Literatur und Kunst

Buch Riexinger Klassenpolitik12.11.2018: Linksparteichef Riexinger will Spaltungen überwinden und neue Solidarität praktisch machen. Aber wie lässt sich ein neuer politischer Block für fortschrittliche Politik bilden? Über das Buch »Neue Klassenpolitik« schreibt Tom Strohschneider:

 

Politikerbücher müssen in der Regel damit leben, unter eher nachrichtenmäßigen Gesichtspunkten durchgesehen zu werden: Lässt sich da eine Stelle finden, die aktuelle Parteikonflikte betrifft? Eine Aussage über künftige Kandidaturen, Rückzüge oder dergleichen? Steht irgendwo etwas, das zur Meldung werden kann?

Wenn man Bernd Riexingers Buch »Neue Klassenpolitik« in die Hand nimmt, liegt ein solches Verfahren nicht ganz fern. Immerhin macht die Linkspartei, deren Vorsitzender der 62-Jährige ist, oft mit internem Schlagabtausch von sich reden, die Internetbewegung »Aufstehen« hat für Wirbel und Zwist gesorgt, die Frage, welche Position zu Migration, zu Grenzen, zu transnationaler Politik noch eine linke sein kann, wird hitzig debattiert.

Riexinger erinnert bereits nach ein paar Seiten an »eine bemerkenswerte Resolution« des Internationalen Sozialistenkongresses von 1907 zur Migration, die sich gegen jegliche Abwehr von Zuwanderung wandte und für den gemeinsamen Kampf für gute Arbeitsbedingungen plädierte. (Anmerkung: Resolution dokumentiert in dem Artikel: Nationalistische Rechte mobilisiert international gegen Globalen Migrationspakt)

 »In diesem Sinne verstehe ich die solidarische Haltung zu Geflüchteten und Arbeitsmigrant*innen als festen Bestandteil moderner Klassenpolitik«, schreibt Riexinger. »Auch hier geht es darum, Spaltungen zu überwinden und Perspektiven zu entwickeln, die keine Abgrenzung nach ›unten‹ oder ›draußen‹ benötigen«.

Das kann man als Kommentar zur innerparteilichen Debatte lesen, die 1907er Resolution spielte auch in den vergangenen Wochen in Linkspartei-Echokammern schon eine Rolle. Aber das Buch wäre damit ein bisschen verkannt, es geht in Wahrheit um mehr, um »Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen«, um eine Idee, linke Politik unter Bedingungen wieder erfolgreicher zu machen, die kein großes, historisches, einheitliches Subjekt mehr kennt.

Ein Wandel, eingeschrieben in eine politische Biografie

»Den größten Teil meines politisch aktiven Lebens begleitet mich die These, das Ende der Klassengesellschaft wäre längst eingetreten«, schreibt Riexinger – und natürlich will er damit zugleich sagen, dass es diese Klassengesellschaft weiter gibt. Das Problem besteht in einem Dilemma: »Die neoliberale Politik hat über Jahrzehnte dramatische soziale Verwüstungen hervorgebracht. Damit hat sie aber auch die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung gerückt.« Einerseits. Denn auch wenn »kaum ein Tag« vergeht, »an dem nicht über zunehmende Armut, über Stagnation der Löhne, über die klaffende Schere zwischen Arm und Reich, die Zunahme prekärer Arbeit, Mangel an bezahlbarem Wohnraum, Pflegenotstand, den irrsinnigen Reichtum konzentriert in wenigen Händen und gleichzeitig über fehlende Mittel für öffentliche Infrastruktur berichtet wird«, oder wie Riexinger es noch formuliert: die »Klassengegensätze wieder an die Oberfläche gespült« worden sind, macht es eine gravierend veränderte Realität der Lohnarbeit und des Angestelltendaseins schwieriger, »gemeinsame Interessen zu finden und dafür solidarisch zu kämpfen«. Eine Klassengesellschaft also, in der es schwierig geworden ist, klassenpolitisch begründete Kämpfe von unten zu führen.

"Seit meinem 16. Lebensjahr, also seit 47 Jahren, bin ich aktiver Gewerkschafter, seit mehr als sechs Jahren Vorsitzender der Partei DIE LINKE. Mein ganzes politisches Leben ist mit den betrieblichen und gewerkschaftlichen Entwicklungen, den vielfältigen Kämpfen, Niederlagen und auch Erfolgen der Arbeiter*innen-Bewegung eng verbunden. Ich hatte das Glück, einen gewerkschaftlichen Bezirk zu führen, der zu den streikfreudigsten in Deutschland gehört und neue Formen des Arbeitskampfes entwickelt hat, die zur besseren Aktivierung der Beschäftigten und Demokratisierung der Streikkultur geführt haben."

