16.03.2017: Ein „Jobwunder“ habe sie bewirkt, Schröders „Agenda 2010“, die er von 2003 bis 2005 mit der rot-grünen Mehrheit durch den Bundestag jagte. In der Tat gibt es heute mehr Erwerbstätige als im Jahr 2000 und weit weniger Arbeitslose als zur Jahrhundertwende. Doch bereits 2013 warnte der damalige Präsident des Statistischen Bundesamts, Roderich Egeler, vor Euphorie: „Das so genannte deutsche 'Jobwunder' relativiert sich jedoch, wenn man nicht nur die Personen betrachtet, sondern die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und damit das Arbeitsvolumen“ (destatis, 26.11.13).
So stieg die Zahl der Erwerbstätigen von 2000 bis 2016 um 8,9% (die Arbeitnehmer um 9,1%). Nimmt man dagegen die geleisteten Arbeitsstunden, verblasst das Wunder etwas: Plus + 2,3% bei den Erwerbstätigen und plus 4,0% bei den Arbeitnehmern. Das Arbeitsvolumen bei den Arbeitnehmern .ist im Zeitraum der 16 Jahre doch sehr bescheiden gewachsen: um 0,25 Prozent pro Jahr. Und dieser Effekt dürfte weniger aus den Arbeitsmarktreformen resultieren, denn auf den gigantischen Exportboom; desweiteren hatten die seit 2010 wieder gestiegenen Reallöhne eine Steigerung der Kaufkraft und damit Ausweitung des Binnenmarktes zur Folge.
Die Arbeitsmarktreformen aber wirkten sich verheerend auf die Qualität der Beschäftigungsverhältnisse aus. Immer mehr Menschen müssen in zerstückelten, atomisierten Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Das Proletariat wurde zunehmend zum Prekariat. Mini-Jobber, Leiharbeiter, Ein-Euro-Jobs wurden zur Massenerscheinung. Teilzeitarbeit hat millionenfach zugenommen. HartzIV, das „Gebot kältester Zweckmäßigkeit“ der Agenda 2010, zwingt Arbeitssuchende in prekäre Beschäftigungsverhältnisse, nötigt ihnen jede Arbeit als zumutbar auf. Mit der Folge, dass immer mehr Billig-Jobs entstehen und der Niedriglohnsektor sich signifikant ausweitet. Arbeit wurde „billig wie Dreck“, wie es der Soziologe Horst Afheldt bereits vor 15 Jahren prophezeite.
Normalarbeitsverhältnisse erodieren – zunehmend atypische Beschäftigung
Der Anteil der Vollzeitbeschäftigten an den Erwerbstätigen ist 2016 gegenüber dem Jahr 2000 um über acht Prozentpunkte gesunken. Der Anteil der TeilzeitarbeiterInnen ist um 9,2 Prozentpunkte gestiegen. Die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse sind zwar in den letzten Jahren wieder gestiegen: Seit 2005 um fünf Millionen. Ihr Anteil an den Erwerbstätigen betrug im Jahr 2000 69.9% der Beschäftigten, 2016 72,1%. Der Anstieg wurde jedoch überwiegend durch Teilzeit-Stellen bewirkt.
Atypische Beschäftigung: Die Bundesagentur für Arbeit zählt dazu folgendes: Befristet Beschäftigte, Teilzeitarbeit, geringfügig Beschäftigte, Zeitarbeitnehmer.
Aus normalen Arbeitsplätzen werden immer mehr atypische Arbeitsverhältnisse und daraus entsteht immer häufiger prekäre Beschäftigung: Zu wenig Lohn zum Leben, keine soziale Absicherung, keine Teilhabe an Tarif- und Firmenvereinbarungen, kein Kündigungsschutz, usw. Das Normalarbeitsverhältnis erodiert, verbunden mit weniger sozialer Sicherheit und unzureichendem Einkommen.
Die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse erhöhten sich seit dem Jahr 2000 um 61%; ihr Anteil an den Erwerbstätigen von 29% auf 42,5%. (siehe Tabelle).
Teilzeitbeschäftigte: Die Bundesagentur für Arbeit führt alle Teilzeitbeschäftigten unter atypischer Arbeit auf, insgesam 8,5 Millionen (Das Statistische Bundesamt unterscheidet bei Teilzeitbeschäftigten zwischen denjenigen, die unter 20 Wochenstunden arbeiten (3,41 Mio) und jenen, die über 20 Stunden die Woche arbeiten (4,844 Mio). Erstere zählt es zu atypischer Beschäftigung, letztere zu NormalarbeitnehmerInnen).
Befristet Beschäftigte: Sie sind von 2,0 Millionen (2000) auf 3,7 Mio. (2016) gestiegen: + 11%. Zwei von drei Neueinstellungen sind heute befristet.
