Der Kommentar

Moria brennt17.09.2020: Moria ist in der Europäischen Union der Hölle am nächsten, kommentiert Gustavo Buster, Mitglied des Redaktionsausschusses der Zeitschrift Sin Permiso:

 

In der vergangenen Woche zerstörten nach Angaben des UNHCR drei Brände das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos vollständig. Die Brände wurden wahrscheinlich von Flüchtlingsgruppen gelegt, nachdem nach Ausbruch des Coronavirus mit 35 Infizierten das gesamte Lager eingesperrt wurde.

Moria ist in der Europäischen Union der Hölle am nächsten. Es wurde 2015 von der SYRIZA-Regierung als Zwischenlager für die Einstufung der fast 850.000 Flüchtlinge eingerichtet, die in jenem Jahr vor dem Krieg in Syrien und den Konflikten im Nahen Osten flohen. Ihr Aufenthalt in Moria sollte auf dem Weg zu ihrer Aufnahme und Reintegration als Asylsuchende in Europa nur vorübergehend sein.

Ein Jahr später, 2016, wurde mit dem Abkommen der Europäischen Union mit der Türkei die Fahrt der Boote zu den nahegelegenen griechischen Inseln in der Ägäis, insbesondere Lesbos, verriegelt. Die neue konservative griechische Regierung verwandelte das Flüchtlingslager in ein Gefängnis und hinderte die Geflüchteten am Einreisen auf das Festland und an der Ausreise aus Griechenland. Moria beherbergt derzeit etwa 15.000 Flüchtlinge, obwohl es mit einer Kapazität von 3.000 Personen gebaut wurde.

Wie allgemein bekannt ist, konnte sich die Europäische Kommission nicht auf eine gemeinsame Einwanderungspolitik mit Kontingenten für die Aufnahme von Flüchtlingen einigen, die auf die Mitgliedstaaten aufgeteilt werden. Die Dubliner Abkommen über das Recht auf Asyl wurden zur reinen Makulatur, während sich an den geschlossenen Grenzen Ungarns, der Slowakei und Bulgariens Szenen der Jagd auf Flüchtlinge durch rechte Milizen abspielten. Die Bearbeitung von Asylanträgen in Moria wurde zu einem langen und aussichtslosen Ritual, das schließlich zu einer Krise der psychischen Gesundheit und einer Flut von Selbstmorden führte, so medizinische NGOs, die in dem Lager arbeiten.

  "Das Leid der Schutzsuchenden auf Lesbos ist seit Jahren Kalkül. Knapp eine Woche nach dem Brand in Moria werden die weiterhin überwiegend obdachlosen Schutzsuchenden durch massive Polizeipräsenz, Tränengas und das Vorenthalten von Wasser und Nahrung massiv unter Druck gesetzt, damit sie in das neu entstehende Zeltlager ziehen. Das ist eine Zermürbungsstrategie, um die Erschöpften dann in dem Lager besser kontrollieren zu können. Es ist nachvollziehbar, dass einige Schutzsuchende misstrauisch sind und sich weigern, erneut in ein Lager zu gehen. Sie wollen nicht wieder eingesperrt werden. Es braucht eine grundsätzliche Neuausrichtung der EU-Flüchtlingspolitik, ein zweites Moria darf es nicht geben. … Das Feuer von Moria als eine Taktik der Lagerbewohner zu bezeichnen, die nicht durch das Gewähren von Menschenrechten belohnt werden dürfe, ist an Menschenverachtung kaum zu überbieten. Selbst wenn es einige der ehemaligen Bewohner waren, die das Feuer gelegt haben – das Aufbegehren gegen menschenverachtende Umstände ist absolut verständlich und legitim. "
Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag
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Hinzu kommen die Spannungen zwischen der griechischen Bevölkerung der Insel und den Flüchtlingen im Lager, die gezwungen sind, um die knappen materiellen Ressourcen zu konkurrieren, die auf Lesbos ankommen. Ohne ausreichende Hilfe seitens der EU und der griechischen Behörden verwandelte sich die anfängliche Solidarität in eine Welle der Fremdenfeindlichkeit gegenüber den Schwächsten. Und Donnerstag vergangener Woche, nach dem dritten Brand, der die prekären Einrichtungen des Internierungslagers endgültig zerstörte und Tausende von Flüchtlingen zwang, den Flammen zu entkommen, errichteten Gruppen griechischer Inselbewohner*innen Barrikaden, um die Bewegung der Geflüchteten in Richtung des Hafens von Mytilene zu blockieren und sogar die Ankunft von Hilfsgütern der NGO Ärzte ohne Grenzen und griechischer militärischer Hilfseinheiten zu verhindern.

