Im Interview

Syrien Hesen Mihemed Eli31.12.2018: Interview mit Hesen Mihemed Elî vom Vorstandskomitee des Demokratischen Syrienrats und Verantwortlicher für die Arbeit in den Regionen Raqqa und Deir ez-Zor über den Abwehrkampf gegen die Türkei und den IS und den Aufbau eines neuen gesellschaftlichen Systems.

Hesen Mihemed Elî aus dem Vorstandskomitee des Demokratischen Syrienrats (MSD) ist verantwortlich für die Organisierung der zivilen Räte. Er berichtet, dass die arabische Bevölkerung wie auch die anderen Völker der Region sich selbst verwalten und das System angenommen haben. Daher werden sich nicht nur die Kurd*innen, sondern alle Völker der Region gegen einen türkischen Angriff stellen. Hesen Mihemed Elî ist insbesondere für den Aufbau der Zivilräte in Raqqa und Deir ez-Zor und die Einbeziehung der Stämme und der arabischen Bevölkerung verantwortlich. Zu den Arbeiten in der Region, der Position der arabischen Bevölkerung, den Folgen der US-Entscheidung, den Aktivitäten der Türkei und des Regimes in der Region und der Haltung zur Invasionsdrohung der Türkei gab er der kurdischen Tageszeitung Yeni Özgür Politika ein Interview.

 

Frage: Sie haben mit dem Zivilrat von Raqqa und Deir ez-Zor gearbeitet. Können Sie uns zunächst etwas über die soziale Organisation des Zivilrats berichten? Wie ist die Beteiligung der verschiedenen Schichten der arabischen Gesellschaft?

Wir als MSD beschäftigen uns mit allen Räten in ganz Rojava, Nord- und Ostsyrien. Diese neuen Räte in Tabqa, Raqqa und Deir ez-Zor stellen für die dortige Bevölkerung ein neues Kapitel dar. Insbesondere die arabische Bevölkerung dort konnte seit Jahrzehnten nichts mehr aus eigenem Willen tun. Sie wurden vom Baath-Regime beherrscht und erwarteten auch alles vom Regime. Nun verwaltet sich die Bevölkerung zum ersten Mal selbst, sie regelt ihre Angelegenheiten und sie fühlt sich für sich selbst verantwortlich. Sie verwaltet sich selbst im Zivilrat von Raqqa, in allen Vierteln und Dörfern wurden Räte und Kommunen aufgebaut. Es gibt bei der Organisierung der Assyer*innen, Araber*innen, Tscherkess*innen unterschiedliche Notwendigkeiten und Probleme. Das bringt auch eine Weiterentwicklung, was unsere Kapazitäten betrifft.

Das 21. Jahrhundert stellt den Beginn eines neuen Zeitalters dar. Unsere Bewegung ist die Vorhut dieses Zeitalters. So sehr auch die Medien die Bevölkerung beeinflussen, so sehr stellt die Freiheitsbewegung die Avantgarde der Völker des Mittleren Ostens dar. Wir haben dem IS eine Niederlage beigebracht. Die Mehrheit der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) wird von Araber*innen gestellt. Diejenigen, die zuvor vom IS beherrscht worden waren, kämpfen nun gegen ihn. Das ist neu. In Raqqa sind vor allem unsere arabischen Geschwister gefallen. Nach ihrer Befreiung sagten sie: „Wir werden kämpfen und diese Situation nicht hinnehmen.“

Frage: Am Wiederaufbau von Raqqa beteiligen sich sowohl die internationale Koalition als auch Saudi-Arabien. Welche Arbeiten gibt es abgesehen von finanzieller Unterstützung, was bedeutet die aktuelle Entscheidung der USA für den Wiederaufbau?

Der Wiederaufbau wird von der Bevölkerung getätigt. Die arabische Bevölkerung organisiert sich selbst und baut selbst alles wieder auf. Es gibt es keine Beziehung zur NATO, den Koalitionskräften oder den USA. Sie unterstützen uns im Kampf gegen den IS. Der Aufbau der Strukturen in der Bevölkerung, die Organisierung und der Wiederaufbau sind unsere Aufgaben. Dafür haben wir die Räte gestärkt. Wir machen Vorschläge zu dieser Neustrukturierung und zum Wiederaufbau. Aber der Neuaufbau ist auch von etwas anderem abhängig. Immer wenn Wege aus neuen Gebieten geöffnet werden oder diese befreit werden, dann kommen neue Leute in die Region. Manche Institutionen ändern sich daher und passen sich den Bedingungen an, denn es geht darum, den neu ankommenden Menschen neue Aufgaben zu geben. Unserem Paradigma entsprechend verwaltet sich die Bevölkerung selbst.

