Meinungen

Afghanistan USA evakuieren Kabul 2021 08 1515.08.2021: Afghanistan ist wieder allein: Während die Taliban das Land erobern und Kabul übernehmen, werden Afghan*innen, die sich in den letzten Jahren aktiv für Menschenrechte und Demokratie eingesetzt haben und deshalb jetzt von Folter und Tod bedroht sind, ihrem Schicksal preisgegeben.   
Von Thomas Rudhof-Seibert*)

 

Der Zusammenbruch erfolgt so schnell, dass man kaum nachkommt. Fielen gestern Ghazni und Herat an die Taliban, wird es heute Kandahar sein: im Augenblick wird dort nur noch der Flughafen gehalten. Zugleich stolz und verächtlich präsentieren die Taliban der Presse Ismail Khan, bis gestern noch einer der mächtigsten Warlords und Koordinator des Widerstands, jetzt als ihren Gefangenen. Binnen einer Woche haben sie 11 Provinzhauptstädte erobert, heute stehen sie 150 Kilometer vor Kabul. Ebenso schnell entzieht sich der Westen jeder Verantwortung. Dem fluchtartigen Rückzug der Truppen folgt konsequent der politische Rückzug: telefonisch habe die US-Regierung, so war gestern Nacht zu hören, den amtierenden afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani zum Rücktritt aufgefordert – er solle den Weg zur Bildung einer Übergangsregierung - schon mit Taliban-Beteiligung - frei machen.

Dass die USA gleichzeitig 3000 Elitesoldaten neu ins Land bringen, steht dazu nicht im Widerspruch. Sie sollen nichts als die Evakuierung des Personals der amerikanischen Botschaft und ihrer afghanischen Hilfskräfte schützen. Das Angebot, dabei auch Afghan*innen auszufliegen, die im Dienst anderer Westmächte standen, hat die deutsche Regierung abgelehnt: man kümmere sich selbst, heißt es. Das wird sich zeigen.

  USA Kabul Saigon  
 

Saigon 30.4.1975 - Kabul 15.8.2021

Wie sich die Bilder gleichen. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Aber wenigstens sind heute die Hubschrauber groesser.
Der entscheidende Unterschied: Fuer die meisten Vietnamesen war damals das Leiden zu Ende waehrend fuer die meisten Afghanen das Leiden dank der desastroesen Politik von USA und EU noch schlimmer weitergehen wird.
Cathrin Karras (Luong Son, Vietnam) auf Facebook
eingefügt von kommunisten.de

 

 

Im ZDF-Interview erklärte Außenminister Maas wortwörtlich, dass Deutschland nur unmittelbar bei Bundeswehr und Botschaft beschäftigte Afghan*innen schützen werde. Die Zahl der Mitarbeiter*innen afghanischer NGOs liege bei Zehntausenden: um die könne man sich nicht auch noch kümmern. Heißt im Klartext: Afghan*innen, die sich in den letzten Jahren aktiv für Menschenrechte und Demokratie eingesetzt haben und deshalb jetzt von Folter und Tod bedroht sind, werden ihrem Schicksal preisgegeben. Aus. Denn hierzulande ist Wahlkampf. Deshalb, so der deutsche Außenminister wiederum wortwörtlich, werden in Deutschland lebende, aber straffällig gewordene Afghan*innen auch weiter abgeschoben: wo kämen wir denn da hin?

Als die ZDF-Journalistin fragt, was geschehen wird, wenn die Taliban wie angekündigt ein Kalifat mit Scharia errichten, antwortet Deutschlands Minister des Äußeren: „Wir werden keinen Cent mehr geben, wenn die Taliban das Land übernommen haben.“ Ende gut, alles gut.

Die Taliban übernehmen Kabul. Die Weltordnungspolitik hat erreicht, was sie tatsächlich will: Es wird in der Zusammenbruchsregion am Hindukusch eine Verwaltung geben, die immerhin für eines sorgt: dass die Leute bleiben, wo sie sind. Modell für das, was im Fortschritt der ökologischen Krise auch anderswo installiert wird. Alles zu unserem Schutz: "Unsere Freiheit wird am Hindukusch verteidigt." Deshalb sagt die afghanische Frauenrechtlerin Mahbouba Seraj: "Ihr widert uns an."
Thomas Rudhof-Seibert

 Kaum begonnen, schon vorbei?

