von Dr. Ingar Solty, Referent im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Am 9. Mai 2022 fand im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages eine Anhörung von Expert*innen zum "Sondervermögen Bundeswehr" statt. Wir dokumentieren die schriftliche Stellungnahme von Ingar Solty (vollständiger Text in der pdf-Datei im Anhang) und die mündliche Stellungnahme (Video).
Das Sondervermögen macht "die Welt nicht sicherer und friedlicher, es gefährdet die Demokratie, wird Sozialabbau nach sich ziehen und entfremdet Mittel, die dringend für den sozialökologischen Umbau gebraucht werden“.
(Auszug, vollständiger Text in der pdf-Datei im Anhang)
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Drei Tage nach Kriegsbeginn, am 27. Februar 2022, fanden in Berlin und anderen deutschen Großstädten große, von den Gewerkschaften mitgetragene Protestkundgebungen gegen den russischen Krieg in der Ukraine und für Frieden statt, an denen sich mehrere Hunderttausend Menschen beteiligten. Dies waren die größten Antikriegsdemonstrationen seit dem 15. Februar 2003, als in Deutschland Hunderttausende und weltweit viele Millionen Menschen gegen den damals bevorstehenden Krieg der USA im Irak auf die Straße gingen. Wenige Hundert Meter von der Berliner Großdemonstration entfernt, kam der Deutsche Bundestag zusammen. In einer zurecht als historisch bezeichneten Sondersitzung verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine »Zeitenwende« und Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) sprach von einer »180-Grad-Wende« in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.¹
100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr machen die Welt nicht sicherer und friedlicher
Dr. Ingar Solty, Referent im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, als Sachverständiger im Bundestag.
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Video der Expertenanhörung im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages am 9. Mai 2022 https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw19-pa-haushalt-sondervermoegen-891366 |
Die sogenannte Zeitenwende
Im Ergebnis der Sitzung sprach sich eine Mehrheit im Deutschen Bundestag, einschließlich der CDU/CSU-Opposition und gegen die Stimmen der geschlossenen Opposition von Die Linke, für ein Gesetzesvorhaben der Bundesregierung aus. Hierfür solle noch im Verlauf des Kalenderjahres ein »Sondervermögen« des Bundes im Umfang von 100 Milliarden Euro gebildet werden. Zugleich betonte Bundeskanzler Olaf Scholz, die Bundesregierung werde sich verpflichten, ab sofort »mindestens zwei Prozent« des Bruttoinlandsprodukts für Rüstungsausgaben vorzusehen. Für die Umsetzung des Sondervermögens »zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit« solle hierbei eine Grundgesetzänderung sorgen, mit der die Schuldenbremse im Grundgesetz (Paragraf 190 Absatz 3) umgangen werden könne.² Die Organisatoren der Antikriegsdemos, darunter der Deutsche Gewerkschaftsbund, hatten sicherlich nicht im Sinn, diese Hauruck-Politik zu legitimieren, wie die DGB-Positionierung und vor allem die späteren Positionierungen der Einzelgewerkschaften zeigen, die sich mehr und mehr kritisch zum »Sondervermögen« geäußert haben.
