Europa

Tuerkei Verhaftung Handschellen28.09.2020: Begleitend zur Besetzung syrischen Territoriums und massiven Menschenrechtsverletzungen durch die Besatzungstruppen, dem türkischen Säbelrasseln im Mittelmeer gegenüber Griechenland und Zypern, der Beteiligung am Krieg in Libyen und dem Entsenden von Söldnern und Waffen nach Aserbaidschan läuft in der Türkei die größte Festnahmewelle der letzten Jahre. Die Ko-Vorsitzende der HDP, Pervin Buldan spricht von einer Fortsetzung der politischen Putschversuche der AKP.

 

Am Freitag (25.9.) wurde gegen 82 kurdische und türkische linke Politiker*innen ein Haftbefehl erhoben. 20 Personen sollen bei landesweiten Razzien bereits festgenommen worden sein. Zur Fahndung ausgeschrieben sind insgesamt 82 Personen, 61 von ihnen befinden sich laut der türkischen Behörden im Ausland und sollen daher bei der internationalen kriminalpolizeilichen Organisation Interpol auf die Fahndungsliste gesetzt werden.

Unter den Festgenommenen befinden sich hochrangige Vertreterinnen und Vertreter der Demokratischen Partei der Völker (HDP), darunter der Ko-Bürgermeister der nordkurdischen Stadt Qers (türk. Kars), Ayhan Bilgen, der Filmemacher, ehemalige Parlamentsabgeordnete und einstige Sprecher der Imrali-Delegation Sirri Süreyya Önder (der erst letztes Jahr wieder aus dem Gefängnis gekommen war), der langjährige außenpolitische Sprecher Nazmi Gür, Politökonom und Journalist Alp Altınörs, die früheren Abgeordneten Ayla Akat Ata, Altan Tan und Emine Ayna sowie die ehemaligen Exekutivratsmitglieder Ali Ürküt, Gülfer Akkaya, Can Memiş, Beyza Üstün, Günay Kubilay, Dilek Yağlı, Berfin Köse, Bircan Yorulmaz, Cihan Erdal und Pervin Oduncu.

 

Festnahme Sirri Suereyya Oender

 
  Der beliebte linke Politiker Sırrı Süreyya Önder Freitagmorgen bei seiner Festnahme.  
  Festnahme Alp Altinoers  
  Alp Altınörs, sozialistischer Journalist, Autorund HDP-Vorstandsmitglied, bei seiner Festnahme  

 

Als Grund nennen die türkischen Behörden ihre vermeintliche Beteiligung an Demonstrationen im Oktober 2014, als die HDP anlässlich des IS-Angriffs auf die Stadt Kobanê in Westkurdistan/Nordsyrien auch gegen die Unterstützung der türkischen Regierung für die dschihadistische Terrormiliz protestierte. Bereits die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş waren unter anderem wegen der Beteiligung an den "Kobanê-Protesten" verhaftet worden.

Über das Verfahren wurde eine Geheimhaltungsverfügung verhängt, der Anwaltsbesuch wird weiterhin verweigert. Die Rechtsanwält*innen wollten Widerspruch gegen das Fortdauern des Gewahrsams und die Geheimhaltung einlegen, wurden jedoch am Betreten des Gerichts gehindert.

Nach der Festnahmewelle vom 25. September soll nun sieben HDP-Abgeordneten die Immunität abgesprochen werden. Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat angekündigt, die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von sieben HDP-Parlamentarier*innen zu beantragen, die zur Zeit der Kobanê-Proteste im Oktober 2014 Mitglied des zentralen Exekutivrates der HDP waren.

Proteste gegen Repressionswelle gegen HDP

"Eine Fortsetzung der politischen Putschversuche der AKP"
Pervin Buldan, Ko-Vorsitzende der HDP

Am Samstag erklärte die Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Pervin Buldan, dass es sich bei der Festnahmewelle um "eine Fortsetzung der politischen Putschversuche der AKP" handle. Pervin Buldan: "Unsere ehemaligen Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ und zahlreiche weitere Abgeordnete sowie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister befinden sich seit vier Jahren im Gefängnis. Seit ihrer Verhaftung sind die politischen Vernichtungsoperationen ununterbrochen fortgesetzt worden. … Bei dem gestrigen Vorgehen handelt es sich also nicht um eine neue Operation, sondern um eine Fortsetzung der politischen Putschversuche der AKP." Pervin Buldan rief dazu auf, dass die gesamte Opposition Mittel und Wege finden müsse, um geschlossen gegen das AKP-Regime vorzugehen.

