Meinungen

Pandemische Visionen04.06.2020: Was fehlt, sind Debatten. Wirklich offene Debatten zu Themen wie TISA, Libyen, Ukraine, Finanzkrise oder eben jetzt zu Corona, meint Holger Pötzsch, Professor Media- and Documentation Studies Department of Language and Culture an der Universität von Tromsø in Norwegen

 

Was fehlt, sind Debatten. Wirklich offene Debatten zu Themen wie TISA, Libyen, Ukraine, Finanzkrise (siehe Krüger 2016) oder eben jetzt zu Corona. Debatten ohne Denkverbote, die anschaulich machen, dass sich zu diesen Themen nicht alle einig sind. Und dass unsere Führungsriegen, trotz demonstrativer Einigkeit, nicht notwendigerweise in die einzig mögliche (oder sinnvolle) Richtung marschieren.

Solche Debatten finden aber kaum statt. Das Spektrum der in den Leitmedien verbreiteten Meinungen wird immer enger. Die Toleranzfähigkeit der etablierten Machtverhältnisse nimmt offenbar ab. Dissens wird schwierig und kostspielig. All das deutet leider nicht auf ein stabiles Gemeinwesen hin. Eher im Gegenteil. Was noch steht, wirkt irgendwie hohl und hinfällig. Aber stehen tut es dennoch. Und die große Frage ist, was kommt, wenn es fällt. Das Virus als Symptom eines Niedergangs.

Damit also zu Corona. Allein die scheinbar simple Frage, ob man Experten und Fakten in dieser Angelegenheit Glauben schenken kann oder nicht, erweist sich bei zweitem Hinsehen als gar nicht so einfach und voller Probleme und Widersprüche. Meiner Meinung nach soll man in einer Demokratie nichts und niemandem Glauben schenken – und schon gar nicht von Massenmedien Vermitteltem. Man soll sich gerne überzeugen, und im Notfall eben auch mal überreden lassen, aber Glauben schenken erscheint mir ein schlechter Ausgangspunkt für politische Debatten, ob nun zu Corona, Klimawandel, Artensterben, globale Ausbeutung, Donald Trump oder sonst was.

Aber was denn dann mit den Experten und den Fakten? Wie soll man wissenschaftliche Funde beurteilen können, wenn man doch selbst kein Experte ist? Muss man denen nicht einfach glauben? Mit ihren Methoden, Labors, Zahlen, Studien, Tabellen, Karten … Vor allem wenn das scheinbar alle (ernstzunehmenden) Politiker der Welt und alle (verantwortlichen) Medienmacher tun und die Experten (fast) alle das gleiche sagen? Was soll ich mich denn da noch einmischen? Mache ich mich da nicht zu einem nutzlosen Störenfried? Zu einem Stein im sonst fehlerfrei funktionierenden gesellschaftlich-politischen Getriebe, das jetzt vereint zur Rettung der Alten und Kranken antritt? Der Teufel liegt wie immer im Detail (oder hier in Klammern).

Es sind sich nämlich nicht alle einig, auch wenn einem das im Fernsehen so vorkommen mag. Und die selektive Zuschreibung von Verantwortlichkeit und Ernsthaftigkeit sind diskursive Machtmittel. Wer auch nur das Geringste von Wissenschaft und Politik versteht, wird fehlende Einigkeit auch keineswegs überraschend und auf gar keinen Fall verwerflich finden. Konsens bedeutet nämlich nicht Einigkeit. Konsens bedeutet, dass man aufgrund eines übergeordneten Interesses von eigenen Positionen zeitbegrenzt absieht, um Handlungen möglich zu machen, obwohl man nicht notwendigerweise von deren Richtigkeit überzeugt ist. Und man sieht von seinen Zweifeln ab, weil man weiß, dass notwendige Debatten weitergeführt werden. Und hier liegt des Pudels Kern versteckt. Diese Debatten werden im Falle Corona (wie auch in früheren Fällen wie Ukraine, TISA, Finanzkrise) nicht auf verantwortliche Weise weitergeführt. Ganz im Gegenteil. Und man rekurriert auf Wissenschaftlichkeit, oft ohne wirklich zu verstehen, was es damit eigentlich auf sich hat. Denn Wissenschaftlichkeit bedeutet nicht Fakten zu sammeln, bis man die Wahrheit kennt, um diese dann mit allen Mitteln gegen Ketzer zu verteidigen. Wissenschaft bedeutet systematisiertes fundamentales Zweifeln. Genau daher passen Wissenschaft und demokratische Meinungsbildung eigentlich so gut zusammen.