So oder so: Man sollte annehmen, dass in einer liberalen Demokratie einer »Zeitenwende«, einem »neuen Zeitalter« und einer »180-Grad-Wende« in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik eine breite gesellschaftliche Diskussion vorausgehen müsste. Immerhin handelt es sich hier um eine fundamentale Abkehr von den Prinzipien bundesdeutscher Außenpolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, insbesondere dem »Prinzip militärischer Zurückhaltung«, die zugleich auch für die innere Verfasstheit der Bundesrepublik als demokratischer Sozialstaat in erheblichem Ausmaß folgenreich sein wird. Das Gegenteil war aber hier der Fall: Es gab weder eine breite öffentliche Debatte darüber, ja nicht einmal eine lange parlamentarische Debatte und innerparteiliche Willensbildung dazu. Tatsächlich scheint der 100-Milliarden-Plan und die dafür vorgesehene Grundgesetzänderung nach Presseberichten nur mit Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und dem CDU/CSU-Oppositionsführer Friedrich Merz abgesprochen gewesen zu sein. Der Presseberichterstattung war zu entnehmen, dass selbst die Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien und womöglich sogar die ministeriellen Kabinettskollegen Robert Habeck und Annalena Baerbock (beide Bündnis 90/Die Grünen) nicht informiert gewesen sein oder wenigstens das gesamte Ausmaß der Pläne nicht gekannt haben sollen.³
Anders als von der Bundesregierung teilweise suggeriert, steht das Gesetzesvorhaben weder historisch noch logisch in einem direkten Zusammenhang mit dem russischen Krieg in der Ukraine. Die kollektive emotionale Betroffenheit angesichts des Kriegsleides in der Ukraine sollte nicht dazu führen, beides zu vermischen. Denn selbst wenn man davon überzeugt ist, dass Waffenlieferungen an die Ukraine, auch die Lieferung schwerer Offensivwaffen, der beste Weg sind, das Blutvergießen in der Ukraine zu beenden und nicht etwa den Konflikt eskalieren und Deutschland in einen dritten Weltkrieg zwischen Atommächten schlittern zu lassen, ist auch klar, dass, anders als teilweise von der Bundesregierung suggeriert, die von der Bundeswehr anzuschaffenden Waffensysteme nicht für die Ukraine und ihre militärische Selbstverteidigung gegen den russischen Angriff bestimmt sind und schon allein vor dem Hintergrund ihres Anschaffungszeitraums keinen Einfluss auf den Kriegsverlauf nehmen werden. Es handelt sich also beim »Sondervermögen« und der dafür erforderlichen Grundgesetzänderung um eine politische Grundsatzentscheidung, für die kein unmittelbarer sicherheitspolitischer Handlungsdruck bestanden hat oder heute besteht. Eine im Vorfeld in den privaten und öffentlich-rechtlichen Medien, den Gewerkschaften und Sozialverbänden, an den Hochschulen und in Schriftstellerverbänden etc. geführte, breite gesellschaftliche Debatte über diesen radikalen Kurswechsel in der deutschen Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik wäre mithin problemlos möglich gewesen. Ein Dilemma zwischen demokratischer Teilhabe und parlamentarischer Effizienz lag nicht vor.
Lange geplante Aufrüstung
Zugleich lässt sich auch historisch kein Zusammenhang herstellen zwischen dem Ukrainekrieg Russlands und den Aufrüstungsbestrebungen der Bundesregierung. Es ist eine Mär, dass es sich hierbei um ein rein reaktives Vorgehen handelt, nach dem Motto: Eigentlich sei man ja für eine Friedenspolitik der Abrüstung, Rüstungskontrolle, zivilen Konfliktlösungen, Entspannung, Kooperation und Entwicklungszusammenarbeit, aber durch den russischen Imperialismus sei man nun realpolitisch zum Aufbau »militärisch wehrhafter Demokratien« gezwungen, wie es auch in der Stellungnahme des Deutschen Bundesrates vom 8. April 2022 (Deutscher Bundestag 20. Wahlperiode, Drucksache 20/1409, S.11) heißt.
Die Aufrüstungsbestrebungen der Bundesregierung sind schon im Koalitionsvertrag vom November 2021 niedergelegt, das heißt deutlich vor den ersten Warnungen seitens der CIA vor einem möglicherweise bevorstehenden Einmarsch Russlands in die Ukraine, die im Dezember erfolgten.⁴ Schon im Koalitionsvertrag bekennt sich die Bundesregierung zur Anhebung des Rüstungsetats auf mindestens 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf dem Weg zur Erfüllung des Zweiprozentziels der NATO, zu dem sich auch die Vorgängerregierung und Außenminister Heiko Maas (SPD) bekannt hatten, auch ungeachtet der coronabedingten Rezession. Konkret nennt der Koalitionsvertrag der »Ampel«-Regierung die Anschaffung neuer Kampfflugzeuge und bewaffnungsfähiger Drohnen. Ähnlich verhält es sich mit der faktischen Aufrüstung der Bundeswehr, die 2014 einsetzte und die damals mit der Krim-Annexion durch Russland sowie den Bedrohungen durch den »Islamischen Staat« in Irak und Syrien gerechtfertigt wurde.
