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Katja-Kipping 121.06.2017: In ihrer Rede zur Festveranstaltung 10 Jahre DIE LINKE stellt Katja Kipping fest, dass das Entstehen einer neuen linken Partei "undenkbar" ohne soziale Bewegungen gewesen wäre. "Es war diese Stimmung des Umbruchs, die uns den nötigen Rückenwind für einen neuen linken Aufbruch gab", so Kipping. Im zweiten Teil fordert die Parteivorsitzende von DIE LINKE auf, den "Gedanken des Öffnens die Treue halten" und sich immer zu fragen: "Was denken und reden die, die links sind ohne Linke zu sein? Wie können sie ihren Punkt bei uns finden, ohne dafür das Linkssein erlernen zu müssen? Wie öffnen wir uns erneut und werden auch selbst zu Lernenden?". Kipping stellt fest, dass es "eine Lücke gibt zwischen dem, was die gesellschaftliche Linke hierzulande ausmacht und dem, was DIE LINKE als Partei abbildet" und schlägt Anknüpfungspunkte vor.

 

Katja Kipping:

Den Aufbruch in Angriff nehmen

Geburtstagsfeiern sind oft ein Anlass, um amüsante Geschichten aus dem Leben des Jubilars rauszukramen. Und allein die Gründungsgeschichte unserer Partei ist voller Anekdoten. Anekdoten wie dieser.

Geschichte wird gemacht - Wie alles begann

Jahrelang sind Kameraleute bei Pressekonferenzen der PDS eine sehr seltene Spezies. Plötzlich wird das Karl-Liebknecht-Haus von Medien und Kamera-Teams umlagert: Sie alle wollen unbedingt erfahren, wo denn nun die erste Verhandlungsrunde zwischen PDS und WASG stattfindet.

Wir schreiben den 30. Mai 2005. Das Gespenst einer neuen Linkspartei bewegt die Republik. Vor wenigen Tagen erst, hatte Gerhard Schröder Neuwahlen ausgerufen. Oskar Lafontaine hatte daraufhin angekündigt, er werde nur für eine gemeinsame Partei von PDS und WASG antreten. Das setzte beide Parteien unter Druck.

Am 30. Mai soll nun die erste Verhandlung stattfinden. Um die Medienmeute in die Irre zu führen, teilen wir uns im Karl-Liebknecht-Haus in zwei Gruppen auf. Im Rückblick ein dilettantischer Versuch. Offensichtlich fehlt uns die notwendige Erfahrung im Abschütteln von Paparazzi.

Wo soll die auch herkommen? Bisher hatten wir eher den Eindruck, die Presse ist gut darin, uns abzuschütteln.

Ein Kamerateam hängt sich in wilder Verfolgungsjagd an das Auto, in dem Lothar Bisky sitzt. Doch Biskys Fahrer ist geschickt. Er wartet an einer Ampelkreuzung bei Grün. Erst kurz bevor die Ampel von Gelb auf Rot schaltet, gibt er Gas. Das gewagte Manöver gelingt. Die Verfolger sind abgeschüttelt.

Plötzlich wird uns bewusst, dass nun andere Spielregeln gelten. Die bundesdeutsche Öffentlichkeit verfolgt, was wir tun. Daraus erwächst neue Verantwortung. Wir sind zum Erfolg verpflichtet.

Ein neuer Name, da es um mehr als einen Zusammenschluss geht

Doch nicht jede Etappe der Neugründung klappte so reibungslos wie das Abschütteln der Verfolger. Schnell wird in den Verhandlungen klar, dass ein neuer Parteiname eine unverzichtbare Voraussetzung ist.

Mich hat das schnell überzeugt. Schließlich ging es ja dabei nicht nur um eine Parteienfusion, sondern auch um die Chance einer Neugründung. Ich entscheide mich also als Testballon über mögliche neue Namen öffentlich zu sprechen. Na da war vielleicht was los!

Es gab so manchen empörten. Wie kannst Du nur! gehörte noch zu dem Freundlichsten, was ich damals zu hören bekam.