Der HDP-Vizefraktionsvorsitzende Saruhan Oluç erklärte zu den Massenverhaftungen in der Türkei, dass die Regierung den Hass auf die Kurden und die demokratische Opposition als Ausweg nutzt, um ihre erfolglose Innen- und Außenpolitik zu verschleiern. Die HDP solle über Festnahmen und Verhaftungen handlungsunfähig gemacht, diese Strategie sei Teil des 2014 vom türkischen Sicherheitsrat beschlossenen Vernichtungskonzepts. Oluç erinnerte an die erfolglose Innen- und Außenpolitik der Regierung und erklärte, dass die AKP/MHP-Koalition mit der Repressionswelle versuche, sich einige Tage länger auf den Beinen zu halten.

Demo Istanbul 2020 09 27In Istanbul ist ein breites linkes Bündnis auf die Straße gegangen, um gegen die Festnahmewelle gegen die HDP zu protestiert. Mehmet Emin Kırşanlıoğlu von der Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes (KESK) erklärte, das Regime verschärfe seine Repression, um sich vor dem Zerfall zu retten: "Der Kampf um Freiheit, Demokratie und die Rechte der Werktätigen ist wie immer dort besonders schwer, wo keine Meinungsfreiheit herrscht, wo die demokratische Opposition mit Repression überzogen wird, die grundsätzlichsten Menschenrechte niedergetrampelt und Politiker, Juristen und Journalisten rechtswidrig in Gefängnisse geworfen werden. Aber allen muss klar sein, dass dies niemanden von uns einschüchtert, unsere Augen nicht von Angst erfüllt sind und wir uns niemals vom Kampf um Demokratie und Gleichheit abbringen lassen werden."

Türkische Exilpolitiker*innen fordern Solidarität mit der HDP

In einem offenen Brief rufen Exilpolitiker*innen der HDP zu ernstgemeinter Solidarität mit der demokratischen Opposition in der Türkei auf. Beschwichtigungspolitik, Wegschauen und verbale Lippenbekenntnisse schaden der Demokratie und nützen den Diktaturen, heißt es in dem von der HDP-Deutschlandvertretung veröffentlichten Schreiben.

Linke und Grüne solidarisch mit der HDP

Nach der erneuten Repressionswelle in der Türkei fordern Politikerinnen und Politiker der Linkspartei und der Grünen in Deutschland die Freilassung der Festgenommenen und bekunden Solidarität mit der HDP. "Es muss daher völlig klar sein, dass wir solidarisch sind mit den politischen Gefangenen. Alle politischen Gefangenen müssen freigelassen werden", erklärte der Ko-Vorsitzende der Linkspartei Bernd Riexinger.

"Waffenlieferungen und Finanzhilfen für den Despoten müssen endlich gestoppt werden"
Sevim Dagdelen, Mdb, DIE LINKE

Sevim Dagdelen, Sprecherin für Abrüstungspolitik der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, erklärte zu der Repression gegen die HDP:
In der Türkei werden führende Mitglieder der Oppositionspartei HDP festgenommen, darunter Bürgermeister und frühere Abgeordnete. Ihnen wird allen Ernstes vorgeworfen, 2014 gegen den Angriff der Terrormiliz IS auf Kobanê protestiert und zum Schutz der Stadt im Norden Syriens aufgerufen zu haben. Aus ihrer Solidarität mit dem heldenhaften Widerstand in Kobanê gegen die islamistischen Mörderbanden soll ihnen jetzt ein Strick gedreht werden. Absurder geht es gar nicht. (...) Die neuerliche Repressionswelle des Despoten Erdoğan gegen die demokratische Opposition darf seitens der Bundesregierung und EU nicht unbeantwortet bleiben. Waffenlieferungen und Finanzhilfen für den Despoten müssen endlich gestoppt werden. Wer wie Erdogan mit Islamisten paktiert und Demokraten terrorisiert, darf von der EU auch nicht länger mit wirtschaftlichen Sonderkonditionen wie der Zollunion belohnt werden. (...)"