Schon damals sprachen führende Politikerinnen und Politiker wie der frühere Bundespräsident Joachim Gauck, die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) diesbezüglich von »neuen Bedrohungsszenarien«, die eine »Zäsur« in der deutschen Außenpolitik erforderlich machten, was gleichbedeutend war mit der Aufgabe der historischen bundesdeutschen »Politik der militärischen Zurückhaltung«. Schon damals war die These einer »reaktiven« Zäsur ein Mythos, weil diese Zäsur und die dazugehörigen Aufrüstungsbestrebungen – man müsse von einem »Sicherheitskonsumenten« zu einem »Sicherheitsproduzenten« werden – schon lange vor der russischen Annexion der Krim und der Identifikation des »Islamischen Staats« als Bedrohung von der damaligen Bundesregierung festgelegt worden waren.
Bewährte Salamitaktik
Auch hier standen diese Bestrebungen schon im Koalitionsvertrag der damaligen Bundesregierung von 2013, dessen hier relevante Passagen selbst wiederum in signifikanten Teilen auf der Studie »Neue Macht – neue Verantwortung« der Stiftung Wissenschaft und Politik und des German Marshall Fund of the United States fußten, die bereits im November 2012 in Auftrag gegeben wurde, in Reaktion auf die deutsche Enthaltung im Libyen-Krieg, die als fataler »deutscher Sonderweg« angesehen wurde, obwohl sie sich im nachhinein noch mal als politisch richtig bestätigt hat.⁵ Die erschreckenden Bilder der Zerstörungen, Kriegstoten und flüchtenden Menschen in der Ukraine heute also als günstigen Zeitpunkt, ja de facto als Vorwand zu nutzen, um politische Ziele umzusetzen, die mit diesen Schrecknissen nichts zu tun haben und die gesellschaftlich in der Geschichte der Bundesrepublik immer höchst umstritten waren, ja immer wieder von großen Mehrheiten abgelehnt worden sind, ist politisch unaufrichtig.
Tatsächlich liegt der Verdacht nahe, dass es sich bei dem Vorgehen der Bundesregierung um Salamitaktik handelt, die seit Ende des Kalten Krieges von allen Bundesregierungen geübt worden ist, wenn es darum ging, die Bundeswehr zu einer »Out-of-Area«-Armee umzubauen und die bundesdeutsche Bevölkerung auf Kriegseinsätze der Bundeswehr im Ausland vorzubereiten, die im Widerspruch stehen zum grundgesetzlich verankerten Auftrag der Bundeswehr zur Landesverteidigung und auch prinzipiell im Widerspruch zur Mehrheitsmeinung in der deutschen Bevölkerung gestanden haben.⁶
Darüber hinaus ist auch die Behauptung, die Bundeswehr sei in den letzten Jahren »systematisch kaputtgespart« worden und darum »nicht einmal bedingt abwehrbereit«, ein Mythos. Es ist augenscheinlich, dass ein jährlicher Militärhaushalt im mittleren zweistelligen Milliardenbereich, der die summierten Budgets etlicher bedeutender Einzelpläne des Bundeshaushalts übertrifft, für genügend Unterwäsche sorgen sollte. Mehr noch: Es ist eine Tatsache, dass die deutschen Militärausgaben nach Angaben des Bundesrechnungshofes schon seit 2014 systematisch und signifikant um 55,2 Prozent von 32,4 auf 50,3 Milliarden Euro (im Einzelplan 14) erhöht worden sind. Monierte oder tatsächlich bestehende Ausrüstungsmängel bei der Bundeswehr, werfen damit auch Fragen zum Beschaffungswesen, zur öffentlichen Auftragsvergabe und möglicherweise auch zu Korruption auf. Darauf hat auch der Bundesrechnungshof in seiner grundsätzlichen Kritik des »Sondervermögens« hingewiesen.⁷
Schon anhand des Kaufs der »Puma«-Schützenpanzer, die unbrauchbar geliefert wurden, des »Euro-Hawk«-Projekts von 2013, das Hunderte Millionen Euro an Steuermitteln verschwendete, oder des Erwerbs der doppelt so teuer wie veranschlagten F-35-Tarnkappenbomber aus den USA, die der »nuklearen Teilhabe«, also dem Transport von US-Atombomben, dienen sollen, lässt sich zeigen, dass die 100 Milliarden Euro »Sondervermögen« vor allem den Rüstungskonzernen dienen, deren Aktienkurse nach dem 27. Februar sprunghaft anstiegen, und dass jede Diskussion über Verteidigungsausgaben und deren Sinnhaftigkeit im Hinblick auf die Friedenssicherung in Europa eine Überprüfung von Missmanagement im Beschaffungswesen der Bundeswehr voraussetzt.
