Linke / Wahlen in Europa

FR Wahl2022 Sieg21.06.2022: Negativrekord der Nichtbeteiligung ++ Niederlage für Macron mit erheblichen Folgen ++ Erfolg für die Linken: es fehlen nur sechzehntausend Stimmen, um die relative Mehrheit vor den Macronisten zu erreichen ++ keine gemeinsame Linksfraktion ++ Anwachsen des Rechtsextremismus

 

 

Die Ergebnisse der französischen Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni (Stichwahl) lassen sich in folgende drei Hauptpunkte zusammenfassen:

  • Die Partei von Staatschef Emmanuel Macron, der im April erneut zum Staatspräsidenten gewählt worden war, hat die bisherige absolute Mehrheit in der Nationalversammlung, dem französischen Parlament verloren. Die Präsidentenpartei kann keine Gesetze mehr aus eigener Kraft im Parlament durchbringen.
  • Wichtigste Wahlgewinnerin ist das Wahlbündnis NUPES der vereinten Linksparteien, das mit 142 Mandaten seine Abgeordnetenzahl mehr als verdoppeln konnte und nun zweitstärkste Gruppierung und stärkste Oppositionsgruppe im Parlament wurde.
  • Das rechtsextremistische "Rassemblement National" (RN – "Nationale Sammlung", früher "Front National") unter Leitung von Marine Le Pen zieht erstmals besorgniserregend mit einer zweistelligen Fraktion von 89 Abgeordneten in die französische Nationalversammlung ein.

FR Wahl2022 Sitzverteilung

Niederlage für Macron mit erheblichen Folgen

Das Wahlergebnis ist eine schwerwiegende Niederlage für den Staatspräsidenten Macron. Zum ersten Mal, seitdem die Parlamentswahl absichtsvoll nur wenige Wochen hinter die Präsidentenwahl gelegt worden ist, ist es dem gewählten Staatschef nicht gelungen, sich im Sog der Präsidentenwahl auch eine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung zu verschaffen. Von der bisherigen satten absoluten Mehrheit von rd. 350 Parlamentsabgeordneten verlor der Block von Macrons Präsidentenpartei mit einigen rechtsliberalen Verbündeten ("Ensemble citoyen") mehr als 100 Abgeordnetensitze. Er erreichte nur noch 245 Mandate. Damit verfehlte er die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung, die bei 289 Mandaten liegt, um fast 50 Mandate. Das heißt, dass das Präsidentenlager für jeden Gesetzentwurf, den es im Parlament beschließen lassen will, jeweils Koalitionspartner aus den anderen Fraktionen im Parlament benötigt. Das bedeutet eine starke Einschränkung der Möglichkeiten des Staatschefs und seiner Vertrauten, ihre Vorhaben und Pläne für die anstehende Legislaturperiode umzusetzen.

Es gibt zwar neben dem Macron-Block noch die rechtskonservative Fraktion der "Republikaner" ("Les Républicains" – LR) im Parlament, die ebenfalls zu den Wahlverlierern gehört und statt der früheren 100 nun noch 64 Abgeordnete zählt. Aber nachdem diese Partei sich im Wahlkampf immer wieder heftig mit noch weiter rechts angesiedelten Positionen und Forderungen kritisch gegen das Macron-Lager gewendet und sich von diesem abgegrenzt hatte, fällt es ihren Anführern nun schwer, sich auf eine Dauerrolle als Helferhelfer und Mehrheitsbeschaffer für das Präsidentenlager einzulassen. Führende Politiker von LR haben deshalb bereits erklärt, dass sie zwar von Fall zu Fall bereit sein werden, für Gesetzesvorschläge des Macron-Lagers zu stimmen, wenn diese mit ihren eigenen Vorstellungen übereinstimmen, sie sich aber keinesfalls auf eine feste Koalition mit der Macron-Partei einlassen wollen. Das heißt, eine stabile Basis im Parlament ist für die Regierungen, die der Staatspräsident in der nächsten Legislaturperiode ernennen will, nicht absehbar.