Keine Sorge! Ich gebe jetzt nicht zum Besten, wer damals das Zusammengehen mit der WASG unbedingt verhindern wollte. Diese Erinnerungen werden nicht preisgegeben.

Um es positiv zu formulieren, mich hat damals sehr berührt, wie gerade die betagte Basis der PDS, die schon so manche Änderung erlebt hat, sich erneut offen für Veränderungen gezeigt hat. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass die Basis eher als so manche Abgeordnete oder so mancher Funktionär die historische Dimension realisiert hatte.

Selbst erfüllende Erfolgsprophezeiung/ wie die Medien uns unbewusst über eine Klippe helfen.

Wir haben uns als LINKE ja oft über die Medien beschwert. Meist zu Recht. Doch zur ganzen Geschichte gehört auch, dass die Medien bei unserer Gründung - sicherlich unbewusst - uns über eine Klippe halfen. Am 9. Juni 2005 verhandeln wir nämlich bis Mitternacht. Alles scheint endgültig an der Namensfrage zu scheitern.

Dann machen wir den Versuch, uns wenigstens auf einige inhaltliche Punkte zu verständigen. Eine kleine Gruppe bleibt zurück, um der Programm-Skizze den letzten Schliff zu geben. Aber angesichts des drohenden Scheiterns sind Dagmar Enkelmann, Axel Troost und ich nur halb bei der Sache.

Da meine WG-Mitbewohner in Dresden die ganze Zeit mitfiebern, schicke ich ihnen kurz vorm Einschlafen per SMS mein Fazit: „Im entscheidenden Punkt war keine Einigung möglich. Es sieht schlecht aus.“

Am nächsten Tag klingelt mich mein Mitbewohner aus dem Bett: „Du musst unbedingt Nachrichten hören. Überall wird von dem entscheidenden Schritt zur Einigung zwischen WASG und PDS gesprochen.“ „Welche Einigung?“ frage ich verschlafen. Gemeint sind die inhaltlichen Programmpunkte.

An sich hatten wir nur mit diplomatischen Formulierungen zum gemeinsamen Programm vom Scheitern in der eigentlichen Streitfrage ablenken wollen. Doch die Medien schreiben die Erfolgsgeschichte der linken Einigung einfach weiter. Immer mehr Menschen reagieren darauf begeistert. Es greift der Effekt der selbsterfüllenden Erfolgsprophezeiung.

Und so schreiben am Ende fast alle Beteiligten an dieser Erfolgsgeschichte mit.

Undenkbar ohne soziale Proteste

Dass am Ende die Neugründung gelang, lag auch daran, dass Frauen und Männer bei WASG und PDS den Mut für einen Neuanfang aufbrachten, dass Lothar Bisky sich entschied, für einen neuen Parteinamen zu werben, dass die WASGler sich entschieden, zu den Bundestagswahlen zunächst auf den offenen Listen der Linkspartei.PDS zu kandidieren. Die Bekanntheit von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine war zudem ein wichtiges Pfund für den ganzen Prozess.

Die Grundlagen für das Entstehen einer neuen linken Partei wurden jedoch vor allem durch soziale Bewegungen geschaffen. Bei den bundesweiten Protesttagen gegen die Agenda 2010, bei den Montagsdemos gegen Hartz IV, auf den Europäischen Sozialforen. Überall war ein neuer Zeitgeist zu spüren. Ein Zeitgeist, der den Neoliberalismus in Frage stellte und nach einem neuen Akteur verlangte. Es war diese Stimmung des Umbruchs, die uns den nötigen Rückenwind für einen neuen linken Aufbruch gab.

Das, liebe Genossinnen und Genossen, was wir da geschafft haben, war ein Neuanfang in einem neuen Land und zugleich ein Kampf darum, die urlinke DNA der Arbeiterklasse – das Streiten für Gleichheit, Solidarität und Freiheit – neu zu begründen.

10 Jahre später, sind wir die einzige genuin linke Partei in diesem Land, die verschiedene Traditionen miteinander vereint und die weiterhin für soziale Gerechtigkeit und gegen jede Form von Krieg verlässlich einsteht.

Ich finde, darauf können wir stolz sein!

