delescluze und Genossen. Bald rückt sie dazu Rosa und Karl ins Zentrum, um sich über Jahrhunderte zurück- und vorausgreifend um zahlreiche andere revolutionäre  Vorbilder zu erweitern.

Der eigentliche Schluß scheint lapidar: Eine nah ans Publikum drängende närrische Gesellschaft besichtigt die Szene aus weiter Entfernung. „Unpolitische“, für jede käufliche Form von Vereinnahmung offen. Es ist das Bild, das Marx für seine Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ verwendete: Von Versailles aus verfolgt die Bourgoisie den ungleichen Kampf  gewissermaßen durchs Lorgnon als Schauspiel. Nach diesem blutigen Sonntag „kann es keinen Frieden und keine Waffenruhe mehr geben zwischen den Arbeitern Frankreichs und den Aneignern ihrer Arbeitszeugnisse“.

Noch einmal Peter Wittig:

Peter-Wittig"Wir bekennen uns damit zu Brechts offenem Schluss, einem der makabersten des deutschen Dramas. Bourgeoisie und Aristokraten hocken in Versailles, gucken durch Operngläser und geilen sich auf, wie die Revolution stirbt, im Feuer der Kanonen und im Feuer brennender Häuser. Zur posthumen Brecht-Uraufführung 1956 in Karl-Marx-Stadt und 1962 in Manfred Wekwerths Berliner Inszenierung endete das Stück mit "Keiner oder alle". Dieses Lied steht bei Brecht an ganz anderer Stelle und in ganz anderem Zusammenhang. An den Schluss gesetzt, impliziertes es ein widerständiges 'Trotz alledem' und erlaubte dem Publikum, sich als Sieger der Geschichte zu fühlen. Ist das Brecht? Brecht ist: Vorhang zu und all Fragen offen.
Zur Vermeidung von Missverständnissen: Ich bin sehr für 'Trotz alledem'. Besonders seit dem Anschluss der DDR an Westen und NATO. Brecht trieb schon beim Schreiben der 'Commune' 1948/49 die Frage um: Wie lange werden wir uns halten können? Wir haben uns 40 Jahre lang gehalten. Die Unidad Popular, hoffnungsvolles Bündnis von Allendes Sozialdemokraten und Corvaláns Kommunisten, hielt sich drei Jahre. Pinochets Putsch 1973 mit der CIA im Hintergrund würde heute Regime Change heißen und ließ mich – bis dahin ein blasierter Dresdner Bürgerknabe – endlich politisch erwachen. Chile, Libyen, der Druck des Westens auf die Bolivarische Republik Venezuela sind für mich präsent, wenn ich über 'Die Tage der Commune' nachdenke.
Ist das Stück eine Geschichtslektion? Geht es nicht um eine einzige Frage, weniger damals, vielmehr heute? Nämlich um den Zusammenhang von Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und revolutionärer Gewalt? Beziehungsweise um den Zusammenbruch von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit bei Abwesenheit revolutionärer Gewalt? Freiheit für wen? Die Freiheit der Unterdrückten setzt soziale Gerechtigkeit voraus. Generationen von Arbeitern erkämpften sie. Solange es das sozialistische Lager gab, musste der Kapitalismus auch auf diesem Gebiet konkurrenzfähig sein oder wenigstens scheinen. Seit 1990 hat er es nicht mehr nötig.
Was ist Gewalt? Als gewaltbereit geschmäht werden, die der Herrschaft der Gewalt widerstehen. Ausbeutung, Sozialabbau – auch Hartz IV genannt –, Wirtschaftsdiktate, 'humanitäre Einsätze' sind Gewalt. Revolutionäre Gewalt ist Gewalt gegen die Gewalt. Und sie kennt Skrupel. Die Inhaber der Gewalt kennen diese Skrupel nicht. Selbst der gewaltlose Widerstand gilt ihnen als Verbrechen. Und seine Vorkämpfer – Gandhi, Martin Luther King – wurden ebenso umgebracht wie Thomas Müntzer, wie Rosa und Karl, wie Che.
Es muss eine Alternative geben, die Welt hat sie nötig. Wer soll die Alternative sein, wenn nicht wir?"

Text: Hilmar Franz
Fotos: Hans-J. Hannemann   

Die letzten Vorstellungen:

Sonnabend, 23. Juni 2018, 19.30 Uhr, 11. Vorstellung
Sonntag, 24. Juni 2018, 19:30 Uhr, 12. Vorstellung

Es gibt auch an der Abendkasse noch Karten.


im „Theater unterm Dach“, Danziger Straße 101 (ehemals Dimitroff-Straße), 10405 Berlin.

Infos unter:

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http://www.theateruntermdach-berlin.de/spielplan.html

(*) Brecht schrieb in den Entwürfen und in der Originalfassung stets „Kommune“. Daher wird in den SiDaT-Aufführungen wie auch in diesem Beitrag das deutsche Idiom bzw. die deutsche Schreibweise beibehalten. Auf Veranlassung des Suhrkamp Verlags Frankfurt a.M. und mit Helene Weigels Billigung war bei der ersten Drucklegung des Stücks im September 1956 (Versuche Heft 15) im Titel die Schreibung „Kommune“ in „Commune“ geändert worden.

(Artikel aktualisiert  Juni 2018)