 
FR Melenchon 2022 06 18"(..) Insgesamt fehlten uns im ganzen Land zwischen den verschiedenen Wahlkreisen sechzehntausend Stimmen, um die relative Mehrheit vor den Macronisten zu erreichen. Wir haben mehr als sechs Millionen Stimmen auf uns vereint und der RN [Anmerkung: ultrarechte "Rassemblement National" von Marie Le Pen] nur drei Millionen, aber er gewinnt 55 Prozent der Stichwahlen mit uns. Natürlich liegt das Wesentliche woanders. Es liegt in der monumentalen Ohrfeige, die die macronistische Macht erhält, die in eine totale Wahlniederlage geraten ist. Dass die Präsidentenpartei in der Wahl nach der Wahl des Präsidenten besiegt wird, ist das erste Mal in der Geschichte der Fünften Republik. Aber wir sind nicht mehr unter De Gaulle, der sich für ein "Nein" bei seinem ausgeklügelten Referendum aus dem Staub machte… Auf dem Papier, in der üblichen demokratischen Form, ist das Land unregierbar. Dieses Wort ist wörtlich zu nehmen. Das Land kann nicht regiert werden. Das ist keine subjektive Einschätzung. Es ist eine Realität. Warum ist das so? Wenn die Premierministerin vor die Versammlung tritt und um eine Vertrauensabstimmung bittet, wie es in einer Demokratie üblich ist, wird sie keine Mehrheit der Abgeordneten finden, die ihr das Vertrauen ausspricht. Denn weder die NUPES noch die Republikaner oder die Rassemblement National werden für das Vertrauensvotum stimmen."
Jean-Luc Mélenchon, 20.6.2022: Après le séisme
https://melenchon.fr/2022/06/20/apres-le-seisme/
 

 

Erfolg für die Linken – verändertes Kräfteverhältnis

Zu den bedeutendsten Veränderungen der parlamentarischen Kräfteverhältnisse in Frankreich gehört die neue Stärke und künftige Rolle der Linksparteien, die sich, nachdem sie bei der Präsidentenwahl im April noch getrennt angetreten waren, zu den Parlamentswahlen bereits für den ersten Wahlgang zu dem linken Wahlbündnis NUPES ("Nouvelle Union Populaire Ecologique et Sociale" – "Neue ökologische und soziale Volksunion") zusammengeschlossen hatten. Seine tragenden Kräfte waren die Formation "La France Insoumise" (LFI – "Das ununterworfene Frankreich") unter Führung des früheren Linkssozialisten Jean-Luc Mélenchon, die französischen Grünen (Ecologie Européen Les Verts - EELV), die im eklatanten Gegensatz zu den deutschen Grünen vor einem Zusammengehen mit anderen Linkskräften einschließlich der Kommunisten zum Zweck der Durchsetzung einer linken grünen Politik nicht zurückscheuten, sowie die französischen Kommunisten (PCF) und die Mehrheit der französischen Sozialisten (Parti Socialiste – PS).

Die neue innenpolitische Landschaft, die damit entstanden ist, dass die Linksparteien, wenn sie weiter zusammenwirken, als zweitstärkste Kraft hinter dem Regierungslager im französischen Parlament agieren können, dürfte ebenfalls bedeutende Auswirkungen auf die weitere innen-, wirtschafts- und sozialpolitischen Entwicklung Frankreichs haben. Denn die NUPES-Fraktionen dürften ihre im Wahlkampf verfochtene konkreten Maßnahmen (z. B. Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 1500 Euro, Rückführung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre usw.) in Form von Anträgen für entsprechende Gesetze in die künftigen Parlamentsdebatten einbringen und damit große Debatten auch außerhalb des Parlaments und in der breiten Öffentlichkeit auslösen können. In Verbindung mit entsprechenden außerparlamentarischen Aktivitäten der Gewerkschaften und anderer sozialer Bewegungen können daraus große innen- und sozialpolitische Auseinandersetzungen werden, mit denen Macron und Co. unter starken öffentlichem Druck gesetzt werden, dem sie sich nur schwierig entziehen können.

Keine gemeinsame Linksfraktion

Zur Zeit ist allerdings noch nicht ganz geklärt, in welcher Form das Zusammenwirken der NUPES-Fraktionen im Parlament organisiert wird. Jean-Luc Mélenchon, der Anführer der "Insoumises" (LFI) hat öffentlich vorgeschlagen, dass alle NUPES-Beteiligten eine einzige gemeinsame Fraktion im Parlament bilden sollen, weil damit bei de Vergabe von Plätzen bei den Parlamentsausschüssen am meisten erreicht werden könnte. Das wurde allerdings von allen anderen Beteiligten, Grünen wie Kommunisten und Sozialisten, entschieden abgelehnt. Es wurde darauf verwiesen, dass es ausdrücklich Teil der Vereinbarung zum NUPES-Zusammenschluss war, dass alle Beteiligten nach der Wahl im Parlament ihre eigenen Fraktionen bilden können. Weder Grüne noch Sozialisten oder Kommunisten haben die Absicht, hinter dem Schild einer gemeinsamen NUPES-Fraktion unter Führung der LFI "vereinnahmen" zu lassen und damit als eigenständige politische Kraft aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verschwinden.