Bundesregierung macht sich zum Handlanger des Erdoğan-Regimes

"Wenn Sanktionen gegen die Türkei doch auch mal so schnell kommen würden wie gegen Belarus."
Kerem Schamberger (marxistische linke)

Kerem Schamberger (marxistische linke) kritisiert, dass Bundesregierung und EU bei Menschenrechtsverletzungen mit zweierlei Maß messen. Während gegen Venezuela und Belarus Sanktionen verhängt werden, schweigen Bundesregierung und EU seit Jahre zu den schweren Menschenrechtsverletzungen in Nordsyrien durch die türkische Armee und ihre dschihadistischen Söldnertruppen. Die Vergiftung des »Kremlkritikers« Alexej Nawalny durch Unbekannte führte umgehend zu einer scharfen Warnung der Bundesregierung in Richtung Russland, und über die kurzzeitige Festnahme des »Demokratieaktivisten« Joshua Wong durch Hongkonger Behörden wurde in dieser Woche umfangreich berichtet. Dagegen schweige Bundesaußenminister Maas (SPD), wenn in der Türkei um die hundert Oppositionelle von der Polizei aus ihren Wohnungen geholt oder kurdische Bauern aus Militärhubschraubern geworfen werden. Und nicht nur das: Mit den Prozessen gegen türkische Linke und kurdische Aktivist*innen mache sich die Bundesregierung und die deutsche Justiz direkt zum Handlanger des Erdoğan-Regimes, so Schamberger.

DIE GRÜNEN: Rachefeldzug gegen Andersdenkende

Die Grünen-Vorsitzenden Claudia Roth und Cem Özdemir stellen fest, dass Präsident Erdoğan mit der Festnahmewelle "seinen autokratischen Kurs und seinen Rachefeldzug gegen alle Andersdenkenden" weiter fortsetzt. "Erdoğan geht es im Umgang mit seinen Kritikerinnen und Kritikern nicht um Justiz und Rechtsprechung, ihm geht es um die Unterdrückung und Ausschaltung jeglicher Kritik."

 

"Allein innerhalb der letzten zwölf Monate wurde gegen 36.000 Personen wegen Beleidigung Erdogans ermittelt. Zwölftausend Personen wurden angeklagt, rund viertausend zu Haftstrafen verurteilt. 308 der Angeklagten waren noch keine achtzehn Jahre alt, also Minderjährige. Das "Verbrechen" eines von Tausenden zu Haft Verurteilten möchte ich Ihnen kurz schildern. Vezir Emeç hatte folgenden Satz getwittert: "Was habt ihr immer mit dem Benzin, wir haben den teuersten Staatspräsidenten der Welt ..." Emeç wurde zu zwei Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt.
Sie müssen nicht unbedingt Erdogan kritisieren, um in die Mühlen der Justiz zu geraten. Es ist schon riskant, von ihm eingesetzte Beamten zu bemängeln. Misra Öz verlor bei dem Zugunglück vor zwei Jahren, das 25 Menschen das Leben kostete, ihren neunjährigen Sohn Oguz Arda. Nun hat sie wegen ihrer Tweets, in denen sie fordert, dass die Verantwortlichen für die Katastrophe vor Gericht kommen, eine Haftstrafe zu gewärtigen. Es gab keinen einzigen Prozess wegen Fahrlässigkeit im Zusammenhang mit dem Zugunglück. Aber Misra Öz, die die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen sehen will, muss vor Gericht. Für ihre Kritik soll sie für mehr als vier Jahre hinter Gitter."

FAZ, 26.9.2020: Bülent Mumay, "Brief aus Istanbul - Schau bewaffneten Salafisten zu"