Ich rekurriere hier mal kurz auf Karl Poppers (2004) logischen Positivismus. Man kann zwar zwischen mehr oder weniger gültigen Aussagen über die Welt unterscheiden, argumentiert Popper. Diese Unterscheidungen führen jedoch nicht zur Erkenntnis von Wahrheit an sich – auch nicht über Zeit. Denn: Kein Satz lässt sich endgültig und für immer beweisen. Das einzige, womit wir leben und arbeiten können, ist die Erkenntnis, dass gewisse Sätze noch nicht widerlegt sind. Damit ist der Kern aller Wissenschaftlichkeit der Zweifel, und es ist unsere Verantwortung, gerade das anzuzweifeln, was uns als unwiderlegbare "Tatsache" vorgelegt wird – gerade in Zeiten, in denen solche "Tatsachen" zur Legitimation extremer politischer Handlungen und Umstrukturierungen genutzt werden.

Und jetzt zu massenmedialer Rhetorik: Wer die "Fakten" zu Corona und die dadurch begründeten Maßnahmen anzweifle, müsse sich mit Klimaskeptikern vergleichen lassen. In dieser unseligen Gleichsetzung fließen gleich mehrere vertraute Stränge von Diskursmacht zusammen: Vereinfachung, Ausgrenzung, Dämonisierung, Preisgabe der Lächerlichkeit und vieles mehr.

Expertenwissen zu Corona und zum Klimawandel lassen sich jedoch nicht wirklich vergleichen. Tausende Forscher arbeiten seit Jahrzehnten an einem besseren Verständnis der Erderwärmung. Es gibt hunderte von gut finanzierten Forschungsprogrammen und -instituten und eine Unmenge an Publikationen, die unterschiedlichste Fragestellungen empirisch und theoretisch ausleuchten. Und hier hat sich, über Zeit, ein Schatz an Sätzen zur Beschreibung der Wirklichkeit herausgebildet, die von den meisten Wissenschaftlern, bis auf Weiteres, als gültig angesehen werden, und die eben solche radikalen Maßnahmen, wie die, die man jetzt panikartig gegen Corona ergreift, sinnvoll erscheinen lassen würden.

Zu Corona hingegen gibt es so gut wie nichts. Das Virus ist neu. Alle fragen sich, was es kann, wie es wirkt, wie man es stoppt. Man weiß noch nicht mal, wie ansteckend oder wie tödlich es eigentlich ist und welche Faktoren hier die ausschlaggebenden sind. Daher so unterschiedliche Herangehensweisen vergleichbarer Länder, wie Norwegen (totaler Lock Down) und Schweden (klare Empfehlungen zu sozialem Abstandhalten, aber kein Lock Down). Und man macht es sich hier zu leicht, wenn man nur die Todeszahlen der beiden Länder vergleicht. Schon: Schweden ‚führt‘ im Moment mit 3831 zu 234. Aber heißt das jetzt, wie in norwegischen Leitmedien regelmäßig vermittelt, dass die Schweden zynisch die Alten opfern, um die Wirtschaft zu retten?