Wir profitieren von der Hilfe der Staaten. In der Koalition gibt es über 70 Staaten. Auch Russland, der Iran, die Türkei und ihre Agenten gehören zu den Staaten, die hier agieren. Sie machen Politik und wir verfolgen aufmerksam die Balancen. Wir haben nie die Haltung vertreten, dass wir weg sind, wenn die USA abziehen. Als wir angefangen haben, gab es hier keine USA. Wir haben das alles mit dem Willen der Bevölkerung von Rojava, unserem Willen, unserem Kampf und unseren Möglichkeiten umgesetzt. Das wird auch in Zukunft so sein. Das bedeutet nicht, dass wir von der Hilfe der Staaten nicht profitieren werden. Das hier ist ein Krieg. Wir befinden uns in einem großen Wettlauf gegen unsere Feinde. Sie versuchen, uns zu vernichten und wir versuchen, uns zu beweisen. Es handelt sich um eine historische Abrechnung. Diejenigen, die sich gut organisieren und ihr System dementsprechend aufbauen, den Willen der Menschen umsetzen und die politischen Verhältnisse richtig bewerten, werden erfolgreich sein. Wir waren bisher erfolgreich und das werden wir auch weiterhin sein.

Durch die Kriege mag es gewisse Beeinträchtigungen geben, aber es geht weiter. Wir schreiten immer weiter fort. Schauen Sie sich an, was für ein Chaos in den USA wegen Trumps Entscheidung ausgebrochen ist. Es gab internen Streit und sogar Rücktritte. Das zeigt ebenfalls unsere Position. Unsere Lage hat eine so bedeutende Position erreicht, dass eine Entscheidung über uns Einfluss auf die Balancen in der Welt hat. Das Niveau, das wir entwickelt haben, kann auch auf die großen Staaten Wirkung entfalten. Deshalb sollten die Kurd*innen und die Völker, die mit ihnen gemeinsam kämpfen, diese Phase als eine Phase in ihrem Sinne begreifen. Sie sind wirklich entschlossen, erfolgreich zu sein. Aber reicht das aus? Nein, das tut es nicht. Unser Ziel ist groß. Es sind mehr Kampf, Organisierung und Maßnahmen gegenüber der sich verändernden Weltlage notwendig. In dieser Hinsicht müssen wir uns und unserer eigenen Kraft vertrauen.

Frage: Was wurde bis jetzt für den Wiederaufbau, die Ansiedlung, die Produktion, den Lebensunterhalt und den Handel in den Städten getan?

Wenn in einer Region Krieg herrscht, dann bricht dort alles zusammen und muss neu aufgebaut werden. Die Schritte, die wir gegangen sind, und das, was wir trotz der schweren Bedingungen umgesetzt haben, werden besonders deutlich, wenn wir die Situation mit den Gebieten unter der Kontrolle des Regimes oder anderen Orte vergleichen. Raqqa wurde dem Erdboden gleich gemacht. Die Situation heute in Raqqa ist besser als die in Homs, Deir ez-Zor, Dara oder Aleppo. Diese Regionen stehen unter der Kontrolle des Regimes. Die Bevölkerung migriert aus den Gebieten unter Regimekontrolle zu uns. Hier gibt es Stabilität, Gerechtigkeit, Entwicklung und Hoffnung.

Die Bevölkerung in unserer Region lebt von der Landwirtschaft. Wir bessern die Bewässerungskanäle aus. Wir haben die Versorgung der Bevölkerung mit Strom sichergestellt. Obwohl die Bedingungen in dem Jahr nicht gut waren, konnte unser demokratischer Zivilrat enorme Entwicklungen vorantreiben. Dutzende Brücken wurden repariert. Wenn man jetzt nach Raqqa kommt, dann kann man wie früher vor Menschen kaum laufen. Im Moment leben 200.000 Menschen in Raqqa. Der Handel hat angefangen. Das billigste Brot in ganz Syrien wird in unserer Region verkauft. Der Liter Diesel kostet im Moment 55 SL (0,0938 Euro). Nirgends auf der Welt gibt es so günstigen Diesel. Wir haben alles in der Region in Bewegung versetzt. In Raqqa, Tabqa und Deir ez-Zor gehen 300.000 Schüler*innen in die Schule. Es wurden 800 Schulen eröffnet, dort arbeiten 11.000 Lehrer*innen. Das sind keine einfachen Errungenschaften.

Wie verwaltet sich ein Land selbst? Es gibt Hunderttausende Menschen, die arbeiten. Diese Menschen werden auch bezahlt. Das bedeutet zum Beispiel, wenn 300.000 Menschen arbeiten und versorgt werden, dann sind das auch 300.000 Familien, die versorgt werden. Das ist eine gute Entwicklung. Natürlich reicht das nicht aus. Wir müssen für noch mehr Entwicklung sorgen. Solche Entwicklungen haben wir mitten im Krieg erreicht. Entwicklungen im Krieg sind etwas anderes als nach der Schaffung von Stabilität. Auf der einen Seite wird gegen den IS gekämpft, es gibt die Drohungen der Türkei, und auf der anderen Seite wird ein neues System entwickelt. So werden viele Dinge gleichzeitig gemacht. Reparatur, Landwirtschaft, der Wiederaufbau von Institutionen, der Bau von Dörfern und Stadtvierteln sind keine leichten Arbeiten. Eigentlich haben wir innerhalb der Revolution in ganz Rojava und Nordsyrien weitere große Revolutionen gemacht.

