Literatur und Kunst

10.08.2023: Revolution und Konterrevolution: Matin Baraki über die neuere Geschichte und die Gegenwart Afghanistans

 

Als westliche Truppen 2021 gleichsam bei Nacht und Nebel Afghanistan verließen, kamen Vergleiche mit der Niederlage der USA in Vietnam auf. Hatte sich unter dem Schutz der NATO und an der Seite von Warlords ein mafiöses System herausgebildet, so gelangten am Ende eines verheerenden »War on Terror« wieder jene an die Regierung, die man einst vertrieben hatte – in einem Krieg, der laut Bundesregierung zunächst nicht als solcher zu benennen war. Um die Entwicklung des geostrategisch umkämpften Landes einzuordnen, greift der Band die Revolution von 1978 auf, mit der sich ein nichtkapitalistischer Entwicklungsweg eröffnete. Afghanistan dürfe keine Schule machen, so US-Außenminister Henry Kissinger. Mit US-Hilfe wurden die islamistischen Mudjaheddin, die Taliban und Al-Qaida aus der Taufe gehoben und mit Waffen versorgt. Zur Beurteilung der daraufhin folgenden sowjetischen Intervention wertet Matin Baraki lange Zeit ›streng vertrauliche‹ Dokumente der KPdSU aus. Und er zeigt für die Zeit nach dem Ende der UdSSR, wer den Taliban warum zur Macht verhalf – und warum sie weichen mussten, bevor sie wiederkamen.

Aufbau und Inhalt

Nach einem Vorwort des Politik-Professors Werner Ruf, das die Rolle der USA als imperiale Aufsichtsmacht im Widerstreit mit antikolonialen Bewegungen ins Blickfeld rückt, folgt ein kurzer Prolog des Autors, der diese Perspektive am Fall Afghanistan bestätigt: In der humanitären Katastrophe größten Ausmaßes sei ein geopolitischer Konflikt ausgetragen worden, nachdem sich die Sowjetunion angesichts des NATO-Doppelbeschlusses vom 12.12.1979 und der Verschärfung der Blockkonfrontation zu einer Intervention entschlossen hatte und „die islamistischen Mudjaheddin, im Westen Freiheitskämpfer genannt, die Taliban und Al Quaida mit Hilfe der CIA und befreundeter Geheimdienste de facto erfunden, aufgebaut, ausgebildet und bewaffnet (wurden)“ (S. 13f).

Danach gliedert sich das Buch in zwei Teile. Im ersten Teil legt Baraki in 16 Kapiteln und einem Epilog seine Analyse vor, in einem zweiten Teil werden zahlreiche – teils erstmals übersetzte Dokumente – zugänglich gemacht, beginnend mit dem Grundsatzprogramm der moskautreuen „Demokratischen Volkspartei Afghanistans“ (DVPA), deren Antrag an die sowjetische Führung seinerzeit die Invasion der Roten Armee auslöste, und abschließend mit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA über den Abzug der US-Truppen, das 2020 in Katar unter der Präsidentschaft von Trump ausgehandelt und vom Nachfolger Biden im August 2021 umgesetzt wurde. Eine Zeittafel und eine knappe Literaturauswahl runden das Buch ab. Dabei sind die entscheidenden Punkte des Dokumententeils in den Gang der Analyse eingearbeitet, vor allem Belege aus den erstmals zur Verfügung gestellten russischen Akten (S. 233ff), die das lange Zögern Breschnews gegenüber dem Hilferuf der DVPA deutlich machen, sowie die Mitteilungen des Sicherheitsberaters Brzeziński, die das frühzeitige, bereits vor der Invasion erfolgte US-Engagement in Afghanistan bezeugen. Brzeziński im Rückblick: „Wir haben die Russen nicht gedrängt zu intervenieren, aber wir haben die Möglichkeit, dass sie es tun, wissentlich erhöht“ (S. 232).

Dieter Reinisch besprach das Buch am 12.6.2023 in der Zeitung jw:

Die US-Besatzung Afghanistans begann 2001 mit dem Ziel der Einsetzung einer prowestlichen Regierung in Kabul. Das gelang und scheiterte zugleich: Diese Regierung und ihre Nachfolger versanken im Korruptionssumpf und hatten beim Abzug der US-Truppen 2021 jenseits von Kabul keinerlei Autorität. Heute ist das Land bettelarm. Demokratische und Frauenrechte werden von den Taliban zusehends eingeschränkt. Große Geldreserven werden nicht für die neuen Machthaber freigegeben, denen es so nicht möglich ist, das Land zu entwickeln und Hunger und Armut zu bekämpfen. Die Ursachen dieser katastrophalen Lage des Landes und der Bevölkerung liegen weiter zurück als der Beginn der Taliban-Herrschaft: Diese Herrschaft selbst ist ein Resultat jahrzehntelanger Entwicklungen.

