11.10.2013: Auch in der zweiten regnerischen Nacht vor dem Brandenburger Tor wurde die Mahnwache der hungerstreikenden Non-citizens von der Berliner Polizei observiert. Die unterscheidet nun nach legitimem und illegitimem Kälte- und Wetterschutz an diesem Ort. Die Flüchtlinge dürfen nicht in Schlafsäcken ruhen, doch ist es statthaft, diese um den Körper gewickelt als zusätzliche Wärmequelle zu tragen. Nach ihren Repressions-Erfahrungen des ersten Hungerstreiks vor einem Jahr an gleicher Stelle ist dieses Zugeständnis für die Geflüchteten, nachträglich vor dem Berliner Verwaltungsgericht erstritten, schon ein wesentlicher Fortschritt. Denn Zelte und menschenwürdige Übernachtungsausrüstungen sind an diesem Ort ausdrücklich verboten.
Gegen 0:23 Uhr startete der letzte von zwei nächtlichen Krankentransporten. Kurz nacheinander waren zwei Flüchtlinge ohnmächtig geworden, nun werden sie klinisch betreut. Die anderen machen mit ihrem politischen Anliegen weiter, gestützt auf solidarische Aktivisten und auch auf Passanten, die tagsüber Hilfe und Unterstützung anbieten.
Am Donnerstag, dem Tag davor, hat die Mehrheit der Abgeordneten im EU-Parlament die Eurosur-Verordnung als neues, schärfer vernetztes Überwachungsprogramm an den mit Frontex abgeschirmten Außengrenzen vor allem des Mittelmeers angenommen. Der Ausgang der Abstimmung war hier noch nicht bekannt, als Flüchtlinge zur gleichen Mittagsstunde mit einer friedlichen Besetzung in der Vertretung der Europäischen Kommission am Pariser Platz überraschten. Eine Gruppe solidarischer Non-citizens vom Kreuzberger Camp am Oranienplatz baute im frei zugänglichen Informationszentrum des Erdgeschosses rasch auf, was draußen verboten bleibt: ein Zelt mit Decken, Schlafsack und sonstigem Zubehör. Begleitend zur Duldung und den angebotenen Gesprächen, die im Verlaufe von mehreren Stunden mit dem Leiter der Berliner Pressestelle EU-Kommission Reinhard Hönighaus und seiner Mitarbeiterin Elisabeth Kotthaus zum aktuellen Anlass geführt wurden, bekam der Zelteingang des Anschauungsobjekts später ein eigenes Revolutionsemblem der Non-citizens. Patras Bwansi, Sprecher der Hungerstreikenden und Anmelder der später vor dem Haus startenden Demonstration, ließ sich davor fotografieren.
Wie Bwansi verlangten nicht wenige seiner afrikanischen Unterstützer grundsätzlich Anerkennung des Aufenthaltsstatus wie des Rechts auf Arbeit. Bwansi und seine Gefährten waren vor einem Jahr mit einem gemeinsamen Protestmarsch der Geflüchteten quer durch die Bundesrepublik nach Berlin gekommen. Während Bwansi jetzt mit einem Teil der wieder Hungerstreikenden frustriert über die verweigerten Gespräche und die repressiven Methoden in Bayern hierher zurückgekehrt ist, blieben seine Freunde seitdem im Oranienplatz-Camp. Für dessen Umzug in ein geeignetes Winterquartier sollte der Berliner Sozialsenator Czaja am Freitag Konkretes entscheiden. Das EU-Parlament soll die Festung noch stärker legalisieren, anstatt sich für unsere Rechte einzusetzen, empörte sich eine couragierte junge Geflüchtete, die sich von möglicher Abschiebung bedroht sieht. Ein junger Afrikaner hielt den Mitarbeitern der Vertretung seine vorläufigen Ausweispapiere hin. Sie erlauben es ihm aber ohne Inanspruchnahme erleichterter Information und Wege nicht, eigenständig und weitgehend unabhängig in diesem Land zu leben. Die regelrecht festgezurrte Abschottungspolitik führt immer offener zum Rassismus. Die Opfer vor Lampedusa bewirken keine humanere Politik durch die EU. Auf die Versicherungen seiner Gesprächspartner, sich schnell um offizielle Antworten zu kümmern, sagt Flüchtling Patras Bwansi: „Wir wollen kein Verständnis. Wir wollen, dass sich was ändert.“
Vor dem Europahaus, das sichtbar mit Grabkerzen und einem anklagenden Flüchtlings-Killer-Transparent drapiert war, führte Patras Bwansi ab 17 Uhr einen überschaubaren, aber eben auch unüberhörbaren Protestzug durchs Regierungsviertel an. Bis zu 400 Unterstützer des Hungerstreiks und der vernetzten Struggle For Freedom-Aktivisten beteiligten sich daran. Vorbei am Reichstag ging es auf direktem Weg zum Amtssitz der Bundeskanzlerin. In einer Schweigeminute wurde der Opfer der unfassbaren, politisch immer noch ignorierten Flüchtlingstragödie gedacht. Redebeiträge erinnerten an die skandalöse Non-citizens-Räumung in München, aber auch an die im DGB-Haus nicht ungehörte gebliebene Forderung, den Kampf der Flüchtlinge auch gewerkschaftlich zu unterstützen. „Um unseren Status des Überlebens in einen Status des Lebens umzuwandeln, um Mensch zu werden und die gleichen Rechte wie andere Menschen zu haben, müssen wir von der Position des Non-Citizens in die des Citizens übergehen“, wurde hier noch einmal betont. Deutsche Unterstützer antworteten: „Das kriminelle Regime der EU mit seiner Frontex-Agentur ist skandalös. Die Menschen, die aufgrund der imperialistischen Raubzüge aus ihrer Heimat fliehen müssen, werden auf unmenschliche Weise verfolgt. Die Bevölkerung Europas wird mit rassistischer und xenophober Hetze gegen sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge überzogen. Gerade die deutsche Regierung wirkt dabei an der vordersten Front. Gemeinsam mit allen anderen Teilen der Geflüchteten müssen wir kämpfen.“
Text/Fotos: Hilmar Franz