Vor zwei, drei Tagen schien es allerdings noch eine andere Option zu geben. Es schien nicht ausgeschlossen, dass sich ein erheblicher Teil der ethnisch und religiös zerspaltenen afghanischen Gesellschaft in konzertierter Aktion der Talibbewegung entgegenstellen würde. Das galt vor allem für jüngere Menschen, die den Krieg nicht mehr selbst erlebt haben, sondern unter den westlichen Freiheits- und Entwicklungsversprechen aufgewachsen sind. Sie alle wollten auf gar keinen Fall unter das Regime eines „Befehlshabers der Gläubigen.“ Nicht wenige waren bereit, dazu auch ihr Leben zu riskieren. Öffentlich gezeigt haben das besonders junge Frauen, die sich in den letzten Tagen in mehreren Städten des Landes bewaffnet an die Spitze kleinerer, doch entschlossener Demonstrationen stellten. Die Aktivist*innen des medico-Partners Afghanistan Human Rights and Democracy Organisation (AHRDO) bemühten sich fieberhaft um ein Kommunikationsnetzwerk, das Widerstandswillige landesweit verbinden sollte. Gemeinsames Ziel war es, den Afghan*innen eine Stimme zu geben, die sich in eigenem Namen zu Wort melden wollen: gegen die Taliban wie gegen die Warlords und auch gegen die ebenso korrupte wie handlungsunfähige Regierung. Für Demokratie und Menschenrecht.

Sie alle wussten, dass sie im Prinzip keine Chance hatten – und wollten doch genau dieses „so gut wie keine Chance“ nutzen, gestützt auf nichts als den eigenen Mut. Dazu hätten sie ein paar Tage mehr gebraucht. Die hat man ihnen genommen. Jetzt geht’s ums Überleben: der Flughafen Kabul, so heißt es, wird wohl noch eine Woche auf sein.

Währenddessen wird in Doha weiter verhandelt. Schlusslos, weil die Taliban bei ihrem Nein bleiben. Einem Nein zur Möglichkeit, in Afghanistan einen föderalisierten Bundestaat nach Schweizer Modell zu schaffen, also einen lockeren Bund weitgehend autonomer Teilstaaten. Das ist der Vorschlag, den AHRDO und andere Aktivist*innen der Demokratiebewegung unterstützt haben. Den auch die Hazara unterstützen, die größte unter den kleineren ethnischen Gruppen. Religiös der Schia verbunden, geht es den in der Mitte des Landes lebenden Hazara um die Rettung vor drohendem Genozid seitens der anderen, religiös der Sunna verbundenen ethnischen Gruppen. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Zahl der Hazara auf weniger als die Hälfte reduziert. Deshalb hat sich in den letzten Jahres ein enges Bündnis zwischen ihnen und den Demokratieaktivist*innen der anderen ethnischen Gruppen herausgebildet. Auch diesem Bündnis wird jetzt die Zukunft genommen. Die Hazara verfügen über eigene bewaffnete Formationen. Talibanangriffe konnten sie bisher zurückschlagen.

Was zu tun bleibt

medico hat den Einmarsch der westlichen Armeen im Jahr 2001 abgelehnt, im Wissen darum, dass Demokratie und Menschenrecht nicht herbeigebombt werden können. Nach dem Einmarsch und dem Sturz des ersten Talibanregimes haben wir gefordert, konsequent alle Bürgerkriegsparteien zu entwaffnen: als Grundvoraussetzung der Möglichkeit der Afghan*innen, sich Demokratie und Menschenrecht selbst anzueignen. Dazu kam es nicht. Als sich trotzdem eine afghanische Demokratiebewegung herausbildete, haben wir deren Aktivist*innen unterstützt. Erst in der Minenräumung, dann in dem langen und mühseligen Prozess um eine Verständigung von unten, quer zu den ethnischen, politischen und religiösen Spaltungslinien. Im Frühjahr 2017 haben wir gemeinsam mit AHRDO eine „Untergrunduniversität“ durchgeführt. In Kabul und in Bamiyan, der Hauptstadt der Hazara, kamen damals Hunderte von Studierenden zusammen, um aus der besonderen afghanischen Perspektive über die „Dialektik der Aufklärung“ zu diskutieren. „Wir suchen“, so sagte uns AHRDO’s Programmdirektor Hadi Marifat damals, „Anschluss an die internationalen linken Debatten. Das ist es, was wir jetzt brauchen.“

Heute brauchen Hadi und seine Mitstreiter*innen Ausreisevisa, um wenn nötig in letzter Minute aus Kabul herauszukommen. „Noch wissen wir nicht“, sagt uns Hadi gestern am Telefon, „ob wir das wirklich tun werden. Die Entscheidung ist eine Sache weniger Tage. Wenn, dann haben wir alles verloren, was wir seit 2009 aufgebaut haben.“