 


FR Melenchon 2022 06 18(…) Es gibt eine neue Situation, seit wir die endgültigen Ergebnisse kennen. Ich glaube, dass wir eine geeinte Alternative sein und bleiben müssen. Mit anderen Worten: Die NUPES sollte sich als eine einzige Fraktion im Parlament konstituieren, sodass ohne jede mögliche Diskussion feststeht, dass sie die oppositionelle Alternative im Land bleibt. Wir müssen zeigen, dass wir jederzeit, auch wenn es zu Neuwahlen kommt, bereit sind, die Kandidatur der NUPES aufzustellen. Ich denke, das ist ein Element der Klärung, ein stabiler Bezugspunkt und der Ordnung, die angesichts des voranschreitenden Chaos vorhanden und verfügbar ist. Es ist ein Vorschlag. Ich möchte meine Position heute nicht missbrauchen und deshalb ist es keine Aufforderung. Es ist ein Vorschlag. Sicherlich war dies nicht in unseren Vereinbarungen vorgesehen, die lediglich eine interfraktionelle Arbeitsgruppe vorsahen. Aber wenn wir es tun würden, würden wir auch unserer Verpflichtung gegenüber denjenigen, die für uns gestimmt haben, nachkommen.
Achtung: Ich schlage nicht vor, dass die Parteien fusionieren oder sich in irgendeiner Weise auflösen. Denn natürlich würde das nicht verhindern, dass jede Partei eine separat organisierte parlamentarische Delegation hat. Im Europäischen Parlament funktioniert jede auf diese Weise: eine gemeinsame Fraktion, aber getrennte nationale oder Parteidelegationen. Mathilde Panot ergänzte diese Idee, indem sie einen rotierenden Vorsitz in dieser gemeinsamen Fraktion vorschlug."

Jean-Luc Mélenchon, 20.6.2022: Après le séisme
https://melenchon.fr/2022/06/20/apres-le-seisme/

 

 

Nach derzeitigem Stand haben alle NUPES-Beteiligten die Möglichkeit eine jeweils eigene Parlamentsfraktion zu bilden (wofür mindestens 15 Abgeordneten erforderlich sind): die LFI mit Mélenchon mit rd. 75 Abgeordneten die größte, aber auch die Sozialisten mit 32 Abgeordneten und die Grünen mit 23 Abgeordneten. Die Kommunisten verfügen im französischen Mutterland über zwölf Abgeordnete, acht wiedergewählt, vier erstmals im Parlament, können aber zusammen mit 6 – 8 Abgeordneten aus französischen Überseegebieten, die der PCF nahestehen, aber unter regionalen Bezeichnungen kandidierten, wie bisher ebenfalls eine Fraktion bilden. Denkbar ist damit aber die Bildung einer das Wirken einer alle vier NUPES-Fraktionen koordinierenden interfraktionellen Dachorganisation.

Negativrekord der Nichtbeteiligung

Festgehalten werden muss allerdings bei aller Würdigung des NUPES-Erfolgs auch, dass eine "Dynamik nach links" im Lager der Nichtwählerinnen und Nichtwähler, auf die die NUPES-Initiatoren ursprünglich gesetzt hatten, so gut wie nicht zustande gekommen ist. ( siehe kommunisten.de: "Mélenchon kann nur noch bei den Nichtwähler*innen punkten") Deshalb konnte des verkündete Ziel einer linken Parlamentsmehrheit mit der Folge einer "Cohabitation" einer Linksregierung unter Mélenchon mit dem rechtsliberalen Staatschef Macron nicht erreicht werden.

Im Gegensatz zu derartigen Erwartungen erreichte die Nichtbeteiligung an der Wahl beim zweiten Wahlgang der Parlamentswahl am letzten Sonntag sogar einen neuen Negativrekord. Mehr als die Hälfte aller französischen Wahlberechtigten gingen nicht zur Wahl. Das ist einmalig in der jüngeren Geschichte Frankreichs. Eine erreichte Wahlbeteiligung von nur noch 46,2 Prozent bedeutet, dass 53,77 % der Wahlberechtigten den Wahlurnen fern geblieben sind. Es liegt auf der Hand, dass dafür weder die starke Hitzewelle in weiten Teilen Frankreichs am letzten Wochenende noch die Corona-Pandemie verantwortlich gemacht werden können.