»Schlagkräftigste Armee Europas«
Die Einrichtung des »Sondervermögens« und seine Ausschüttung über die nächsten fünf Jahre sowie die Ausgabensteigerungen im eigentlichen Verteidigungshaushalt (Einzelplan 14) plus weitere versteckte militärische Ausgaben (wie die militärische Ertüchtigungshilfe im Einzelplan 60) entsprechen einer Verdopplung der Militärausgaben gegenüber 2014 auf voraussichtlich mehr als 70 Milliarden Euro. Als nur einer von 30 NATO-Mitgliedstaaten wird Deutschland damit im kommenden Jahrfünft voraussichtlich jährlich zehn Milliarden Euro mehr für Waffen ausgeben als Russland und auch weit mehr als Frankreich (2021: 47,8 Milliarden US-Dollar) und Großbritannien (2021: 52,3 Milliarden US-Dollar). Deutschland wird damit nach den USA und China die drittgrößten Militärausgaben der Welt verzeichnen. Das sieht auch die Bundesregierung so, wenn Bundesfinanzminister Christian Lindner den Aufbau der »stärksten und schlagkräftigsten Armee in Europa« (zitiert nach: Süddeutsche Zeitung, 28. Februar 2022) als offizielles Ziel avisiert.
Deutschland trägt so zu einer Asymmetrie der Militärausgaben in Europa bei, wo schon 2021 die Militärausgaben der NATO-Staaten diejenigen Russlands um fast das 20fache überstiegen. Damit ist auch das Argument hinfällig, es bräuchte gegen Russland jetzt ausreichende »Abschreckung«, weil offensichtlich die längst existierende Abschreckung den russischen Krieg in der Ukraine nicht verhinderte. Auch der Hinweis, dass aufgrund unterschiedlicher Kaufkraftparitäten oder der für Russland geringeren Personalkosten sich die Ausgaben nicht vergleichen ließen, ist angesichts der Dimensionen dieser Asymmetrie mindestens irreführend und apologetisch.
Dies zeigt sich auch am Missverhältnis der Soldatenstärke, da 0,9 Millionen russischen Soldaten, die über die gesamte Fläche des größten Staates der Erde verteilt stationiert sind und sein müssen, eine NATO gegenübersteht, die allein im Hinblick auf die europäischen NATO-Staaten mehr 1,9 Millionen Soldaten verfügt. Auch im Hinblick auf die Waffensysteme weisen die europäischen NATO-Staaten heute schon eine mindestens zweifache Überlegenheit gegenüber Russland auf, wenn es um Kampfflugzeuge, Artillerie, Kampfpanzer und gepanzerte Fahrzeuge geht. Darüber hinaus blendet der Vergleich der konventionellen Streitkräfte Europas und Russlands aus, dass dieser nur Sinn ergibt, wenn man die Mechanismen der nuklearen Abschreckung ausblendet, da jeder konventionelle Konflikt zwischen Atommächten dazu führen würde, dass eine sich konventionell unterlegene und in ihrer Existenz bedrohte Atommacht auch Nuklearwaffen zum Einsatz bringt.