Geringfügig Beschäftigte: Es handelt sich hier um die so genannten Minijobs oder 450-Euro-Jobs (früher 400 Euro). 2016 wurden 5,3 Millionen ausschließliche Mini-Jobber gezählt. (hinzu kommen 2,6 Millionen Minijobber im Nebenerwerb, sie zählen nicht zu den atypisch Beschäftigten).
Zeitarbeitnehmer: Auch Arbeitnehmerüberlassung (ANÜ) oder Leiharbeit: Wird von destatis erst seit 2006 erfasst. Nach BA 2016 eine Million.
Entwicklung atypischer Beschäftigung
Jahr | 2000 (in Mio) |
2016 (in Mio) |
Erwerbstätige | 39,9 | 43,5 |
Arbeitnehmer | 35,9 | 39,2 |
Vollzeitbeschäftigte | 25,3 (63,4%*) | 24 (55,1%*) |
Sozialversicherungspflichtg. Besch. | 27,8 | 31,4 |
atypische Beschäftigung | ||
Teilzeit-Beschäftigte | 4,5 (11,3%*) | 8,5 (19,5%*) |
Geringfügig B. (Mini-Jobber) | 4,6 (11,5%*) | 5,3 (12,2%*) |
Leiharbeiter | 0,34 (0,9%*) | 1,0 (2,3%*) |
Befrist. Beschäftigte | 2,0 (5,0%*) | 3,7 (8,5%*) |
Summe atypisch Beschäftigte: | 11,44 (28,7%) | 18.5 (42,5%) |
* jeweils am Anteil an Erwerbstätigen
Quelle: Bundesagentur für Arbeit; eigene Berechnungen.
Keine Vollbeschäftigung
Auch was den Rückgang der Arbeitslosigkeit anbelangt, ist die Situation keineswegs so jobwunderbar wie häufig von Regierung und Unternehmerverbänden dargestellt. Sicherlich ist der Rückgang der registrierten Arbeitslosigkeit signifikant: 2,7 Millionen Arbeitslose gegen 3,9 Millionen im Jahr 2000. Gar nicht zu reden von der Rekordarbeitslosigkeit im Jahr 2005: 4,9 Millionen. Zu den arbeitslos gezählten Personen kommen aber nach Angaben der Bundesagentur jene, die in diversen „entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen“ sind oder dem Arbeitsmarkt kurzfristig nicht zur Verfügung stehen. Hinzugezählt ergibt sich die so genannte Unterbeschäftigung, die für 2016 mit 3,7 Millionen beziffert wird. Februar 2017 nach Bundesagentur: 3.762.000.
Doch auch in anderen Arbeitsverhältnissen ist versteckte Arbeitslosigkeit enthalten: z.B. bei eineinhalb Millionen Teilzeitbeschäftigten, die ihre Arbeitszeit nach Erhebungen von destatis gerne um durchschnittlich 15 Stunden pro Woche erhöhen würden.
Auch Mini-Jobber und Leiharbeiter würden in der Regel gerne mehr arbeiten, um besser über die Runden zu kommen. „5,7 Millionen Deutsche wollen mehr arbeiten, als sie dürfen“, schreibt Die Welt (24.9.2016) unter Berufung auf destatis. Das ungenutzte Arbeitskräftepotenzial setzt sich zusammen aus der Unterbeschäftigung, Minijobbern und Teilzeitbeschäftigten.
Noch gar nicht gerechnet die Soloselbständigen, deren Anteil an den Selbständigen mittlerweile 55 Prozent beträgt. Viele von ihnen sind Scheinselbständige, die sich nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes selbständig machten, davon aber kaum leben können.
Die konjunktur-zyklisch schwankende „industrielle Reservearmee“ aus dem 19. Jahrhundert wurde ersetzt durch das stehende Millionen-Heer des Prekariats. Zusammen mit den Arbeitslosen und Unterbeschäftigten macht es fast die Hälfte der Erwerbspersonen aus. Dieses wird eingesetzt, um die Ware Arbeitskraft noch mehr zu verramschen, noch billiger und flexibler zu machen und solide Arbeitsverhältnisse zu sprengen.
