04.06.2015: Alfred Kosing ist ein alter Haudegen sowohl der marxistischen Philosophie wie auch des DDR-Wissenschaftsbetriebes. 1969 bis 1971 hatte er einen Lehrstuhl am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED inne. Bis 1990 war er dann Bereichsleiter für Dialektischen Materialismus des Institutes für marxistisch-leninistische Philosophie der Akademie für Gesellschaftswissenschaften. Entstehungsgeschichtlich ist das vorliegende Wörterbuch eine Überarbeitung eines 1985 erstmals erschienenen Lexikons. Kosing will damit einen Beitrag zur Erneuerung der marxistischen Theorie, besonders der Philosophie leisten. Hierzu gehört unweigerlich, das weiß Kosing wie jeder andere Marxist oder an Marxismus Interessierte, eine Auseinandersetzung mit der Zäsur von 1989.
Und spätestens an dieser Stelle mag bereits der Titel des Buches irritieren, das in diesem Jahr im Verlag am Park in Berlin erschienen ist. Das der Philosophie zugeordnete Attribut lautet „marxistisch“ und nicht, wie manche Titel früherer Publikationen und auch Kosings frühere Berufsbezeichnung “marxistisch-leninistisch“. Das mag in geringerem Maße daran liegen, dass sich zurzeit ein Buch über „Marxismus-Leninismus“ – unabhängig von seinem möglichen Inhalt - kaum verkaufen ließe.
Tatsächlich kämpft Alfred Kosing, heute in der Türkei lebend und schreibend, an zwei Fronten. Im Vorwort nennt er sein Buch eine „Provokation“, mit der er sich der Behauptung entgegenstemmen will, dass sich der Marxismus mit dem Ende des realen Sozialismus erledigt habe. Er gesteht aber früh ein, dass sich der Marxismus in der Krise befinde. Die Krise einer Theorie aber, so Kosing, stelle nicht automatisch ihren wissenschaftlichen Charakter in Frage. Und so ist es nicht das geringste Verdienst dieses Buches, den Anspruch des Marxismus als einer wissenschaftlichen Theorie für das 21. Jahrhundert aufrechtzuerhalten.
Die zweite Front aber sind die dogmatischen Verhärtungen und Verkrustungen, denen der Marxismus als „Marxismus-Leninismus“ in der Folge des Stalinismus erfahren habe. Wenn man einen roten Faden in diesem Wörterbuch und vielen – in diesem Fall den eher politischen – Einträgen ausmacht, dann den der Kritik am Stalinismus und dem Schaden, den dieser und die in der Zeit des Großen Terrors als „Marxismus-Leninismus“ eingeführte Doktrin samt ihrer Verengungen, Verkürzungen und Verdammungen auch weit nach 1956 dem Marxismus als Theorie angetan hat.
Eine Konsequenz: Kosing verzichtet auf die Bezeichnung wie auch ein eigenständiges Lemma „Marxismus-Leninismus“. Stattdessen gibt es lesenswerte Einträge zu den Einzelbegriffen „Marxismus“ und „Leninismus“ sowie zum „dialektischen und historischen Materialismus“. Aber auch hier ist er seiner Linie treu. So sei die in der Stalin-Ära vorgenommene Einführung eines Dialektischen Materalismus (Diamat) – er selbst war ja mal „Bereichsleiter“ Diamat - eine falsche und verkürzende Abtrennung der Philosophie von der gesellschaftlichen Praxis. Vielmehr könne es einen Diamat ohne Histomat nicht geben. Marxistische Philosophie ist immer schon dialektischer UND historischer Materialismus. Es gehe um die widerspruchsvolle Erfassung des Werdens in Natur, Gesellschaft und Denken.
Programmatisch ist neben dem Vorwort sicherlich der lange Eintrag zu „Stalinismus“, in dem Kosing seine Kritik expliziert und dagegen den Anspruch eines nichtdogmatischen, nichtvulgarisierten, nichtscholastischen Marxismus aufrechterhält – eben einer emanzipatorischen Wissenschaft. In diesem stark politisch und historisch gehaltenen Eintrag geht Kosing sowohl mit der Gorbatschow-Administration wie auch mit der letzten Honecker-Regierung hart ins Gericht – aber aus konsequent marxistischer Sicht.
Im Hinblick auf eine Erneuerung des Marxismus gelte es allerdings, sich dagegen zu wehren, die untergegangenen Gesellschaften als „Kommunismus“ zu bezeichnen. Vielmehr habe es sich um einen „noch recht unvollkommenen Sozialismus“ gehandelt. Dahinter allerdings benennt Kosing recht schonungslos die objektiven, aber auch die subjektiven Faktoren, die zum historischen Scheitern geführt haben.
In Bezug auf die marxistische Theorie und Philosophie verlangt er, die noch von Marx und Engels betonte Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Wissenschaft gegen über den Organisationen der Arbeiterbewegung aufrechtzuerhalten. Sie sei aber in Russland und der SU zunehmend in ein Unterordnungsverhältnis geraten. Unter Stalin sei der Marxismus schließlich zur „Weltanschauung der Kommunistischen Partei“ und zu einer „Magd der Politik“ verkommen.
Kosing reflektiert in diesen Anmerkungen zweifelsohne auch seine eigenen Arbeitsbedingungen und die von Kollegen in DDR wie Sowjetunion, die nicht selten der „Abweichung“ von einer angenommenen „marxistisch-leninistischen“ Linie oder des „Revisionismus“ geziehen wurden. So wurde sein 1967 erschienenes Buch „Marxistische Philosophie“, in dem er mit anderen Autoren versuchte, die Stalinsche „Verballhornung“ der Philosophie zu überwinden, nach zwei Auflagen unter dem Vorwurf des Revisionismus nicht wieder gedruckt (und heute antiquarisch verfügbar).