Todeszahlen und Maßnahmen bilden in obigem Beispiel eine Korrelation. Man kann auf dieser Grundlage nicht ohne Weiteres auf ein Ursachenverhältnis schließen. Denn: Andere Faktoren können eine zentrale Rolle spielen, ohne dass diese in der Öffentlichkeit auch so wahrgenommen werden. Zum Beispiel ein nahezu unerschöpflicher norwegischer Ölfonds, der der Regierung enorme Spielräume lässt. Mögliche Herdenimmunität verglichen mit einer stetigen Wiederkehr des Virus. Oder die Organisation von Altenheimen. Weit mehr als früher, vermitteln heute private Arbeitsagenturen Kurzzeitpflegekräfte nach Bedarf. Das führt dann dazu, dass Aushilfskräfte jede Woche in bis zu 20 verschiedenen Einrichtungen tätig werden. Unter solchen Bedingungen verbreitet sich ein Virus natürlich weit schneller, als wenn man jeden Tag auf dieselben fünf bis sechs fest Angestellten treffen würde. Welche Rolle spielen nationale Unterschiede hier?

Auch die Folgekosten sind nicht eindeutig zu ermitteln. Was ist mit durch totalen Lock Down verursachte Depressionen, Selbstmorden, Arbeitslosigkeit, Konkurse, häusliche Gewalt, schulischen Drop Outs? Zahlen gibt es für diese Konsequenzen noch nicht. Das bedeutet aber nicht, dass diese Folgekosten nicht existieren oder dass sie unwichtig wären. Sie lassen sich nur nicht so leicht in schönen Graphen medial aufarbeiten und vermitteln.

Experten, Politiker und Medien rekurrieren auf das Zahlenmaterial, das eben verfügbar ist, auch wenn dieses selektiv ist und, statistisch gesehen, zweifelhaft erscheint. Zahlen werden in schönen Tabellen präsentiert, aber nicht kritisch hinterfragt. Bloß nicht den Burgfrieden stören. Auf dieser schwachen Grundlage werden dann weltweit radikale Maßnahmen gefordert. Man sperrt Milliarden Menschen in ihren Häusern (oder eher Hütten oder Baracken) ein. Man verwehrt es ihnen, Geld zu verdienen, um ihre Familien ernähren zu können (nicht bei uns natürlich). Man vernichtet Arbeitsplätze, zerstört soziale Sicherheitsnetze und nimmt Schulden in noch nie gekanntem Ausmaß auf. Man führt Notstandsgesetze ein, überwacht und reguliert das Leben von Bürgern bis ins kleinste Detail. Hier sind Zweifel und eine offene Debatte über die Gründe dieser Maßnahmen, ihre weitreichenden Folgen und vor allem mögliche Alternativen mehr als angebracht. Sie sind politisch und gesellschaftlich unerlässlich.

  Gelobt sei der Zweifel! Ich rate euch, begrüßt mir
Heiter und mit Achtung den
Der euer Wort wie einen schlechten Pfennig prüft!
Ich wollte, ihr wäret weise und gäbt
Euer Wort nicht allzu zuversichtlich.
Lest die Geschichte und seht
In wilder Flucht die unbesieglichen Heere.
Allenthalben
Stürzen unzerstörbare Festungen ein und
Wenn die auslaufende Armada unzählbar war
Die zurückkehrenden Schiffe
Waren zählbar.

Schönster aller Zweifel aber
Wenn die verzagten Geschwächten den Kopf heben und
An die Stärke ihrer Unterdrücker
Nicht mehr glauben!
Oh, wie war doch der Lehrsatz mühsam erkämpft!
Was hat er an Opfern gekostet!
Daß dies so ist und nicht etwa so
Wie schwer war’s zu sehen doch!