Gleich nach unserem letzten Telefonat schickte uns Hadi ein Video zu. Zu sehen ist dort Mahbouba Seraj, Gründerin des Afghan Women‘s Network, eine der bekanntesten Frauenrechtler*innen des Landes. Sie sagt: „Schämt Euch. Schande über die ganze Welt für das, was ihr Afghanistan angetan habt. Warum habt Ihr das getan? Waren wir in Euren Händen nichts als ein Spielball? Eigentlich möchte ich gar nicht mehr mit Euch reden. Die Zeit, zu reden, ist vorbei. Wir haben gesprochen, wir haben gefragt, wir haben gefordert. Ihr habt Eure dummen Entscheidungen ohne uns getroffen. Ihr zerstört alles, wofür wir so hart gearbeitet haben. Ihr widert uns an.“

Hadi, Mahbouba und ihre Mitstreiter*innen werden sich jetzt vor den Taliban retten müssen. Wir werden versuchen, ihnen zu helfen. Was aber ist mit all‘ denen, die nicht über solche Verbindungen verfügen? Die schutzlos dem ausgeliefert sind, was jetzt kommt?

 

 
In den letzten Tagen sind alle Versuche unserer Partner von der Afghanistan Human Rights and Democracy Organisation (AHRDO) gescheitert, ihr Archiv in die Obhut einer internationalen Organisation zu geben. Bei der Deutschen Botschaft war nicht einmal die Notfallnummer besetzt. Das Archiv enthält seit 2009 gesammelte Dokumente über Menschenrechtsverbrechen, Zeugnisse mit Namen und Adressen. Es darf den Taliban nicht in die Hände fallen, es darf aber auch nicht verloren gehen. Was nicht digitalisiert werden konnte, wurde gestern Nacht in private Häuser verbracht und wird zur Not verbrannt: 38 Kartons.
Thomas Rudhof-Seibert, 15.8.2021 auf Facebook

 

 

Auch wenn wir sicher in Frankfurt sitzen, geht es uns in einem Punkt wie Hadi und Mahbouba: Was sollen wir sagen? Für heute nur dieses: Zu weiteren Abschiebungen darf es auf keinen Fall kommen. Die Abgeschobenen müssen zurückgeholt werden. Afghan*innen, die hier sind, müssen sicher bleiben können. Wer aus Afghanistan fliehen muss und will, soll verdammt nochmal fliehen können. Das wenigstens sollten die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union garantieren. Wenigstens das.

*) Thomas Rudhof-Seibert ist in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte. Er ist außerdem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne und Mitherausgeber von kommunisten.de

Der Artikel wurde von der Internetseite von medico international übernommen. Er wurde dort am 13. August 2021 veröffentlicht.
https://www.medico.de/blog/schande-ueber-die-ganze-welt

kommunisten.de bedankt sich für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.

Farkha2023 21 Buehnentranspi

Farkha-Festival 2024 abgesagt.
Wegen Völkermord in Gaza und Staatsterror und Siedlergewalt im Westjordanland.
hier geht es weiter zum Text


 

 

UNRWA Gazakrieg Essenausgabe

UNRWA Nothilfeaufruf für Gaza
Vereint in Menschlichkeit, vereint in Aktion

Mehr als 2 Millionen Menschen, darunter 1,7 Millionen Palästina-Flüchtlinge, zahlen den verheerenden Preis für die Eskalation im Gazastreifen.
Zivilisten sterben, während die Welt zusieht. Die Luftangriffe gehen weiter. Familien werden massenweise vertrieben. Lebensrettende Hilfsgüter gehen zur Neige. Der Zugang für humanitäre Hilfe wird nach wie vor verweigert.
Unter diesen Umständen sind Hunderttausende von Vertriebenen in UNRWA-Schulen untergebracht. Tausende unserer humanitären Helfer sind vor Ort, um Hilfe zu leisten, aber Nahrungsmittel, Wasser und andere lebenswichtige Güter werden bald aufgebraucht sein.
Das UNRWA fordert den sofortigen Zugang zu humanitärer Hilfe und die Bereitstellung von Nahrungsmitteln und anderen Hilfsgütern für bedürftige Palästina-Flüchtlinge.
Dies ist ein Moment, der zum Handeln auffordert. Lassen Sie uns gemeinsam für die Menschlichkeit eintreten und denjenigen, die es am meisten brauchen, die dringend benötigte Hilfe bringen.

Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge

Spenden: https://donate.unrwa.org/gaza/~my-donation


 

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