Fast 12.000 Flüchtlinge kampieren derzeit unter freiem Himmel auf einem nahe gelegenen Friedhof, während Hunderte weitere auf der Insel umherwandern und nach Unterkunft oder Nahrung für sich oder ihre Familien suchen. Am Donnerstagmorgen evakuierten die griechischen Behörden angesichts der drohenden Gefahr rund 400 unbegleitete Minderjährige auf das Festland. Doch gleichzeitig kündigte der griechische Regierungssprecher Stellos Petsas an, dass keine weiteren Flüchtlinge Lesbos verlassen dürften: "Sie dachten, dass sie die Insel unbemerkt verlassen könnten, wenn sie Moria verbrennen würden. Das wird nicht geschehen".

Vorerst werden 1.000 Flüchtlinge vorübergehend auf einer Passagierfähre und ebenso viele auf zwei Schiffen untergebracht, die von der griechischen Regierung auf die Insel geschickt werden. Der Rest wird auf dem Friedhof warten müssen, während ein neues Internierungslager gebaut wird.

 

"praktizierte Nächstenliebe"

Dass Deutschland 100 bis 150 Jugendliche von Moria aufnehme, sei ein "ganz konkretes Beispiel praktizierter Nächstenliebe", so Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Nach einem erbärmlichen Feilschen um die Zahl der Menschen aus Moria, die Deutschland und die anderen EU-Mitgliedsländer aufzunehmen bereit sind, haben sich Union und SPD auf 1.553 Flüchtlinge geeinigt, die nach Deutschland dürfen. Das soll jetzt wohl der Beweis für die Humanität sein: Die Regierung eines der reichsten imperialistischen Länder der Welt mit 83 Millionen Einwohnern erklärt sich edelmuetigerweise bereit, 1.553 Flüchtlinge von Moria aufzunehmen. Während über 10.000 von ihnen in Schlamm und Dreck unter freiem Himmel oder in Zelten zurückbleiben, mangelernaehrt und ohne minimale Sanitäreinrichtungen, nicht nur Covid19, sondern allen möglichen mittelalterlichen Seuchen schutzlos ausgesetzt. Die Linksfraktion im Bundestag fordert die Bundesregierung auf, ihre Blockade gegen die Aufnahmebereitschaft zahlreicher Kommunen aufzugeben und "in einem ersten Schritt die rund 13 000 Menschen, die durch die Brände in Moria obdachlos geworden sind, aufzunehmen, soweit diese nicht in andere aufnahmebereite Länder möchten".

 
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Die Spannungen zwischen der Türkei und Griechenland in der Ägäis haben in den letzten Monaten noch weiter zugenommen, weil die Türkei einseitig ihre maritime Zone der wirtschaftlichen Ausbeutung weiter ausgedehnt und in ein bilaterales Abkommen mit der provisorischen libyschen Regierung der "nationalen Einheit" umgesetzt hat, das sie gegen die Milizen und Söldner des Oppositionsgenerals Halfter unterstützt. Obwohl das Abkommen von der Europäischen Union verurteilt wurde, hat dies die Erkundung und Bohrung nach Gas durch türkische Forschungsschiffe in den mit Griechenland umstrittenen Gewässern der Ägäisnicht verhindert.

Gleichzeitig erlauben die türkischen Behörden erneut Hunderten von Flüchtlingen, die türkische Küste in Richtung der griechischen Inseln in der Ägäis zu verlassen. Die Reaktion der konservativen griechischen Regierung bestand in den letzten Monaten darin, diese Flüchtlinge zu ergreifen und in motorlosen Booten oder ohne Ruder auf das Meer zurückzubringen, so dass die türkische Küstenwache sie retten muss oder die Schiffe beider Länder zusehen können, wie sie an der Seegrenze zwischen beiden Ländern ertrinken.

Der Zusammenbruch der Asyl- und Flüchtlingspolitik der Europäischen Union verurteilt erneut Zehntausende von Menschen zum Leben in einer lebendigen Hölle der Verzweiflung

In den milliardenschweren Wiederaufbauprogrammen der Europäischen Union zur Überwindung der Gesundheits- und Wirtschaftskrise im Zusammenhang mit dem Coronavirus ist für die am stärksten benachteiligte Bevölkerungsgruppe, die aus Zehntausenden von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Lagern auf den Inseln und dem griechischen Festland besteht, nichts vorgesehen. In der Tat scheint die Rhetorik der Rechtsextremen und rechtsextremer Regierungen wie die von Orban in Ungarn der einzige europäische Diskurs zu werden: den so genannten "Pull-Effekt" zu vermeiden, indem die Internierungslager zu einer noch größeren Hölle gemacht werden als die, die asylsuchende Flüchtende zur Flucht aus ihren Herkunftsländern zwingt.