Und dann mag es geschehn, dass ein Argwohn entsteht.
Denn neue Erfahrung
Bringt den Satz in Verdacht. Der Zweifel erhebt sich.
Und eines Tages streicht ein Mensch
Im Merkbuch des Wissens
Bedächtig den Satz durch.
……….
(Bertolt Brecht, "Lob des Zweifels")
 
  eingefügt von kommunisten.de  

 

Auch im obigen Abschnitt sitzt der Teufel wieder in den Klammern. Nicht "bei uns" natürlich. Bei "denen". In den Baracken halt. Wenn die Todeszahlen zu Corona so hoch sind, dass sie solche radikalen Maßnahmen als notwendig erscheinen lassen, wieso lässt man dann routinemäßig andere Viruserkrankungen mit weit höheren Infektions- und Todeszahlen einfach links liegen? Wie von Mandy Tröger (2020) angeführt, sterben jedes Jahr weltweit 770.000 Menschen an AIDS. Es gibt über 32 Millionen Infizierte. Und dass, obwohl es wirksame Medikamente gegen die Krankheit gibt. Wieso reagiert man hier nicht mit derselben Radikalität? Oder beim Klimawandel? Beim Artensterben? Der wachsenden Ungleicheit? Wie viele Menschen sterben jedes Jahr, weil ihnen Zugang zu sauberem Trinkwasser oder die grundlegendste medizinische Versorgung fehlen? Ein Bruchteil der im Moment gegen Corona aufgebrachten Mittel würde hier wahre Wunder bewirken.

Die Bundesregierung hat bisher knapp 500 Milliarden Euro für Direkthilfen in Deutschland aufgebracht. Hinzu kommen weit höhere Beträge für die Absicherung von Notkrediten der Wirtschaft. Die USA geben ein Vielfaches für dieselben Zwecke aus – über 3000 Milliarden Dollar bisher. Dasselbe tun Frankreich, Großbritannien, Norwegen. Gleichzeitig bittet die UNO um lächerliche sechs Milliarden Euro für Sofortmaßnahmen in den ärmsten Ländern der Welt, wo Millionen Menschen dichtgedrängt in Slums leben und man sich weder Hände waschen noch Abstand halten kann. Trotz innigen Bittens wurden weltweit nicht mehr als zwei Milliarden bewilligt. Wir retten bei uns jeden Blumenladen vor dem Konkurs und schauen dann mit Schaudern Millionen Menschen beim Sterben zu. Man muss halt Prioritäten setzen. Das Virus als Symptom globalen Rassismus.

An dieser Stelle kommen natürlich wieder die Medien ins Spiel. Oder besser: ihr erneutes Versagen als zentrales Element eines angeblich freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens. AIDS, Klimawandel, Ungleichheit sind halt einfach nicht so sexy wie eine nagelneue globale Pandemie. Schon toll, wenn die Nachrichten im Fernsehen plötzlich dem letzten Endzeitfilm aus Hollywood gleichen. Verkauft sich halt besser als das ewige Gesülze zu AIDS und Armut.

Michael Meyen (2018, 2020a, b) hat völlig recht. Staatliche und kommerzielle Massenmedien erschaffen Welten, etablieren Handlungsnormen und begrenzen politische Spielräume im Verhältnis zu Corona, wie auch zu anderen Krisen und Herausforderungen. Und sie tun dies nicht auf politisch balancierte Art und Weise und mit einer demokratischen Grundordnung im Hinterkopf, sondern aufgrund eigener, einem durchkommerzialisierten System innewohnender, Logiken und Dynamiken (Meyen 2018, siehe auch Hepp 2020). Strengen Profitdiktaten unterworfen, geht es zumeist darum, Aufmerksamkeit zu erhaschen und zu halten und sich Gefälligkeiten der Mächtigen zu sichern. Individuen, die in der Branche arbeiten, verinnerlichen diese Logik schnell. Bourdieu zufolge werden sie in einen bestimmten Habitus sozialisiert, der von nun an unmerklich ihr Handeln und Denken leitet – und damit ihre Berichterstattung.