Besonders alarmierend ist dabei, dass die Nichtbeteiligung unter den jüngeren Jahrgängen erheblich höher liegt als bei den höheren Altersgruppen. Nach den aktuellen Angaben lag die Quote der Nichtbeteiligung bei den 18 – 24-Jährigen bei enormen 71 Prozent, bei den 25 – 34-Jährigen immer noch bei 66 Prozent. Erst in der Altersgruppe ab 50 – 59 Jahren wechselt das Verhältnis nicht Wählern und Nichtwählern und ging eine Mehrheit von 57 % zur Wahl, um dann in den älteren Jahrgängen ab 60 Jahre wieder abzusinken.

In den hohen Nichtwählerzahlen zeigt sich, wie sehr auch in Frankreich das bestehende parlamentarische System mit seinen Parteien i verspricht sic m Ansehen der der Bevölkerung diskreditiert ist. Fast die Hälfte der Bevölkerung sieht in der Stimmabgabe im Rahmen dieses Systems offenkundig keinerlei Sinn, Vorteil oder Nutzen für die eigenen Anliegen und Interessen mehr. Und von dieser Diskreditierung sind offensichtlich auch die Linksparteien betroffen, die nicht als Alternative und Hebel zur Veränderung angesehen, sondern als Teil des bestehenden "Systems" abgelehnt werden. Nicht zuletzt auch, weil auch von Linksparteien gestellte und getragene Regierungen zu oft in der Praxis den Erwartungen nicht gerecht geworden sind, die gerade auch in Frankreich in den letzten Jahrzehnten mit ihrer Wahl und ihrem "Machtantritt" verbunden waren.

Anwachsen des Rechtsextremismus

Eine gefährliche Folge dieser Situation ist das Anwachsen des Rechtsextremismus, der sich als Auffangbecken für die mit dem "System" Unzufriedenen präsentiert. Das "Rassemblement National" (RN) unter Führung von Mme. Le Pen konnte die Zahl seiner Abgeordneten im Parlament von bisher etwa acht auf nunmehr 89 erhöhen Das ist ein enormer und bisher in der jüngeren Geschichte Frankreichs noch nie dagewesener Zuwachs. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten werden die Rechtsextremisten in der französischen Nationalversammlung nach dem Regierungslager und den Linken über die drittstärkste Fraktion verfügen. Es kommt hinzu, dass die Rechtsextremisten bisher ihre Hochburgen vorwiegend in deindustrialisierten Gebietsstreifen in Nord- und Südostfrankreich hatten, nun aber erstmals ein Stimmengewinn aus fast allen Regionen Frankreichs, also eine Ausdehnung "in der Fläche" zu verzeichnen ist.

Offensichtlich werden die demokratischen Linkskräfte in Frankreich in den nächsten Jahren mehr denn je mit der Frage konfrontiert sein, wie der irreführenden nationalistischen und sozialen Demagogie der Rechtsextremisten wirksam Paroli geboten und ihre Verankerung in Teilen der Bevölkerung wieder zurückgedrängt werden kann.

Die mit der Parlamentswahl entstandene neue Situation in der politischen Landschaft Frankreichs hat positive wie negative Seiten. In Macrons Präsidenten- und Regierungslager ist darüber große Aufregung und Unruhe entstanden. Manches, was sich der Staatschef für seine zweite Amtszeit vorgenommen hatte, um die französische Wirtschaft "anzukurbeln", die Gewinnspannen für das Kapital zu erhöhen und soziale "Belastungen" für die Unternehmerprofite abzubauen, könnte auf der Kippe stehen. Insbesondere die von Macron angekündigte Erhöhung des Renteneintrittsalters von derzeit 62 auf 65 Jahre. Aus dem Regierungslager tönt es daher von allen Seiten von einer drohenden "Blockade" des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens und vom Ausbrechen eines allgemeinen "Chaos".

Was aus der entstandenen Situation wird, dürfte sich allerdings erst in den kommenden Wochen und Monaten entscheiden, wenn klar wird, ob die Linksparteien diese Situation nutzen können, um aus der Schwäche des Regierungslagers durch die Kombination von parlamentarischen und außerparlamentarischen Aktivitäten eine volle politische Wende zu einem stärker an den Interessen der Bevölkerung ausgerichteten Kurs durchzusetzen.

txt: Georg Polikeit
Einfügungen in den Kästen: kommunisten.de


mehr zum Thema