Linke / Wahlen in Europa

16.05.2023: Wirtschaftskrise, Inflation, Erdbebenkatastrophe, Kriegspolitik und Unterdrückung von kritischen Journalist:innen und politischen Oppositionellen - all das hat bei den Menschen in der Türkei nicht dazu geführt, dass sie sich bei der Wahl am vergangenen Sonntag vom AKP-Regime abgewendet hätten.

 

Mehr als 64 Millionen Menschen waren in der Türkei am vergangenen Sonntag zu den Wahlurnen gerufen, darunter 5,3 Millionen junge Wähler:innen. Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 89 Prozent. .

Am Vorabend der Wahl zeigten die beiden Rivalen für das Amt des Staatspräsidenten symbolisch noch einmal, an welche Türkei sie sich wenden wollten.

Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der kemalistischen "Republikanischen Volkspartei" (türkisch: Cumhuriyet Halk Partisi CHP) huldigte seiner eigenen Geschichte: Er trat in Anıtkabir auf, im Mausoleum des Vaters der Nation, Mustafa Kemal Atatürk. Der Gründer der Republik, der Ideologe des staatlichen Säkularismus, den Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) seit einigen Jahrzehnten hinter einem erklärtermaßen islamistischen Neo-Osmanismus verschwinden lässt.

Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan wiederum konnte seine Wahlkampagne nur an dem Ort beenden, der mehr als jeder andere sein politisches Erbe repräsentiert: die Hagia Sophia, das Basilika-Museum, das er in eine Moschee umwandelte (und damit die Reihenfolge von Atatürk umkehrte), von einem Symbol des kulturellen Universalismus zu einer Ikone, die seine Hoffnung, der neue politische und kulturelle Bezugspunkt einer muslimischen Welt zu werden, die der alten arabischen Führung beraubt ist und in der ihre historischen Führer Ägypten und Syrien unter Bürgerkriegen und Diktaturen zerfallen sind. Zum Schluss betete Erdogan nach einem alten osmanischen Ritual, mit dem der Sultan seine Männer in den Krieg schickte.

Erdogan vorne

Zwar muss sich Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan am 28. Mai erstmals einer Stichwahl stellen, er liegt aber mit 49,50 Prozent der Stimmen vor Kemal Kilicdaroglu, der auf 44,89 Prozent kam.

TR Wahl2023 Ergebnis Praesident

Kemal Kilicdaroglu war der Kandidat eines Wahlbündnis mit fünf anderen Parteien. Er hatte ein Bündnis geschmiedet mit der nationalistischen Iyi Parti, eine Abspaltung der faschistischen MHP - des politischen Arm der "Grauen Wölfe". Die anderen Parteien, mit denen er kooperiert, sind Abspaltungen der AKP. Diese Koalition kommt ohne progressive Kräfte aus. Die Akteure sind entweder rechtsextrem islamistisch oder waren mal regierungsnah.

Zwar wird die CHP international als sozialdemokratisch bezeichnet, aber sie ist weder sozialdemokratisch noch links der Mitte. Sie ist eine staatsloyale Zentrumspartei, die eine brutale Last einer Geschichte der Zwangstürkisierung und der Verleugnung kurdischer, armenischer und griechischer Identitäten mit sich trägt.

Trotzdem wurde Kemal Kilicdaroglu auch von der linken Demokratischen Partei der Völker (türkisch: Halkların Demokratik Partisi HDP; kurdisch: Partiya Demokratîk a Gelan) unterstützt.

In letzter Minute erhielt Kemal Kilicdaroglu Auftrieb, als sich der unabhängige Kandidat Muharrem Ince aus dem Rennen zurückzog und seine Stimmen wahrscheinlich an Kilicdaroglu gegangen sind.

Ausschlaggebend könnten am 28. Mai die Wähler:innen des drittplatzierten Präsidentschaftskandidaten werden. Der Faschist Sinan Ogan vom Wahlbündnis Atta Ittifaki kam am Sonntag auf 5,17 Prozent.

Parlament: absolute Mehrheit für Erdogan

Neben dem Präsidenten wurde auch das Parlament neu gewählt - nach dem Verhältniswahlrecht. Deshalb haben sich Parteien zu Bündnissen zusammengeschlossen, damit auch kleinere Parteien über die Sieben-Prozent-Hürde kommen.