Bernd Riexinger im Vorwort

In gewisser Weise ist dieser Wandel in Riexingers politische Biografie eingeschrieben: Anfang der 1970er Jahre, als gewerkschaftlich aktiver Bankangestellter, war die »gute alte Welt« des wohlfahrtsstaatlich eingehegten Kapitalismus noch einigermaßen intakt. In den 1980er und 1990er Jahren, dann schon freigestellter Betriebsrat und Gewerkschaftssekretär, hatte sich das, was einmal Sozialpartnerschaft nannte, bereits in eine schiefe Ebene aus Deregulierung, Unterminierung des Öffentlichen, Umverteilung von unten nach oben verwandelt – mit Folgen: Gewerkschaften wurden schwächer, Tarifbindungen löchriger, Arbeitsgesetze geschliffen.

Heute blicken wir auf eine Arbeitsmarktlage, unter deren glänzender Oberfläche sich viel Prekarisierung, Niedriglohnsektor, Leiharbeit, Werkverträge, Tarifflucht, Solo- und Scheinselbständigkeit finden – und ein enormer, schwer aufzuholender Rückstand bei den Realeinkommen, die lange weit hinter den Möglichkeiten selbst aus kapitalistischer Perspektive zurückgeblieben waren. Umwälzungen im »Bauch der Produktionsweise«, Stichwort neuer Schub der Automatisierung und Digitalisierung, globale Wertschöpfung und die auf Disruption angelegte Strategie transnationaler Leitkonzerne bringen neue Unsicherheiten – bis tief in Alltagsverständnis, Selbstanspruch, Berufsrolle.

»Inklusiver Klassenbegriff«, »verbindende Klassenpolitik«

Was Riexinger dann durchdekliniert, kennt man meist aus Wortbeiträgen und Reden des Linkspolitikers bereits, es ist hier zu einem durchgehenden, auch biografisch aufgefädelten, von Erfahrungen realer Kämpfe gezeichneten Bild verdichtet: Nicht nur »neue Klassenpolitik«, wie das jetzt gern von links genannt wird, sondern »inklusiver Klassenbegriff« und »verbindende Klassenpolitik« sind die Schlagworte Riexingers. Es gehe ihm »um die Neudefinition des Begriffs der Solidarität und die Verbindung verschiedener Gruppen und Interessen von Beschäftigten und Erwerbslosen zur Herausbildung eines politischen Blocks, der für fortschrittliche Politik im 21. Jahrhundert steht«.

Man kann dabei drei Ebenen ausfindig machen – die der unmittelbaren, heutigen Auseinandersetzungen um höhere Löhne, bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, Würde und soziale Sicherheit; die der mittelfristigen Reformkonzeption, bei der Riexinger unter der Überschrift »neues Normalarbeitsverhältnis« Vorschläge zur Neuregulierung der Lohnarbeit macht, die auch die Kritik am »alten Normalarbeitsverhältnis« berücksichtigt. Und schließlich die der systemtranszendierenden Utopie.

»Die Kunst einer linken Hegemoniepolitik besteht darin, die verschiedenen sozialen Kämpfe, Interessen, Bedürfnisse und Träume der Menschen zu einem Transformationsprozess zu verbinden.«

Riexinger räumt hierzu ein, er könne »eine ›revolutionäre‹ Dynamik gegenwärtig nicht erkennen« und Vertretern eines vor allem verbalradikalen Antikapitalismus rät, zu prüfen, ob ihre Kritik an den Verhältnissen »tatsächlich auf der Höhe der Zeit ist«. Man kann das als Plädoyer dafür lesen, nicht den Problemen, Begrenzungen, Widersprüchen linker Politik aus dem Weg zu gehen. »Den Widerspruch zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit herauszuarbeiten, gibt dem Projekt großen Schwung«, heißt es an einer Stelle.

Den Gewerkschaften ins Stammbuch

Interessant sind auch die Anmerkungen des langjährigen Geschäftsführers des ver.di-Bezirks Stuttgart zu den Gewerkschaften, denen er ins Stammbuch schreibt, sie müssten wieder politisch kampfeslustiger werden. Das Konzept eines Neuen Normalarbeitsverhältnisses sieht Riexinger auch als »Vorschlag zur Erneuerung der Gewerkschaften«. Dies müssten wieder »konfliktorientiert arbeiten und bereit sein, sich mit den Reichen und politisch Mächtigen anzulegen«, auch eine neue »Solidarität mit allen Beschäftigten und Erwerbslosen« steht auf der Tagesordnung – eine, die nicht Unterschiede macht zwischen Einheimischen und Migranten, Männern und Frauen, Kernbeschäftigten und »Outsidern«.