Dem Gedanken des Öffnens die Treue halten/ Wir sind mehr, als wir gegenwärtig sind

Bei allem Stolz darüber, sollten wir auch den Blick nach vorn richten und uns fragen: War diese Neugründung ein einmaliger Prozess des Zusammenkommens? Oder bleibt unsere Partei ein Ort, der diesem Gedanken des Aufbruchs und Öffnens die Treue hält?

Sind wir weiter ein Prozess, der sich niemals abschließt, eine Art Dauerfusion, die immer wieder von neuen politischen Momenten gefordert wird? Und: Muss nicht jede Vereinigung mit gesellschaftlichen Dynamiken letztlich viel mehr sein als der einmalige Prozess einer Neugründung?

Damals gab es ein Außen, das sich in der PDS nicht heimisch fühlte. Sie hat das erkannt und sich dem Neuen geöffnet. Natürlich sollten wir uns nicht alle paar Jahre umbenennen, aber wir sollten uns fragen, ob es nicht vielleicht wieder ein neues linkes „Außen“ gibt, das sich bei uns noch nicht so recht heimisch fühlt.

Wir können einfach mehr sein, als die eine LINKE, sondern uns immer wieder fragen: Was denken und reden die, die links sind ohne Linke zu sein? Wie können sie ihren Punkt bei uns finden, ohne dafür das Linkssein erlernen zu müssen? Wie öffnen wir uns erneut und werden auch selbst zu Lernenden?

Ich meine, es gibt eine Lücke zwischen dem, was die gesellschaftliche Linke hierzulande ausmacht und dem, was DIE LINKE als Partei abbildet. Ich möchte es ganz offen sagen: Unsere Partei bildet noch längst nicht all das ab, was in der Gesellschaft fortschrittlich links vorliegt.

Und damit meine ich nicht nur die, die noch nicht bei uns sind, sondern auch die, die schon bei uns waren. Wir könnten viel mehr sein, als wir gegenwärtig erscheinen.

Zeitsouveränität für alle

Ein Anknüpfungspunkt besteht in den neuen Ansprüchen an ein gutes Leben. Zunehmend mehr junge Menschen wissen, dass zu einem guten Leben auch Zeit gehört, Zeit zum Leben jenseits des Hamsterlaufrades.

Das begeistert nicht alle: Ein Artikel im Tagesspiegel äußert sich entsetzt darüber, dass die junge Generation kaum noch „Interesse an Konkurrenz, Leistungsdenken und Eroberung“ habe und dass ihr – Zitat – die „Angriffslust“ für den weltweiten Wettbewerb fehle und sie stattdessen lieber auf eine „ausgewogene Work-Life-Balance“ setze.

Ich kann da nur sagen: richtig so! Denn offenbar hat sich bei immer mehr jungen Menschen herum gesprochen, dass es sich nicht lohnt, das eigene Leben auf dem Altar der Standortkonkurrenz zu opfern.

Wir sollten uns freuen, wenn eine junge Generation von diesem sinnlosen Wirtschaftskrieg zu desertieren beginnt. Zu unseren Alternativen für ein gutes Leben gehört deshalb unbedingt der Kampf um Arbeitszeitverkürzung und um Zeitsouveränität für alle.

Ort der Flüchtlingssolidarität

Ich möchte heute auch bewusst etwas ansprechen, was gar nicht so neu ist, aber zuletzt immer mehr aufgefallen ist: das migrantische Moment. Es sind all jene, die schon längst hier leben, ohne von hier zu sein und es sind all jene, die grade gekommen sind. Sie verändern nicht nur sich, sondern eben auch uns.

Und ich denke hier an die jungen Berufsschülerinnen aus Nürnberg, die sich für ihren Mitschüler einsetzten, als diesem die Abschiebung nach Afghanistan drohte. Diese Berufsschülerinnen haben sich vor ihren Freund gestellt und damit soziale Demokratie im Alltag praktiziert.

Ich möchte deshalb gerade heute die Frage der Flüchtlingssolidarität aufwerfen. In den letzten zwei Jahren sind über 15.000 Initiativen entstanden. In ganz Europa gibt es inzwischen ein Netzwerk von rebellischen Städten, die sich der Abschottung und der Spaltung verweigern.