Das »westliche« Narrativ besagt: 1979 habe die Sowjetunion in Afghanistan interveniert und die Krise ausgelöst. In seiner Geschichte Afghanistans zeichnet Matin Baraki ein anderes Bild. Der Autor wurde 1947 in Kabul geboren und zog später in die Bundesrepublik, wo er an der Universität Marburg promoviert wurde. Seine Darstellung beginnt nach dem Zweiten Weltkrieg und spannt einen Bogen über die politische Geschichte des Landes von der Monarchie bis 1973, die Republik, die demokratischen und sozialistischen Regierungen der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) bis 1992, in deren Zeit auch die sowjetische Intervention fällt, gefolgt von den vier Jahren der islamistischen Mudschaheddin, den Taliban von 1996 bis 2001 und schließlich den Jahrzehnten der US-Besatzung.

Baraki geht aufschlussreich auf die Entstehung der DVPA und ihre internen Streitigkeiten ein, die zur Schwäche der Bewegung führten. Eingebettet sind seine Darlegungen in das Konzept der nationaldemokratischen Revolution und die Frage, ob und wie feudale und vorkapitalistische Länder den Weg hin zur sozialistischen Revolution beschreiten können.

Besonders instruktiv sind die Überlegungen zum Scheitern der Revolution 1978 und zur sowjetischen Intervention. Er beschreibt die Reformen, die nach dem Umsturz am 27. April 1978 eingeführt wurden: Regelungen der Ehe und Scheidung, Bodenreform und umfassende Alphabetisierung. Ziel war, die »feudalen und halbfeudalen Strukturen aufzubrechen«, schreibt er. Hier machte die Regierung Fehler, die das Scheitern der Revolution einleiteten. So blieben zum Beispiel die Stammesstrukturen unberücksichtigt: »In der Regel sind die Großgrundbesitzer zugleich auch Stammes- bzw. Religionsführer, was es außerordentlich problematisch macht, ihr Land an Stammes- bzw. Gemeindemitglieder zu verteilen.« Hier setzte die Konterrevolution an: »Ende 1979 war die Lage der Regierung hoffnungslos.«

Mehrmals forderte die Regierung in Kabul bis zum Dezember 1979 militärische Hilfe von der Sowjetunion an. Moskau wollte nicht militärisch intervenieren, doch im Dezember »musste die Sowjetunion für die unfähige afghanische Führung die Kastanien aus dem Feuer holen«. Islamisten aus 40 Ländern, herangeführt und ausgerüstet im Zuge der »größten Geheimoperation in der Geschichte der CIA«, begannen den Kampf gegen die fortschrittlichen Kräfte und die Sowjetarmee: Aus einer halben Revolution wurde eine »Megakonterrevolution«, so Baraki. Diese Konterrevolution führte als »islamistische Karawane« aus Afghanistan und Pakistan über Bosnien, Tschetschenien, Irak, Syrien und Libyen zurück nach Afghanistan.

Von der Nachhut dieser Karawane geht heute die größte innenpolitische Gefahr für die Taliban aus: der »Islamische Staat – Provinz Khorasan«. Baraki betont: »Ob es uns gefällt oder nicht, die Taliban sind derzeit die einzige reale politische und militärische Macht auf dem afghanischen politisch-strategischen Schachbrett.« Sie sind die einzigen, die garantieren können, was die Bevölkerung wünscht: Frieden. Ob innerhalb der Taliban die »gemäßigten« Kräfte gewinnen, die eine islamische Republik nach dem Vorbild des Iran aufbauen wollen, oder sich doch islamistische Hardliner durchsetzen, hängt auch davon ab, wie die Taliban-Regierung von anderen Ländern behandelt wird. Konfrontation und Sanktionen werden ziemlich sicher zum Sieg der Hardliner führen. Baraki hat ein wichtiges Buch geschrieben. Es wird den Blick jedes Lesers auf Afghanistan verändern.

Autor
Dr. Matin Baraki ist ein deutsch-afghanischer Politologe, der seit 1974 in der Bundesrepublik lebt, wo er 1995 an der Philipps-Universität Marburg promoviert wurde und danach an verschiedenen Universitäten Lehraufträge für Internationale Politik wahrnahm. Er trat auch 2011 mit einem eigenen „18 Punkte-Vorschlag“ zu einem möglichen Friedensvertrag in Afghanistan hervor.

Buch Matin Baraki Afghanistan

Matin Baraki
Afghanistan. Revolution, Intervention, 40 Jahre Krieg.
Papyrossa, Köln 2023, 287 Seiten
19,90 Euro
ISBN: 978-3-89438-793-8
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Farkha Festival Komitee ruft zu Spenden für die Solidaritätsarbeit in Gaza auf

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