Erlebbar und damit wieder neuer Treibstoff für weitergehende Veränderungen würde all das, wenn es realpolitische Erfolge gibt. Wenn also wirklich und spürbar »prekäre Arbeit zurückgedrängt oder gar abgeschafft« werden könnte »der Niedriglohnsektor ausgetrocknet, die Massenarbeitslosigkeit zurückgedrängt und soziale Absicherung für alle erstritten« würde. Dazu braucht es nicht nur Parteien und parlamentarische Mehrheiten, sondern das setzt, so Riexinger, »die Wiederbelebung und Erneuerung des politischen Mandates« der Gewerkschaften voraus. Diese dürfen sich nicht auf die betriebliche und tarifliche Auseinandersetzung beschränken.

Riexingers »Neue Klassenpolitik« verdichtet gewissermaßen einen nun schon länger diskutierten Strang linker Politik. Gramscis Hegemonie-Überlegungen, die Idee des »Verbindenden« und der Hoffnung auf neue Kraft, die aus realen sozialen Kämpfen herrührt, die Orientierung auf Kampagnen und das »Zusammendenken« von verschiedenen Grammatiken des Politischen – Parlament, Alltag, Straße, Betrieb – tauchen hier komprimiert auf.

Auch ein Polanyi, ein Bernstein, ein Erik Olin Wright

Man kann das mitunter etwas formelhaft finden, man kann die Frage aufwerfen, ob und wie hier der Versuch gemacht wird, ein neues »historisches Subjekt« zu schaffen, obwohl die Zeit solcher Sehnsuchtskollektive vielleicht vorbei ist. Man hätte sich auch mehr Tiefe wünschen können, wo es um die Perspektiven transnationaler Politik geht und eine stärkere Diskussion schwieriger Fragen wie der nach dem Zusammenhang von »gutem Leben« im globalen Norden und Ausbeutung des globalen Südens. Manchen mag nicht nur im Untertitel »Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen« zu viel Corbyn aufscheinen. Und es war ja auch nicht alles schlecht in den vergangenen Jahren, die Frage, wie Linke mit Erfolgen umgehen, steht auch auf der Tagesordnung – darin steckt ja auch eine Ressource für die Mobilisierung, während ein Immerschlimmerismus zur politischen Lähmung beiträgt.

Man kann aber auch das andere betonen, etwa dass hier jenseits von Revolutionssehnsucht oder Nur-Reformismus versucht wird, einen Sozialismusbegriff zu reaktualisieren, der nicht zuerst von der Form her denkt – wo hängt die rote Fahne? wer hat die Posten? -, sondern vor allem von der Substanz: »Genossenschaftlicher oder öffentlicher Wohnungsbau, bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung, mehr Mitbestimmung und eine stärker auf den Binnenmarkt orientierte und ökologische Wirtschaft sind immer noch kein Sozialismus«, schreibt Riexinger. »Das stimmt. Aber die Durchsetzung dieser Forderungen und Ziele stößt an die Grenzen der Verwertungslogik der Kapitalbesitzer und an die bestehende Eigentumsordnung.« Da steckt Marx drin, aber eben auch ein Polanyi, ein Bernstein, ein Erik Olin Wright: Einhegung des Marktes, gesellschaftliche Handlungsfähigkeit, soziale Macht über ökonomische Interessen, demokratisch-sozialistische Substanz interpretiert als Raumgewinn.

»Die Kunst einer linken Hegemoniepolitik besteht darin«, schreibt Riexinger am Ende, »die verschiedenen sozialen Kämpfe, Interessen, Bedürfnisse und Träume der Menschen zu einem Transformationsprozess zu verbinden.« Man kann versuchen, dieser Kunst in Büchern nachzuspüren. Man kann über verschiedene Weisen dieser Kunst streiten. Am Ende müssen viele diese Kunst aber auch beherrschen.

Bernd Riexinger:
Neue Klassenpolitik – Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen
VSA: Verlag Hamburg, 160 Seiten, 14,80 Euro.

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Tom Strohschneider ist Chefredakteur des Magazins »OXI - Wirtschaft anders denken«