Rund 20 Prozent der Menschen in der Türkei haben kurdische Wurzeln. Da Erdogan bei ihnen seit Jahren an Unterstützung verliert, traten auf den AKP-Listen Kandidaten der kurdisch-islamistischen Hüda-Par an, um die möglicherweise ausschlaggebenden kurdischen Stimmen zu gewinnen..

Insgesamt traten 26 Parteien zur Parlamentswahl an, der Wahlzettel war einen Meter lang.

Zur Wahl des türkischen Parlaments gibt es noch keine vorläufigen Endergebnisse. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu hat die Allianz um Erdogan voraussichtlich weniger Sitze als in der vorigen Regierungsperiode, aber eine absolute Mehrheit. Im 600 Sitze umfassenden Parlament dominieren auch zukünftig nationalistische, faschistische und islamistische Parteien. Die aus Erdogans islamistischer AKP und der faschistischen MHP gebildete "Volksallianz" kommt voraussichtlich auf 49,46 Prozent und hat damit eine Mehrheit von 322 Abgeordneten.

TR Wahl2023 Ergebnis Parlament

Die Wahlallianz aus Kemal Kilicdaroglus CHP und der nationalistischen Iyi Parti kam auf 35,02 Prozent und 213 Sitze.

Der linke Wahlblock "Arbeit und Freiheit" aus Linke Grüne Partei (Yesil-Sol Parti, YSP) und der Arbeiterpartei der Türkei“ (Türkiye İşçi Partisi, TİP) kam auf 10,54 Prozent und 65 Abgeordnete.

Die Demokratische Partei der Völker HDP wurde schon im vergangenen Jahr mit einem Verbotsverfahren belegt, um sie im Wahlkampf auszubooten. Im März dieses Jahres zog die Partei angesichts des laufenden Verbotsverfahrens deshalb die Notbremse und beschloss, auf der Wahlliste der Yesil-Sol Parti YSP anzutreten. Die kleine YSP spricht eigentlich eher urbane Wählerschichten im Westen der Türkei ans und viele Leute gerade im ländlichen, kurdischen Raum der Türkei – den Hochburgen der HDP - kannten diese Partei kaum. Trotzdem wurde die YSP zur stärksten Kraft im Südosten der Türkei. Landesweit fiel die YSP mit 8,77 Prozent drei Prozentpunkte hinter das Ergebnis der HDP im Jahr 2018 zurück.

Die Vorsitzenden der YSP und HDP sprachen daher am Montag auf einer Pressekonferenz in Ankara selbstkritisch von einem "Misserfolg", insbesondere Stimmverluste in der Westtürkei seien ein "Problem". Im Parlament verfügt die YSP, auf deren Liste Mitglieder mehrere linker und sozialistischer Parteien antraten, voraussichtlich über 61 Abgeordnete. Die mit ihr in der Wahlallianz "Arbeit und Freiheit" verbundene Arbeiterpartei der Türkei TIP kam wie bisher auf vier Mandate. Ihr Sektierertum der eigenständigen Kandidatur kostete das linke Bündnis auf Grund der Wahlarithemtik rund ein Dutzend Mandate.

OSZE: Es gab keine Chancengleichheit

Die CHP, aber vor allem die HDP und die ihr nahestehende Linke Grüne Partei traten zu den Wahlen unter extrem feindseligen Bedingungen an, da Erdogans autokratisches Regime alle staatlichen Institutionen und die Presse kontrolliert.

So ergab die Auswertung der Online-Plattform DarkWeb Haber, dass Erdogan in der Zeit vom April bis zum 11. Mai allein auf dem staatlichen Sender TRT 48 Stunden und 45 Minuten für sich werben konnte. In der gleichen Zeit erschien Kilicdaroglu dort gerade einmal 41 Minuten.

"Es gab Unregelmäßigkeiten, aber weniger am Wahltag selbst, sondern mehr während des Wahlkampfes zuvor. In der medialen Berichterstattung gab es keine Chancengleichheit. Diese Wahl wurde charakterisiert von einer ganz überragenden Präsenz von Präsident Recep Tayyip Erdogan in den Medien, und zwar durchweg positiv. Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu hatte hingegen große Probleme, in den Medien vorzukommen. Gelang ihm das, war es meist negativ", sagte der Koordinator der Wahlbeobachtermissionen von OSZE und Europarat, Michael Link, gegenüber dem Tagesspiegel.[1]