Diejenigen, die für den Verwertungsprozess nicht mehr gebraucht werden, landen sehr schnell bei den Exkludierten und Armen dieser Gesellschaft. Das ist das „Verdienst“ der rot-grünen Bundesregierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts, der Arbeitsmarkt-Reform „Agenda 2010“ mit dem Kernstück der Hartz-IV-Regelung. Mit der Losung „fördern und fordern“ wurde diese anfangs propagiert. Herausgekommen ist ein fordern ohne fördern. Gefordert wurde grenzenlose Zumutbarkeit, die Bereitschaft, berufliche Qualifikationen und erworbene Kenntnisse auf den Müllhaufen zu werfen und mit dem Schild herumzulaufen „Ich nehme jede Arbeit an“. Gefördert wurden nicht Höher- und Weiterqualifizierung, dagegen gefordert berufliche und arbeitsmäßige Degradierung und Deklassierung. Den Menschen wurde der Stolz auf ihren Beruf genommen und ihre Würde dazu. Sie wurden und werden schikanös und wie Dreck behandelt. Arbeitslose haben heute nach einem Jahr Arbeitslosigkeit die Wahl zwischen „Arm durch Arbeit“ als Billiglöhner oder „Arm durch Gesetz“ als Hartz-IV-Empfänger (Sozialgesetzbuch II: Arbeitslosengeld II). Hartz-IV ersetzte die bis dahin gültige Arbeitslosenhilfe, die mit 53% des letzten Nettolohns den Lebensstandard des Langzeiterwerbslosen noch halbwegs sichern konnte. Nach Bundesagentur für Arbeit betrug sie im Durchschnitt 240 Euro mehr als Hartz-IV.
Hartz-IV wurde inzwischen zum Synonym für Armut. Die Regelsätze sichern gerade mal das physische Existenzminimum, das nackte Überleben. Aber selbst dafür müssen die Bedürftigen sich ausziehen bis aufs Hemd, ihr weniges Erspartes und etwaige freiwillige Altersvorsorge offenbaren und erst verscherbeln. Dazu Verdächtigungen und Missbrauchsvorwürfe und Schnüffeleien bis ins Schlafzimmer. Und das alles für ein Almosen.
Hartz-IV ist gleichbedeutend mit der Rutsche, die Arbeitslose nach einem Jahr Arbeitslosengeld-I direkt in die Langzeitarbeitslosigkeit und Armut befördert. Sie hat das Soziale Netz an entscheidender Stelle zerrissen.
SPD-Kanzlerkandidat: Kosmetische Korrektur
Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ist nun angetreten als Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit und Solidarität. Dann aber schon moderater: Er wolle „Fehler der Agenda-Politik“ korrigieren. So sollen Ausweitung des Arbeitslosengeldes I und Weiterbildungsansprüche in der Arbeitslosenversicherung den Arbeitsmarkt sozial gerechter machen. Hatte Schulz ursprünglich noch eine bedingungslose Verlängerung der Arbeitslosengeld-Zahlung angekündigt, so ist davon jetzt nicht mehr die Rede. Mit Andrea Nahles stellte Schulz nun den Plan vor, wonach es längeres Arbeitslosengeld nur für Zeiten geben, in denen ein Arbeitsloser eine Qualifikationsmaßnahme besucht, ein sogenanntes Arbeitslosengeld Q. So würde z.B. würde ein Arbeitsloser unter 50 Jahren, der jetzt einen Anspruch auf Arbeitslosengeld I von einem Jahr hat, für eine einjährige Qualifikationsmaßnahme weiterhin Arbeitslosengeld bekommen, insgesamt also zwei Jahre. Ein 58-jähriger mit einem AlgI-Anspruch von zwei Jahren würde es für einen zweijährigen Weiterbildungskurs zusätzlich erhalten, insgesamt also vier Jahre. Künftig sollen Arbeitslose in Alg I ein Recht auf Weiterbildung haben. Die Bezugsdauer des „Arbeitslosengelds Q“ darf nicht auf die Zeit angerechnet werden, in der der Betroffene Arbeitslosengeld I bezieht.
Der renommierte Armutsforscher Christoph Butterwegge schreibt dazu in einem „Offenen Brief“ an Martin Schulz: „Zwar konzedieren Sie, dass die SPD im Rahmen der „Agenda“-Politik bestimmte Fehler gemacht hat, die Sie nach Ihrer Wahl zum Bundeskanzler korrigieren möchten. In Wirklichkeit war die Agenda 2010 aber selbst der entscheidende Fehler und ihre Konzeption des „aktivierenden“ Sozialstaates grundfalsch, weil diese den Erwerbslosen unterstellt, passiv und deshalb an ihrer Situation selbst schuld zu sein. Dagegen beruht die Politik des aktiven Sozialstaates, wie man ihn bis dahin kannte, auf der Erkenntnis, dass nicht die Betroffenen faul sind, sondern das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, in dem sie leben“.
Nein, das System der Agenda 2010 will Martin Schulz nicht beseitigen oder die Arbeitsmarktreformen „rückabwickeln“, wie es die Linke fordert. Er will nur die Rutschbahn in die Arbeitslosigkeit etwas verlängern und komfortabler machen.
Autor:Fred Schmid
Vorveröffentlichung aus: isw-wirtschaftsinfo Nr. 51: Bilanz der Großen Koalition. (erscheint im April 2017)
foto: flickr|sandeep-thukral