13.9.2020, Gustavo Buster

  "Seehofer und ein Vertreter der EU-Kommission kündigten an, auf Lesbos werde nun ein neues Zentrum für Asylbewerber gebaut, ganz modern, mit EU-Geld und tatkräftiger Unterstützung aus Deutschland. Lager soll das Ding nicht heißen. Genau das soll es aber werden. Vorgesehen ist, jedenfalls wenn es nach Seehofer geht, ein geschlossenes Auffanglager für Geflüchtete und Migranten. ...
Das Konzept, das schon zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft präsentiert wurde, sieht vor, dass in solchen Zentren am Außenrand der EU Asylverfahren beschleunigt durchgezogen werden, möglichst in drei Monaten. Einfach weiterreisen soll selbstverständlich niemand in dieser Zeit. Das aber geht nicht ohne Mauern und Stacheldraht. Wer schließlich als schutzwürdig eingestuft wird, soll nach Europa dürfen, alle andere hingegen abgeschoben werden, möglichst direkt. ...
Das geplante Zentrum auf Lesbos, das nach Seehofers Vorstellung als 'Blaupause' für Auffanglager an allen EU-Außengrenzen dienen soll, wird ein riesiges Gefängnis. Abgelehnte Asylbewerber könnten dort Monate, wenn nicht Jahre festgehalten werden - jedenfalls wenn sie ein Asylverfahren mit allen Widerspruchsmöglichkeiten bekommen. Man mache sich da keine Illusionen. Die hohen menschenrechtlichen Standards, die im deutschen Asylrecht gelten, werden in den neuen Zentren an der EU-Außengrenze mit Sicherheit der Vergangenheit angehören. Es ist jetzt höchste Wachsamkeit gefragt."
Constanze von Bullion, Süddeutsche Zeitung, 11.9.2020, "Die Mär von der Menschlichkeit"
 
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Gemeinsame Erklärung von 31 NGOs zum Brand im Flüchtlingslager Moria

Griechenland: Flüchtlinge und Asylsuchende auf dem Kontinent in Sicherheit bringen

Die Achtung der Menschenrechte muss Vorrang vor der Anwendung von Gewalt haben

Nach dem gestrigen Brand in Moria, Lesbos, bei dem das Aufnahme- und Identifizierungszentrum zerstört wurde, fordern 31 Organisationen der Zivilgesellschaft die griechische Regierung auf, denjenigen, die ihre Unterkunft verloren haben, unverzüglich Hilfe zu leisten. Die Betroffenen, darunter viele Kinder und Risikogruppen, müssen sicher an einen sicheren Ort auf dem Kontinent gebracht werden.

Die Umsiedlung von Risikogruppen, darunter unbegleitete Kinder, schwangere Frauen, Menschen mit Behinderungen, Menschen mit medizinischen und psychischen Gesundheitsproblemen und ältere Menschen, muss eine Priorität sein. Personen, die positiv auf Covid-19 getestet wurden, sollten während der Zeit der Quarantäne, der medizinischen Versorgung und gegebenenfalls des Krankenhausaufenthalts eine sichere Unterkunft erhalten.

Die Umsiedlung von Flüchtlingen von Lesbos auf das griechische Festland erfordert dringende Lösungen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass viele der derzeitigen Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge und Asylsuchende voll ausgelastet sind. Wir fordern die griechischen Behörden nachdrücklich auf, an einem kohärenten Plan zu arbeiten, der alle verfügbaren Ressourcen, einschließlich derer der EU, maximiert, und wir erneuern unseren Aufruf an die europäischen Staats- und Regierungschefs, die Verantwortung für die Aufnahme und Unterstützung von Asylbewerbern mitzutragen, jetzt mehr denn je.

In diesen schwierigen Zeiten ist es von größter Bedeutung, dass die Achtung der Menschenrechte im Mittelpunkt der Reaktion auf den Brand in Moria steht und dass die Behörden keine Gewalt oder Hetzreden anwenden, sondern geeignete Maßnahmen ergreifen, um das Risiko von Gewalt zu mindern.

ActionAid Hellas, Amnistía Internacional, Fundación para refugiados en barco, CRWI Diotima, ECHO100PLUS, ELIX, Igualdad de derechos más allá de las fronteras, Fenix - Asistencia jurídica humanitaria, Consejo Griego para los Refugiados (GCR), Liga Helénica por los Derechos Humanos, Plataforma helénica para el desarrollo (Ελληνική Πλατφόρμα για την Ανάπτυξη), Ayuda a los refugiados, Hias Grecia, Derechos humanos360, Asistencia jurídica humanitaria, Human Rights Watch, Comité Internacional de Socorro (IRC), INTERSOS Hellas, Centro Jurídico de Lesbos, Médicos sin Fronteras, Melissa, Red de derechos del niño, Omnes, Ayuda legal para refugiados (RLS), Derechos de los refugiados en Europa (RRE), Apoyo a los refugiados del mar Egeo (RSA), Iniciativa contra el trauma de los refugiados, Solidaridad ahora, Simbiosis - Escuela de Estudios Políticos en Grecia, Tierra de Hombres, Grecia, Proyecto HOME


Der Kommentar und die Erklärung sind am 13.9.20 auf der Internetseite von Sin Permiso veröffentlicht worden.

https://www.sinpermiso.info/textos/moria-el-infierno-de-la-politica-de-asilo-de-la-union-europea
eigene Übersetzung

Moria medico international Spenden

https://www.medico.de/moria-selbstorganisation-staerken-17880/


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