Sozialabbau programmiert
Anstatt mehr Ausgaben für soziale, umwelt-, entwicklungs- und klimapolitische Belange wird das »Sondervermögen«, das aus Krediten besteht, zwangsläufig und voraussichtlich noch unter der aktuellen Bundesregierung Kürzungen im sozialen und kulturellen Bereich nach sich ziehen.
Wenn ab 2023 die »Schuldenbremse« wieder gilt, sind schwerwiegende Verteilungskonflikte programmiert. Es ist anzunehmen, dass sie sich auch in der Bundesregierung zuspitzen werden, wenn etwa der Bundeskanzler sein Versprechen halten will, das Rentenniveau von 48 Prozent zu bewahren, d. h. nicht noch mehr Altersarmut als schon bisher zu tolerieren, während aber der Bundesfinanzminister versprochen hat, die Schuldenbremse durchzusetzen. Diejenigen Kräfte, denen in der Regierung und in der Opposition, der Sozialstaat schon immer ein Dorn im Auge gewesen ist, d. h. der FDP, der CDU/CSU unter Friedrich Merz und den Rechtslibertären in der AfD, wird diese Situation zupasskommen. Mit Christian Lindner hat die konservative Opposition einen Verbündeten im Amt des Bundesfinanzministers, und dessen Berater Lars Feld hat bereits betont hat (ZDF-»Heute-Journal« vom 23. März 2022), dass man wegen des »Sondervermögens« »das ein oder andere in der Legislaturperiode (…) nicht realisieren« könne. Ganz explizit nannte Feld das Rentenniveau und andere »strukturelle Mehrausgaben im Sozialbereich«. Die jetzt stattfindende Verschuldung sei in den nächsten anderthalb Jahrzehnten »abzutragen«. Diejenigen, für die das Geld angesichts explodierender Miet- und Lebensmittelpreise heute schon am Monatsende nicht reicht, können sich aber die in Folge des »Sondervermögens« kommende Sozialabbaupolitik genauso wenig leisten, wie die Klimakrise keine Pause einlegt, bloß, weil die Logik des Militärischen heute alles dominiert.
Verlängerung des Blutvergießens
Das »Sondervermögen« für die Bundeswehr ist zugleich im Kontext der Weltumordnung zu sehen: Die Welt befindet sich in einem neuen globalen Wettrüsten, das die Welt nicht friedlicher und nicht sicherer macht.
Waffen, die produziert werden, werden produziert, damit sie irgendwann, irgendwo zum Einsatz kommen. Die in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu beobachtende Gleichgültigkeit gegenüber den Verträgen zu Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie militärische Potentialasymmetrien heizen die Aufrüstung weiter an. Hinzu kommt: Waffen, die für den »inländischen« Gebrauch von »inländischen« Rüstungskonzernen produziert wurden, werden, wie die Erfahrung der Exportgenehmigungen und die verschwindend geringe Zahl der Rüstungsexportverweigerungen zeigen, immer auch exportiert. Im Bestimmungsland kommen sie in der Regel auch zum Einsatz, insbesondere wenn es sich dabei um Kleinkaliberwaffen handelt. Zudem knüpft sich hieran das Problem des Endverbleibs und ihr letztendlicher Einsatz, was sich auch daran zeigt, dass die (auch) im Namen der Jesiden 2014 an die Peschmerga geschickten Waffen drei Jahre später von diesen gegen jene im Nordirak eingesetzt wurden. Kurz, es bleibt dabei: Waffen schaffen keinen Frieden.
Hinzu kommt: Die Hochrüstungspolitik der Bundesregierung ist Teil eines Viermaßnahmenpakets, mit dem sie auf den russischen Krieg in der Ukraine reagiert. Dazu gehören (1.) die Lieferung auch schwerer Waffen und eine entsprechende Ausbildung ukrainischer Truppen durch die Bundeswehr, (2.) die Aufstockung der Bundeswehrkontingente im Rahmen der »Battlegroups« an der NATO-»Ostflanke«, (3.) Sanktionen, die auch die russische Zivilbevölkerung treffen, und (4.) die nun zu beschließende Aufrüstung nach innen.
