31.05.2013: Die Gewerkschaftstage von ver.di und IG Metall hatten im Herbst 2011 einen Neustart für die Debatte um Arbeitszeitverkürzung beschlossen. Arbeitszeitverkürzung muss und kann wieder Stoßrichtung der Arbeitszeitpolitik werden, anders sind große gesellschaftliche Probleme wie Massenarbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung nicht zu lösen, heißt es im gemeinsamen Offenen Brief der Initiative „Arbeitszeitverkürzung jetzt!“, der AG Alternative Wirtschaftspolitik und der Attac- AG „Arbeit Fair Teilen“ vom Februar 2012. Namhafte Persönlichkeiten unterzeichneten, und der 20. Parteitag der DKP beschloss als einen eigenen Schwerpunkt, die Diskussion dazu in den Betrieben, Gewerkschaften und in der Gesellschaft zu unterstützen. In der jüngsten Ausgabe der „Marxistischen Blätter“ begründet Stephan Krull, Briefmitverfasser wie Heinz-Josef Bontrup, Mohssen Massarat und Margareta Steinrücke, den neuen gesellschaftlichen Anlauf aus marxistischer Sicht.
Den meisten der rund 750 Teilnehmer am Bündnis-Kongress „Umverteilen. Macht. Gerechtigkeit“ vom 24. bis 26. Mai in Berlin wurde das Plädoyer „30-Stunden-Woche für Europa“ an den Saaleingangstüren zugesteckt. Das brachte zwei gesonderten Workshops in kleineren Räumen beträchtlichen Zulauf. Desto ungehaltener fielen Einsprüche auch im größeren Rahmen gegen die „Zurückhaltung“ des DGB und seiner Einzelgewerkschaften aus, die im Bundestags-Wahljahr 2013 im Umfeld von SPD und Grünen gar nicht so merkwürdig ist. Trotz des offenkundigen Dissens‘ mit der jeweiligen Basis verschweigen die Abschlusserklärungen des Umverteilen- Bündnisses das Thema ganz. Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Annelie Buntenbach bekannte sich zwar vorsichtig zu einer europaübergreifenden Gewerkschaftspolitik, doch sehe sie diese „sicherlich gute und richtige Perspektive“ von 30 Wochenstunden im gegebenen Kräfteverhältnis als „ausgesprochen schwierig“.
Dass die Initiative für eine 30-Stunden- Woche als eigentliches Kongress- Thema verhindert wurde, kritisierte Mohssen Massarat scharf. Es gehöre angesichts einer verdeckten Massenarbeitslosigkeit von de facto rund 6 Millionen Menschen und einer verursachenden Umschichtung von 800 Milliarden Euro von unten nach oben unmittelbar auf die Tagesordnung, sagte der ehemalige Professor für Politik und Wirtschaft im Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück beim Podium „Löhne und Arbeitszeiten“. Angstdominiert schluckten die Gewerkschaftsführungen tendenzielle Lohnzurückhaltungen und -senkungen bei einer auf 6 bis 8 Prozent gestiegenen Gewinnquote, wovon etwa zwei Billionen Euro außerhalb der Realwirtschaft verzockt werden. Für die einzige Möglichkeit, den grassierenden Hartz-IV-Prozess umzudrehen und auf niedrigerem Arbeitszeitniveau Vollbeschäftigung bei vollem Lohnausgleich zu erlangen, sollten die Gewerkschaften ihrem grundsätzlichen Auftrag folgen und (statt Klassenharmonie, HF) gezielt Bewusstsein schaffen.
Detlef Hensche, langjähriger wie legendärer Streiter im Hauptvorstand der damaligen IG Druck und Papier, erinnerte an den langen Anlauf zu einer 35-Stunden-Woche ab Mitte der 70er Jahre bis zum ersten Abschluss in der Metallbranche 1984. Die allgemeine Einführung am Ende der 80er Jahre war ein gewerkschaftlicher Kampagnenerfolg, der sich der umfassenden Koordinierung und breiten Bündelung der Kräfte verdankte. Hensche verwies aber auch darauf, dass der Preis dafür, zunehmend in den 90er Jahren, die Zustimmung zu flexibleren Arbeitszeiten war. Über diesen Hebel zur „Standortsicherung“ wurde der Aufbruch letztlich zunichte gemacht und dann endgültig mit der Schröder-SPD die immer weiter fortschreitende Prekarisierung der Arbeit ermöglicht.
Der Bereichsleiter der Tarif-Grundsatzabteilung beim ver.di-Bundesvorstand, Jörg Wiedemuth, wiegelte anhand einer Mitgliederumfrage ab: Arbeitszeitverkürzung stehe derzeit „weder auf der tarifpolitischen noch auf der gesellschaftlichen Agenda“. Im Bewusstsein der Mitgliedermehrheit sei diese Forderung angesichts der vorherrschenden betrieblichen Orientierung und damit einhergehender befristeter Beschäftigungssicherungen nicht verankert. Funktionäre auf unterschiedlichen Ebenen betrachteten die Durchsetzbarkeit skeptisch, selbst wenn sie davon überzeugt wären, dieser Schritt sei notwendiger denn je. Anders als in den achtziger Jahren sehen sich die Gewerkschaften bei einer verschärften Massenarbeitslosigkeit in einer lohnpolitischen Defensive. „Dieses Brett gegen erheblichen Widerstand des Kapitals zu bohren, heißt auf einen gesellschaftlichen Großkonflikt zuzusteuern, ohne zu wissen, welche Regimenter man hinter sich hat“, so Wiedemuth weiter. 2004 streikten der Öffentliche Dienst und der Einzelhandel. Damals wurden vergleichbare Forderungen aufgestellt, doch mit Arbeitszeitverlängerungen beantwortet. Da diese Erfahrungen das Bewusstsein der Kollegen prägen, suche ver.di mit der Kampagne „Gute Arbeit“ betrieblichen Widerstand gegen ausgeweitete Arbeitszeiten zu stützen. Wiedemuth: „Es nützt uns überhaupt nichts, wenn wir zwar über das richtige Wissen verfügen, doch das kämpferische Bewusstsein der Beschäftigten dafür nicht ausgeprägt ist.“
Hertha Ritsche, eine Büro-Sekretärin, zeigte sich wie andere Diskussionsteilnehmer von solcher Haltung überrascht, zumal die Umfrage-Formulierungen stets um den heißen Brei herum geredet hatten. Sie sei deshalb in ver.di organisiert, weil sie sich von der größten Einzelgewerkschaft die höchste Durchsetzbarkeit verspreche, um die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit vernünftig zu verteilen. Wenigstens die ver. di-Jugend sei nun dafür. In künftigen Tarifauseinandersetzungen sollte ver. di vor allem die mehrbelasteten Frauen unter den Beschäftigten fragen, wieviel Stunden weniger wollt ihr alle bei vollem Lohn- und Personalausgleich arbeiten, statt ein weiteres Mal rein symbolische Lohnerhöhungen anzupeilen. „Wir müssen doch nicht nur denen, die ohnehin schon viel verdienen, zu einigen Prozenten mehr verhelfen.“
Text: Hilmar Franz (UZ vom 31.05.13)