Die kommerziellen Nachrichtenmedien als System erschaffen also Welten und werden dadurch auch für Entscheidungsträger handlungsleitend (Hepp 2020). Ist damit gesagt, dass sie Sachen, wie etwa Corona, frei erfinden, oder eben konstruieren? Natürlich nicht. Das ist Hollywood. Die Macht der Leitmedien liegt nicht in der freien Erschaffung alternativer Wirklichkeiten, sondern in der Lenkung von Aufmerksamkeit und der Gewichtung unterschiedlicher und oft widersprüchlicher Fakten und Stimmen. Sie konstruieren soziale Wirklichkeit aufgrund von gültigen Aussagen und unterschlagen dabei nur, dass diese Aussagen nicht die einzig gültigen und möglichen sind. Hier liegt die Macht der Medien durch Auswahl und, eigentlich, deren Verantwortung in einem demokratischen Gesellschaftsgefüge. In Sachen Corona wäre es also ihre Aufgabe, unterschiedliche Expertenmeinungen kritisch zu hinterfragen und balanciert darzustellen, statt nur eine Auswahl davon als angeblich eindeutige Fakten zu verbreiten. Das Virus wird hier zum Symptom eines (erneuten) Scheiterns.

Für eine Demokratie ist Meinungsvielfalt eine Grundbedingung. Denn es gibt keine eindeutigen Fakten. Und schon gar nicht zu den massiven und multi-dimensionalen Folgen der gegen Corona ergriffenen Maßnahmen. Eine Gesellschaft, die es einem Elitenklüngel (oder demnächst vielleicht einem Algorithmus) überlässt zu entscheiden, welche Positionen und Ideen die Öffentlichkeit verträgt und vor welchen sie beschützt werden muss, ist nicht länger eine demokratische. Die Leute sind schlauer, als man glaubt. Man muss sie nur selber denken lassen. Und ohne selbstständig denkende Menschen – keine Demokratie.

Soll man jetzt also wirklich Leuten im öffentlichen Raum zuhören müssen, die behaupten, dass Bill Gates Corona ersonnen habe, um die Weltherrschaft zu übernehmen? Ja, warum eigentlich nicht? Glaubt ja eh kein vernünftiger Mensch, solange Staat und Leitmedien diese Spinnerei nicht dadurch aufwerten, dass sie versuchen, sie zu unterdrücken. Da ist es schon besser, eigentlich präzise und berechtigte Fragen in einem endlosen Strom aus Müll untergehen oder wie eine Verschwörungstheorie erscheinen zu lassen. Und das bringt uns nun zu guter Letzt doch noch zu Bill und Melinda, ihrer Stiftung und der WHO.

Wie man dem interessanten Gespräch von Velten Schäfer mit Thomas Gebauer im Neuen Deutschland (9./10. Mai 2020, S. 3) [Anm.: auch auf kommunisten.de]   entnehmen kann, übt die Gates Foundation tatsächlich erheblichen Einfluss auf die Arbeit der WHO aus (siehe auch McGoey 2020). Wie Gebauer es ausdrückt, geschieht dies allerdings nicht in sinisteren Hinterzimmergesprächen oder durch die heimliche Entwicklung ansteckender Viren, sondern in aller Öffentlichkeit. Wichtige Mitgliedsländer halten seit Jahren ihre Beiträge zurück und treiben die Weltgesundheitsorganisation so in eine stetig steigende Abhängigkeit von wohltätigen Mäzenen – führend unter ihnen die Gates Foundation. Dies führt zu einer Verschiebung von einem multilateralen Ansatz, in dem jedes Land eine Stimme hat, zu einem wirtschaftsinspirierten Multistakeholder-Denken, das, so Gebauer, eine gradweise "Refeudalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse" nach sich zieht. Ein solcher Ansatz ist für Gesundheitsfragen jedoch schlecht geeignet, da er Lösungen von oben verordnet, statt sie auf Grundlage der sozialen Lebenswelten der Betroffenen von unten her langsam zu entwickeln. "Gesundheit" ist Gebauer zufolge "keine Ware […], sie lebt von der demokratischen Partizipation derjenigen, um deren Gesundheit es geht. Und da spielen soziale Faktoren eine ungleich größere Rolle als kurativ-medizinische Angebote." Touché!

