Im Interview

Libanon Hanna GharibInterview mit dem Generalsekretär der Libanesischen Kommunistischen Partei (LCP), Hanna Gharib    

 

 

03.09.2020: Bereits seit dem 17. Oktober 2019, als eine noch nie dagewesene Bewegung den Sturz des nach religiösem Proporz installierten Regimes forderte, und erst recht seit der Explosion vom 4. August befinden sich die etablierten Parteien und das politische System des Libanon in einer tiefen Krise. Insbesondere seit der riesigen Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut am 4. August, die die halbe Stadt zerstörte und Hunderttausende obdachlos machte, reißen die Protestaktionen der Bevölkerung gegen die nachthabende politische "Elite" und das korrupte bisherige Regime der Verteilung von Staatsämtern und Regierungsposten nach dem Proporz der religiösen Parteigruppierungen nicht mehr ab. Keiner der Führer der sechs großen Parteien wagte es, nach draußen zu gehen, sich an den Schauplatz der Tragödie zu begeben und sich mit der verwundeten und wütenden Bevölkerung zu konfrontieren.

Am 10. August sah sich die amtierende Regierung Diab zum Rücktritt gezwungen.

Die religiös orientierten Parteien waren in zwei Lager gespalten. Nur wurde wenige Stunden vor der Ankunft des französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Beirut (1.9.) einigten sie sich darauf, einen Premierminister zu ernennen. Mustafa Adib, der bisherige Botschafter des Libanon in Berlin, soll eine neue Regierung bilden.

Paris mische sich nicht ein, beteuerte Macron in Beirut. "Es ist nicht an mir, die Führungsfiguren zu ernennen", sagte der Staatschef. Doch mit der Benennung von Mustafa Adib wird die Pariser Regionalstrategie in die Tat umgesetzt, während die religiösen Parteien damit versuchen, den Hals aus der Schlinge zu bekommen, denn Macron warnte, dass langfristige internationale Hilfe nur ausgezahlt werde, wenn bis Oktober Reformmaßnahmen eingeleitet worden seien. Auch schloss er Sanktionen nicht aus, sollte es in den kommenden drei Monaten keinen wirklichen Wandel geben.

Kurz vor dem Besuch Macrons im Libanon veröffentlichte die französische kommunistische "Humanité" ein Interview mit dem Generalsekretär der Libanesischen Kommunistischen Partei (PCL), Hanna Gharib.

 

Frage: Wie ist die Situation vier Wochen nach der Explosion?

Hanna Gharib: In den letztem sechs Jahren gab es vier verschiedene Regierungen und zwei Parlamente. Niemand hat der Verlagerung jener chemischen Substanzen aus dem Hafen von Beirut in ein unbewohntes Gebiet Bedeutung beigemessen. Diese politische Klasse hat die Leute getötet und das Land explodieren lassen. Sie haben nur Beamte festgenommen, statt die wirklich Verantwortlichen anzugehen. Niemand will die Verantwortung übernehmen. Es handelt sich aber sehr wohl um Korruption.

Am 8. August hat es eine große Demonstration gegeben. Wir waren auf der Seite derjenigen, die ein Ende des konfessionellen Regimes forderten, um Schluss zu machen mit der Elite an der Macht, und die mit den Sicherheitskräften konfrontiert waren. Aber wir waren auch mit jenen, die sich gegen ausländische Interventionen stellten, wie die Einmischung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Mit der Unterstützung der USA hat dieser die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit vorgeschlagen. In den letzten dreißig Jahren hat Frankreich alle libanesischen Regierungen unterstützt, nicht nur politisch, sondern auch finanziell So viel Geld, das in den Taschen derjenigen gelandet ist, die regierten.

Frage: Warum begibt sich Emmanuel Macron am heutigen Montag in den Libanon?

Hanna Gharib: Frankreich strebt danach, dass Frankreich zu einer starken Stellung im Mittleren Osten zurückfindet. Weil er weiß, dass auch ziemlich viele andere internationale Kräfte in der Region intervenieren. Da muss die Rolle der Amerikaner erwähnt werden, aber auch die der Iraner. Und jetzt ist es die Türkei, die viel im Libanon herummacht.