Während die einzige Antwort der Bundesregierung in Aufrüstung, Abschiebung und Ausgrenzung besteht, hat eine riesige Bürgerbewegung längst Wege zu einer solidarischen Einwanderungsgesellschaft aufgetan.

Wo ist ihr zukünftiger Punkt in der LINKEN? Wie können wir für sie noch viel mehr die Partei der Freiheit, der Gleichheit und Solidarität werden?

Digitalisierung offensiv von links angehen

Zum Linkseins gehörte immer auch das Recht auf einen utopischen Überschuss. Das Recht auf Ideen, die verrückt klingen und doch völlig vernünftig sind.

Und deshalb nehme ich auch den heutigen Geburtstag zum Anlass, um zu sagen, lasst uns die Debatte um Digitalisierung nicht nur mit Sorgenfalten auf der Stirn führen. Dass technischer Fortschritt uns Arbeiten abnimmt ist doch etwas Großartiges. Dass diese anstehende Entlastung von vielen nun als Bedrohung erlebt wird, offenbart doch, dass da etwas grundlegend falsch organisiert ist in unserer Gesellschaft.

Nicht der technische Fortschritt ist das Problem, sondern die Verteilung seiner Früchte.

Also denken wir doch ganz offensiv über die Chancen der Digitalisierung nach. Die Frage lautet nicht Digitalisierung ja oder nein, sondern was ist zu tun, damit die Früchte der Digitalisierung allen zu Guten kommen. Das wäre eine Politik, die auf radikale Arbeitszeitverkürzung, Bewegungsfreiheit, soziale Garantien und auf andere Eigentumsformen setzt.

Wir sind die Gerechtigkeitspartei. Ein Platz ist frei

Vor über 10 Jahren haben uns wenige eine Chance zugebilligt. Doch wir haben es geschafft – und dies mitten in Europa, im Land der Wirtschaftsmacht, dort, wo wirklich etwas entschieden wird.

Wir halten also einen großen Schatz und eine große Möglichkeit in unseren Händen.

Das Versagen der Sozialdemokratie und die grünen Avancen an die Konservativen machen einen großen Platz in der Parteienlandschaft frei. Ein Platz, der noch unbesetzt und nach links offen ist.

Jetzt ist es vielleicht an der Zeit zu sagen: Wagen wir den Schritt hin zu einer gesellschaftlichen Gerechtigkeitspartei, zur Partei der neuen linken Mehrheiten.

Die Frage, die wir uns stellen sollten, lautet daher weniger, was machen die anderen Parteien alles falsch, sondern vielmehr: wie werden wir größer, als wir sind? Wie kommen wir raus aus dem 10% Ghetto?

Eine verbindende Partei neuen Typs

Dazu müssen wir uns öffnen und einladend sein. Eine verbindende Partei neuen Typs werden wir durch Vernetzen und Beteiligungsmöglichkeiten. Auch deshalb sind die Maßnahmen, für die Bernd und ich im Sinne einer verbindenden Partei immer wieder werben, wie Haustürbesuche, Zuhöroffensiven, linksaktiv und Organizing, das organische Mitwirken in Bündnissen, so wichtig.

Wir lieben unsere Vertrautheit in der Partei miteinander. Aber wir sollten nie vergessen, dass unser Wir noch längst nicht das WIR der vielen in der Gesellschaft ist. Wir können noch viel mehr werden, als wir gegenwärtig sind.

Ich schlage vor: Verwenden wir nicht all unsere Energie auf das, was in der Gegenwart zu betrauern ist, sondern richten wir den Blick auch nach vorn und trauen wir uns die Zukunft zu.

In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch liebe LINKE! Auf die nächsten Jahrzehnte! Und darauf, dass wir sie als eine Linke auf der Höhe der Zeit erneut mit Mut zum Aufbruch in Angriff nehmen und dabei erneut über uns hinauswachsen.

Quelle: https://www.katja-kipping.de

foto: https://www.katja-kipping.de