Die Maßnahmen dieses Viermaßnahmenpakets sind jedoch der Beendigung des von Russland begonnenen Kriegs nicht förderlich. Wenngleich die politische und moralische Verantwortung für diesen Krieg unzweifelhaft bei Russland liegt, drohen die deutschen Maßnahmen dazu beizutragen, dass das Blutvergießen in der Ukraine verlängert wird, womöglich über Jahre eines Ermattungskriegs hinweg, dass also statt Zehntausender Toter womöglich Millionen Tote, ein dramatisch größeres Ausmaß urbaner Zerstörung und ein Vielfaches der jetzt schon geflüchteten Menschen zu beklagen sein werden, und dazu, dass Schritte aus der Eskalationsspirale erschwert werden, weil je länger ein Krieg anhält, um so größer und unvereinbarer dann die »Siege« sein müssen, mit denen die Kriegsparteien gesichtswahrend aus dem Krieg herauskommen können, um so ihre jeweiligen Bevölkerungen für das erlittene Leid zu »entschädigen« und dem aufgestachelten Hass Genüge zu tun. Da es aber einen »Siegfrieden« Russlands nicht geben darf und eine militärische Niederlage Russlands, geschweige denn eine Kapitulation, nicht geben wird, die nicht auf dem Rücken der Ukraine und potentiell auf dem Rücken ganz Europas eine militärische Mitteleskalation zur Folge haben wird, kann es nur den Weg einer Verhandlungslösung geben, die sich an einen vermittelten Waffenstillstand anschließt.
Eine solche Verhandlungslösung wird jedoch insbesondere bei anhaltendem Krieg und einer entsprechenden Erschwerung eines Kompromisses nicht ohne besonnene Politik und intensive Vermittlungsbemühungen von außen erfolgen. Sofern die US-Regierung jedoch erklärt hat, dass ihr strategisches Ziel die »dauerhafte Schwächung« Russlands sei, was auch die Bereitschaft impliziert, quasi bis zum letzten Ukrainer und über Jahre hinweg zu kämpfen, liegt es in einer besonderen deutschen Verantwortung als größte Wirtschaftsnation in Europa eine sehr viel aktivere, vermittelnde Rolle einzunehmen. Dies sollte sie im Bündnis mit anderen Kräften tun, die Einfluss auf Russland nehmen können und die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch drängt. Zu diesen anderen Kräften gehören die Vereinten Nationen, deren Generalsekretär, Papst Franziskus, Frankreich und die anderen BRICS-Staaten (Brasilien, Indien, China und Südafrika), die aus unterschiedlichen Gründen Russlands Krieg nicht verurteilt haben, was auch zur Folge hat, dass der Politik der Sanktionen, Embargos usw. Grenzen gesetzt sind, denn Russland ist weltpolitisch nicht isoliert, und andere füllen das vom Westen hinterlassene Vakuum.
Aktive Kriegsbeteiligung
Mit dem Viermaßnahmenpaket der Bundesregierung in Reaktion auf den russischen Überfall auf die Ukraine kommt Deutschland einer »aktiven Kriegsbeteiligung«, für die die russische Regierung die Definitionsmacht und Eskalationsdominanz besitzt, immer näher. Damit droht jedoch nicht nur eine Situation, in der die Kriegsparteien alle ihnen zur Verfügung stehenden Waffen auch tatsächlich zum Einsatz bringen (was im Falle Russlands eben auch thermoballistische und taktische Atomwaffen beinhaltet), es besteht auch die realistische Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland, also das Szenario eines dritten Weltkriegs.
Die Partei Die Linke tut gut daran, ein strukturell nicht nachhaltiges Sondervermögen für die Bundeswehr, das in einem demokratiepolitisch höchst fragwürdigen Hauruckverfahren beschlossen wurde, das die Welt nicht friedlicher und sicherer macht und dafür erhebliche kulturelle und Sozialkürzungen nach sich ziehen wird und das Ressourcen entfremdet, die es für die Überwindung von Hunger, Armut, sozialer Unsicherheit, heilbaren Krankheiten und einen sozial gerechten Weg zur Abwendung der Klimakatastrophe braucht, politisch abzulehnen.
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