So resultiert eine gelegentliche Schwäche vermutlich aus guter Absicht. Wohl aus persönlich sehr verständlichem Ärger über die vertane historische Chance und die Inkompetenz von Stalin bis hin zu Gorbatschow und Honecker kommt auch Kosing nicht ohne das Wort „Verrat“ aus. „Verrat“ aber ist keine Kategorie, die zur Analyse der Defizite, Deformationen und des letztlichen Untergangs des „real existierenden Sozialismus“ geeignet ist. Sie ist auch keine philosophische Kategorie oder ein Begriff im Hegelschen Sinne mit erkenntnisförderndem oder auch heuristischem Charakter. Zweifelsohne hat es einen fast kollektiven Seitenwechsel der Funktionseliten in der späten UdSSR gegeben. Eine wirkliche Geschichte dieses epochalen Bruchs aber ist noch lange nicht geschrieben. Das wiederum konzediert auch Kosing.
Methodologisch fordert Kosing, die marxistische dialektische Methode müsse auf die Theorie des Marxismus selbst angewendet werden. Es gelte, auch dessen theoretische Auffassungen aus ihren historischen Bedingungen und Zusammenhängen heraus zu begreifen und zu interpretieren. Ein solcherart selbstreflexiver Marxismus kann niemals zu einem „abgeschlossenen System fertiger Wahrheiten“ werden. Mit Engels müsse sich der moderne Materialismus mit jeder epochemachenden Entdeckung ändern.
Das vorliegende Wörterbuch ist extrem prägnant und präzise formuliert. Doch auch bei Kosing schleicht sich mal ein kleiner Fehler ein. So verwechselt das Buch an einer Stelle die Begriffe komplex und kompliziert. Tatsächlich handelt es sich bei einem Zweig der Systemtheorie um eine Theorie von komplexen, dynamischen und gegebenenfalls nichtlinearen Systemen. In diesem Kontext ist komplex – je nach Grad der Komplexitätsreduktion – nicht zwingend kompliziert, Kompliziertes wiederum nicht zwingend komplex, sondern eventuell einfach vor dem Hintergrund mangelnder Erkenntnismitteln (vorübergehend) nicht handhabbar.
Positiv zu vermerken ist, dass Kosing etwas macht, auf das auch schon seine früheren Kollegen, die Herausgeber des offiziellen Wörterbuches der Philosophie der DDR, Manfred Buhr und Georg Klaus, im Rahmen ihrer damaligen Möglichkeiten, geachtet haben: Tendenzen und Stichworte aus der aktuellen nichtmarxistischen Wissenschaft zu aufzugreifen.
So war es sicherlich das Verdienst von Georg Klaus, dass er ab den 1950er Jahren gegen anfangs noch massive ideologische, also stalinistische Vorbehalte vor allem die Kybernetik und die Logik in die DDR einführte und ihnen in dem Wörterbuch großen Raum einräumte. Diese Stichworte sind auch heute noch lesenswert. So gehören zu den Stärken des aktuellen Buches neben einer kritischen Rückschau auf die Ursachen der Deformationen des realen Sozialismus all diejenigen Einträge, die sich mit Naturwissenschaften, Logik und Erkenntnistheorie beschäftigen. Hier haben wohl auch die größten Verdienste der kurzen Geschichte der DDR-Philosophie gelegen, die es über Kosing hinaus verdient haben, aufgearbeitet, aktualisiert und in die laufende Debatte über einen instabilen, aber hyperaktiven High-Tech-Kapitalismus eingespeist zu werden.
Vor diesem Hintergrund liegt es kaum in Kosings Schuld, dass man Hinweise auf jüngste Entwicklungen in der Produktivkraftentwicklung wie das Internet, digitale Medien, Big Data, Industrie 4.0 und cyberphysikalische Systeme vergeblich sucht, wenngleich es allerdings Einträge zu „Bionik“ und „Biosphäre“ gibt. Zu der von Kosing zu Recht konstatierten „Krise des Marxismus“ gehört eben auch, dass es nach 1990 viel zu wenig Menschen gab und gibt, die sich aus der Perspektive des dialektischen UND – wie wir gelernt haben - historischen Materialismus professionell oder zumindest mit viel Zeit mit neueren Erscheinungen in Wirtschaft, Gesellschaft, Natur-/Ingenieurswissenschaften und Technologie beschäftigen.
Kosings „Marxistisches Wörterbuch der Philosophie“ verdient viele Leser und gereicht jedem progressiven Büchertisch zur intellektuellen Zierde – ob bei Konferenzen oder Demos der alten und neuen sozialen Bewegungen. Marxistischen Linke und sonstige hartnäckigen Erneuerer des wissenschaftlichen Sozialismus im 21. Jahrhundert seien herzlich aufgefordert, dessen Einträge mit denjenigen – soweit vorhanden - des „Historisch-kritischen Wörterbuches des Marxismus“ von Wolfgang Fritz Haug sowie des klassischen (in der in der alten BRD vor 1989 erschienenen dreibändigen rororo-Ausgabe tatsächlich mit dem Zusatz „marxistisch-leninistisch“ versehenen) „Wörterbuchs der Philosophie“ von Buhr/Klaus zu kontrastieren. Rauchende Rübe garantiert, Erkenntnisgewinn auch, kurzum:
Marxismus at its best.
Rezension: tg
Alfred Kosing: Marxistisches Wörterbuch der Philosophie
Verlag am Park, Berlin 2015, 856 Seiten, 39,90 Euro.