Frage: Gibt es in diesen Gebieten Widerspruch gegen die aktuelle Verwaltung, Opposition, die aber nicht mit den Dschihadisten in Verbindung steht?

Natürlich gibt es die. Wir sind nicht dafür, dass es nur eine Farbe gibt. Der Ort, an dem es Vielfalt gibt, ist ein gesunder Ort. Es gibt von manchen Menschen Widersprüche und Kritiken. Die Bevölkerung kritisiert unsere Ratsvorsitzenden und die Leitung. Manche kommen und sagen, dieses oder jenes widerspricht eurem Projekt. Die Bevölkerung vertraut diesem System und kann ihre Kritik vortragen. Das System entwickelt sich auf diese Weise. Man kann sich nicht ohne Kritik entwickeln. Aber diejenigen, die dort Leben, sowohl die, die kritisieren als auch diejenigen, die es nicht tun, sagen: „Es ist eine neue Zeit, wir müssen für diese Errungenschaften Verantwortung übernehmen“. Manch andere agieren aber auch als verlängerter Arm von Staaten. Sie beabsichtigen, die Arbeit hier zu sabotieren. Die Türkei lässt einige ihrer Agenten in den Stämmen arbeiten und Antipropaganda verbreiten. Das ist eine Sache des Kampfes. Wenn wir unsere Arbeit gut machen und zeigen, dass wir nicht schwach sind, kann sie niemand gegen uns verwenden.

Frage: Wir wissen, dass der türkische Staat zwischen Girê Spî und Raqqa ernsthaften Druck aufbaut. Manche Stämme werden zur Zusammenarbeit gezwungen, es gibt Kontraaktivitäten und immer wieder auch Attentate unter falscher Flagge. Wie ist die Haltung der regionalen Bevölkerung dazu?

Das Regime, Moskau und der Iran haben angekündigt: „Wir kommen und führen hier wieder das alte System ein.“ Sie haben begonnen, andere Methoden auszuprobieren. Die Türkei verübt vom Norden aus Attentate auf die QSD und versucht die Bevölkerung einzuschüchtern und zu bedrohen. Außerdem versucht sie, zwischen den Stämmen in Girê Spî Probleme zu kreieren und sie gegeneinander aufzubringen. Es wird versucht, Widersprüche zu schaffen. Nun versucht auch das Regime von Süden her Antipropaganda wie, „die Kurden sind gekommen, um euch zu beherrschen“ zu verbreiten. Es werden außerdem Attentate auf Scheichs und Stammesführer verübt und es wird versucht, diese so von uns zu entfernen. Es wird damit gedroht, dass eine Annäherung an die Kurden den Tod bedeutet. Die Bevölkerung hat das verstanden, aber die Staaten versuchen, ein eigenes Bild zu schaffen. Damit hatten sie bisher jedoch keinen Erfolg. Neulich ist in Raqqa ein Scheich ermordet worden. Es wird versucht, in Girê Spî Konflikte zu schüren, aber auch das gelingt nicht. Bei dieser Praxis spielt der türkische Staat eine wichtige Rolle. Da diese Methoden aber keinen Erfolg hatten, will er nun direkt anzugreifen. Das Volk kann zum ersten Mal in einem demokratischen Verständnis aufatmen und identifiziert sich immer mehr mit der Bewegung.

Frage: Wie weit ist die Selbstverteidigung in der Bevölkerung gegen einen möglichen umfassenden Angriff der Türkei entwickelt?

Was die militärische Kraft betrifft, so gibt es Erklärungen der QSD zu ihren Vorbereitungen. Der Krieg bringt selbst schon Zerstörung mit sich. Wenn es zu einem Angriff kommt, werden die QSD und die Bevölkerung Widerstand leisten, sie werden die Hölle losbrechen lassen. Die QSD bereiten sich darauf vor und auch die Bevölkerung organisiert sich. Wenn Sie es aufmerksam verfolgen, dann können Sie beobachten, dass die Bevölkerung mittlerweile schon auf die kleinste Bedrohung reagiert. Auch die Araber*innen in den abgelegensten Dörfern sagen: „Wir akzeptieren das nicht.“ Wenn die Türkei angreift, hat sie alle Völker gegen sich und wird verlieren.

übernommen von Ajansa Nûçeyan a Firatê ANF Deutsch


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