Mit den Kräften der Revolution vom 17. Oktober (2019) bereiten wir ihm (Macron) einen schönen Empfang vor, um ihm zu sagen, dass wir gegen seine Pläne für den Libanon sind, dass wir gegen eine Regierung der nationalen Einheit sind, die den gleichen Leute ermöglichen würde, auf ihrem Platz zu bleiben. Und wie bei seinem Besuch am 6. August fordern wir erneut die Freilassung des kommunistischen Aktivisten Georges Ibrahim Abdallah, der in Frankreich seit 36 Jahren im Gefängnis ist und seit 1999 entlassen werde müsste.

Frage: Was sind die Vorschläge, besonders seitens der Kräfte, die an den Demonstrationen des 17. Oktober teilgenommen haben oder daraus hervorgegangen sind?

Hanna Gharib: Wir schlagen zunächst die Bildung einer Regierung vor, die es gestatten würde, zu einer neuen Ära überzugehen. Diese müsste gebildet werden aus Persönlichkeiten, die nicht Mitglieder dieser konfessionellen Parteien an der Macht sind und außerhalb der politischen Elite stehen. Eine Regierung, die für eine beschränkte Zeit gesetzgeberische Befugnisse haben könnte. Damit ein neues Wahlgesetz verfasst werden kann, das Konfessionen nicht mehr berücksichtigt und in dem der Libanon als ein einziger Wahlkreis im Rahmen des Verhältniswahlrechts betrachtet wird. Es gilt auch ein wirklich unabhängiges Justizorgan zu bilden. Die Richter müssen die wirklich Verantwortlichen verhaften können. Und anstelle eines konfessionellen Staates muss ein ziviler, weltlicher und demokratischer Staat geschaffen werden. Darüber hinaus muss über die Schaffung einer produktiven und nicht mehr auf Importen basierenden Wirtschaft nachgedacht werden, was die Schaffung von Arbeitsplätzen ermöglichen würde. Die Emigration nimmt zu, ganz wie die Arbeitslosigkeit und die Zahl der Covid-19-Fälle, aber die Kaufkraft sinkt.

Frage: Werden diese Fragen unter den Kräften der Veränderung aufgenommen? Wer beteiligt sich an der Diskussion?

Hanna Gharib: Seit dem Beginn der Bewegung des 17. Oktober haben wir Vorschläge zum Aufbau eines neuen zivilen, weltlichen und demokratischen Staates gemacht. Es geht für jeden darum, Stellung zu beziehen: Wer ist gegen einen konfessionellen Staat und wer ist dafür? Wer ist für einen Staat der sozialen Gerechtigkeit und wer ist dagegen? Wer betrachtet Israel als Feind und wer nicht?

Wir sind auf viele Hindernisse gestoßen, aber es gibt Fortschritte. So konnten wir eine "Versammlung der Veränderung" organisieren mit fünf nicht-konfessionellen Parteien und Persönlichkeiten, die Spezialisten in Soziologie, Ökonomie, ehemalige Minister oder Journalisten waren. Es gibt auch eine Vereinigung von mehreren Kräften, die insbesondere rund fünfzig Jugendgruppen vereinigt, die Aktionen in den Straßen organisieren, an denen wir teilnehmen. Wir geben einen besonderen Platz auch den sozialen Fragen und folglich den Beziehungen zu den Gewerkschaften. Unser Ziel ist es zu helfen, dass alle diese Kräfte, die verschiedenartig sind, aber das gleiche Ziel haben, sich zusammenschließen.

Schließlich arbeiten wir mit Charbel Nahas von der Bewegung "Bürgerinnen und Bürger für die Veränderung" und mit dem nasseristischen Abgeordneten Ussama Saas am Aufbau einer Kraft, die ein Alternativprogramm verficht, das das Programm der nicht-konfessionellen Regierung sein soll, die wir installieren wollen. Wir müssen nun präziser werden, welches die Organisationen und Persönlichkeiten sein sollen, die daran beteiligt sind, um dazu eine öffentliche Ankündigung zu machen. Das wäre ein großer Fortschritt für die revolutionäre Bewegung, weil dieser Vorschlag dem der konfessionellen Parteien gegenüberstehen würde, die versuchen, sich rasch zu einigen, um die Macht zu behalten.

Quelle: l'Humanité, 30.8.2020
https://www.humanite.fr/hanna-gharib-il-faut-creer-un-etat-civil-laique-et-democratique-692940

Übersetzung: Georg Polikeit


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