Systematische Repression gegen HDP

Die Parteiorganisation der HDP war bereits durch die systematische Repression geschwächt, die seit 2016 ununterbrochen anhält und bei der mehr als fünfzehntausend Parteiführer:innen und Mitglieder verhaftet wurden. Derzeit befinden sich mehr als viertausend Mitglieder dieser Partei im Gefängnis,beklagt die HDP in einer Erklärung zur Wahl.[2]

Im Wahlkampf wurden bis eine Woche vor der Wahl mindestens 364 Menschen in Polizeigewahrsam genommen, die allermeisten davon aus dem Umfeld des Wahlblocks "Arbeit und Freiheit" -darunter Parlamentskandidat:innen der Yesil-Sol Parti, Journalist:innen, der Ko-Vorsitzende der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP). Von diesen wurden 116 in dauerhafte Untersuchungshaft gesteckt. Der MHP-Vorsitzende Devlet Bahceli drohte öffentlich, die Unterstützer von Kemal Kilicdaroglus hätten lebenslange Haft oder gleich eine Kugel verdient.

Diese Schwierigkeiten wurden in einer gemeinsamen Erklärung von Wahlbeobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarats gut veranschaulicht. Darin heißt es, dass die Wahlen am 14. Mai zwar "gut organisiert" und größtenteils friedlich verliefen, die Wähler:innen jedoch durch die Kriminalisierung und Inhaftierung von HDP-Mitgliedern in ihrer politischen Wahlfreiheit eingeschränkt waren.

Die OSZE schrieb: "Die seit langem bestehenden Bedenken hinsichtlich der Achtung der Grundfreiheiten Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit sowie der Unabhängigkeit der Justiz, die alle für einen demokratischen Prozess von zentraler Bedeutung sind, blieben in der Wahlperiode unbeachtet."

Chef-Wahlbeobachter fordert gleiche Chancen vor Stichwahl in Türkei

Für die Stichwahl fordert der Koordinator der Wahlbeobachtermissionen von OSZE und Europarat, Michael Link, mehr Chancengleichheit. Es dürfe nicht der Fehler wiederholt werden, dass die Regierungsseite eindeutig in den Medien bevorzugt werde, sagte der FDP-Politiker dem "Tagesspiegel". 

Annalena Baerbock (Grüne): "lebendige türkische Demokratie"

Demgegenüber hat Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) die Präsidentschafts- und Parlamentswahl in der Türkei als Ausdruck der Stärke der Demokratie in dem Land gewürdigt. Bei einem Besuch im saudiarabischen Dschiddah wies Baerbock auf die "enorm hohe Wahlbeteiligung" bei dem Urnengang am Sonntag hin. "Das macht deutlich, wie stark sie für das demokratische Verfahren eintreten."
Nun werde es eine "Stichwahl geben, bei der wir die lebendige türkische Demokratie wieder in Aktion erleben werden", sagte die Ministerin weiter.[3]

 

Anmerkungen

[1] Tagesspiegel: Wahlbeobachter in der Türkei: "Dringender Nachholbedarf bei der Chancengleichheit“
https://www.tagesspiegel.de/internationales/nach-der-wahl-und-vor-der-stichwahl-dringender-nachholbedarf-bei-der-chancengleichheit-9821597.html

[2] Devriş Çimen, European representative of the Peoples’ Democratic Party (HDP), 15.5.2023: In Turkey, the Fight for Democracy Isn’t Over
https://hdpeurope.eu/2023/05/in-turkey-the-fight-for-democracy-isnt-over/

[3] ZDF, 15.05.2023, 18:32 Uhr: Wie die Wahlen in der Türkei laufen
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/tuerkei-wahl-liveticker-praesident-erdogan-kilicdaroglu-100.html

siehe auch:

Civaka Azad: Wie geht es weiter in der Türkei?
https://anfdeutsch.com/aktuelles/civaka-azad-wie-geht-es-weiter-in-der-turkei-37493

Farkha2023 21 Buehnentranspi

Farkha-Festival 2024 abgesagt.
Wegen Völkermord in Gaza und Staatsterror und Siedlergewalt im Westjordanland.
hier geht es weiter zum Text


 

 

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Dies ist ein Moment, der zum Handeln auffordert. Lassen Sie uns gemeinsam für die Menschlichkeit eintreten und denjenigen, die es am meisten brauchen, die dringend benötigte Hilfe bringen.

Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge

Spenden: https://donate.unrwa.org/gaza/~my-donation


 

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