Gebauers sinnvolle und notwendige Kritik von Praktiken in globalen Organisationen hat wenig mit den Verschwörungstheorien zu tun, die jedem sogleich in den Kopf zu schießen scheinen, sobald die Worte Gates, WHO und Corona im selben Satz genannt werden (warum wohl?). Gleichzeitig hebt Gebauer etwas sehr Zentrales hervor, was auch für unsere Reaktionen auf Corona von großer Bedeutung ist: Gesundheitspolitik ist zu wichtig, um sie allein den Medizinern zu überlassen. Angenommen Corona ist medizinisch gesehen wirklich so gefährlich, wie öffentlich angenommen wird, erscheinen damit die Maßnahmen automatisch auch aus anderer Perspektive berechtigt? Was sind die psychischen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Folgekosten unseres Kampfes gegen Corona? Nehmen die Experten Kollateralschäden in diesen Bereichen überhaupt mit in ihre Berechnungen auf? Oder bleiben diese für sie völlig unsichtbar? Existiert überhaupt Zahlenmaterial zu diesen Folgekosten, auf das sich Experten berufen könnten, um alternativen Sätzen zur Beschreibung unserer komplexen Wirklichkeit Geltung und diskursives Gewicht zu verschaffen? Was könnte man mit den enormen Beträgen, die gerade ausgegeben werden, sonst erreichen? Gebauer zum Schluss: "In der Coronakrise nehmen wir die sozialen Folgen der Pandemie kaum wahr."

Die politischen allerdings auch nicht. Stattdessen stimmen alle "ernstzunehmenden" und "verantwortlichen" Akteure in Rufe nach einer starken Staatsmacht ein, die uns beschützen soll vor dem Virus, voreinander und vor uns selbst, und öffnen dadurch einer autoritären Variante des dominierenden Neoliberalismus Tür und Tor (Chamayou 2019). Und das in einer Zeit, in der dieser eigentlich in all seiner Leere, seinem Zynismus und seiner Verlogenheit völlig abgewirtschaftet, nackt vor uns steht. Never let a proper crisis go to waste. Die Pandemie als Vision. Vielleicht liegt ja hier des Pudels eigentlicher Kern versteckt?

 

Holger PoetzschHinweis zum Autor:
Holger Pötzsch forscht und lehrt an der Universität Tromsø in Norwegen.

 

Erstveröffentlichung am 25.05.2020 auf https://medienblog.hypotheses.org/9607
Für die Veröffentlichung auf kommunisten.de vom Autor geringfügig überarbeitet

 

Literaturangaben

Grégoire Chamayou: Die unregierbare Gesellschaft: Eine Genealogie des autoritären Liberalismus. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2019.

Andreas Hepp: Deep Mediatization. London: Routledge 2020.

Uwe Krüger: Mainstream: Warum wir den Medien nicht mehr trauen. München: C.H. Beck 2016.

Linsey McGoey: Der Siegeszug der Wohltätigkeit. Jacobin (13.5.2020)
https://jacobin.de/artikel/philanthropie-bill-gates-stiftung-wohltaetigkeit/

Michael Meyen: Journalismus nach Corona. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2020a.
https://medienblog.hypotheses.org/9508

Michael Meyen: Vom Kampf um die Öffentlichkeit. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2020b.
https://medienblog.hypotheses.org/9558

Michael Meyen: Breaking News: Die Welt im Ausnahmezustand (2. Auflage). Frankfurt/Main: Westend Verlag 2018.

Karl Popper: The Logic of Scientific Discovery. London: Routledge 2004.

Mandy Tröger: Journalismus in Corona-Zeiten: Eine Kritik der Kritik. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2020.
https://medienblog.hypotheses.org/9371

Titelfoto: pikist.com

Holger Pötzsch: Pandemische Visionen: Das Virus als Symptom. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2020. https://medienblog.hypotheses.org/9587 (Datum des Zugriffs)


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