03.01.2022: Geo Barents von Ärzte ohne Grenzen rettet 558 Menschen ++ 446 aus dem Mittelmeer gerettete Flüchtlinge können die Sea-Watch 3 im Hafen von Pozzallo verlassen ++ Der Bürgermeister von Pozzallo begrüßt die Geretteten: "Sie sind willkommen. Die besten Wünsche für ein glückliches neues Jahr" ++ Es sind nur noch private Hilfsorganisationen, die Schiffbrüchige retten ++ Mittelmeer hat sich in einen riesigen Friedhof ohne Kreuze verwandelt: mindestens 1.864 Menschen verloren 2021 ihr Leben im Mittelmeer
"Wir sind auf dem Weg nach Augusta, wo wir die Schiffbrüchigen an Land bringen werden. Die Nachricht über die Zuweisung des Hafens hat an Bord große Freude ausgelöst. Die Menschen sind sehr müde von der Reise und dem Warten. Einige sind schon seit 12 Tagen auf unserem Schiff", sagte Fulvia Conte, Retterin auf der Geo Barents von Ärzte ohne Grenzen am Dienstag vergangener Woche (28.12.), nachdem die italienischen Behörden Augusta bei Syrakus (Sizilien) als Zielhafen angegeben hatten. An Bord befanden sich 558 Flüchtende, darunter 35 Frauen und 174 Minderjährige (143 unbegleitete). Viele Nationalitäten: Sudan, Nigeria, Eritrea, Ägypten, Elfenbeinküste, Gambia, Äthiopien, Libyen, Mali, Guinea Conakry, Senegal, Sierra Leone, Tschad, Syrien, Kamerun, Südsudan, Guinea Bissau, Burkina Faso, Ghana und Algerien.
Zu den Geretteten gehören ein Junge, der kurz vor der Flucht gefoltert wurde und noch immer die Wunden der jüngsten Gewalt an seinem Körper trägt, und ein kamerunischer Künstler, der während der Fahrt Bilder für die Besatzung gemalt hat. "In Libyen habe ich viele Menschen sterben sehen. Sie waren begabt wie ich, fleißig und intelligent. Ich möchte die Geschehnisse in Libyen anprangern und dafür sorgen, dass keine Menschenleben auf See verloren gehen. Die Geo Barents hat mich aus dem Mittelmeer gerettet, und ich bin stolz darauf, sie zu zeichnen", sagte er den NGO-Mitgliedern, die sein Bild veröffentlichten. In Augusta wurden die Geflüchteten auf Covid-19 getestet und dann auf ein Quarantäneschiff gebracht. Die Minderjährigen verbringen die medizinische Isolation in Zentren an Land.
Am 26. Dezember ging in der Notrufzentrale ein Notruf für ein Boot ein, das fünf Tage zuvor mit 17 Personen aus der libyschen Stadt Benghazi ausgelaufen war. Mehrere Stunden nach dem SOS wurde das in Seenot geratene Boot von den Flugzeugen SeaBird der Hilfsorganisation Sea-Watch gesichtet. In der Nähe befand sich das unter panamaischer Flagge fahrende Handelsschiff Pan Unity, das 183 Seemeilen südöstlich von Malta den Kurs änderte und die Menschen rettete.
"Sie fangen dich auf dem Meer, sie misshandeln dich."An Bord der SEA-EYE 4 erzählte Monique dem Sea-Eye-Crewmitglied Fiona kurz vor Weihnachten ihre erschütternde Geschichte. Sie gibt uns einen Einblick in das Schicksal der jungen Frau, die Gefahren auf der Flucht sowie die Hölle in Libyen. "Meine Mutter ist aus Sierra Leone und mein Vater aus Mali. Ich wurde als uneheliches Kind geboren. Als ich etwa fünf Jahre alt war, entführte mich mein Vater und wir gingen nach Mali. Dann kam der Krieg und er ging allein in die USA. Ich blieb bei meiner Großmutter. Sie hat mich schlecht behandelt. Meine Mutter suchte nach mir, meine Mutter wusste nicht, wo ich war, und ich hatte keine Nachricht von meinem Vater. In Mali musste ich mit 15 Jahren heiraten. Ich habe eine arrangierte Ehe bekommen. Der Mann, der mich heiratete, schlug mich den ganzen Tag. Wir bekamen drei Kinder, das dritte wurde als Frühgeburt geboren. Das erste Kind bekam ich mit 15 Jahren und mein letztes Kind mit 20 Jahren. Ich wusste nicht, was ich tun sollte… Wenn ich bei meinem Mann bleibe, schlägt er mich, wenn ich zu meiner Familie zurückkehre, schickt sie mich weg… Ich kam aus einem winzigen Dorf in Mali, ich hatte kein Geld mehr. Ich floh vor meiner arrangierten Ehe mit einer meiner Töchter. Eine alte Dame, die mit uns eine Wohnung teilte, kümmerte sich um mich. Dann erzählte mir jemand, dass meine Mutter gestorben war. Ich hörte, sie sei obdachlos gestorben. Ich lernte auf Facebook einen nigerianischen Mann kennen, der in Belgien lebte, und wir verliebten uns ineinander. Ich versuchte über das Mittelmeer zu kommen. Aber dann wurde ich erwischt und kam ins Gefängnis. Dort habe ich eine Menge gesehen. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber der Schmerz ist zu groß. Sie misshandelten mich, sperrten mich ohne Essen ein. Wenn du krank wirst, wirst du dort sterben. Und wenn du dann nach Hause willst, kannst du nicht mehr zurück. Sie vergewaltigten Mädchen vor aller Augen. Einmal suchten sie sich ein Mädchen aus und baten einen Mann, vor allen Leuten mit ihr zu schlafen. Sie hatte keine andere Wahl, denn sie hatten eine Kalaschnikow in der Hand. Er schlief mit dem Mädchen vor allen Leuten, nur weil sie schwarz war. Es gab einen Mann, der seine schwangere Frau mit seinen beiden Kindern beerdigte. Dann wurde er krank… sein ganzer Körper war abgemagert, aber sie ließen ihn nicht raus, weil er kein Geld hatte. Er starb im Gefängnis, er hatte keine Hoffnung mehr. Auf Leute, die versuchen zu fliehen, wird geschossen. In meiner Zelle sind einige Leute gestorben. Einmal hat einer versucht zu fliehen und sie haben ihn vor unseren Augen so schwer geschlagen, dass sein ganzer Körper mit Blut bedeckt war. Es sind dieselben, die dir bei der Überfahrt helfen und dann dieselben, die dich ins Gefängnis bringen. Sie fangen dich auf dem Meer, sie misshandeln dich. Sie fangen dich zu Hause, sie misshandeln dich auf der Straße, sie misshandeln dich. Sie sagen dir, du sollst zu Hause anrufen und nach Geld fragen. Sie verlangen 1000, 1500 Euro. Und selbst wenn du diese Summe gibst, können sie immer noch zurückkommen. Im Gefängnis kann man Schwarze kaufen. Ein Typ wollte mich, er wollte eine sexuelle Beziehung haben. Er hat 1000 Euro bezahlt, damit ich aus dem Gefängnis komme. Aber ich wollte ihn nicht, also bin ich geflohen." Monique*, 25 Jahre aus Sierra Leone wurde zusammen mit 223 Menschen auf der Weihnachtsmission der SEA-EYE 4 gerettet und am 24. Dezember in Pozzallo an Land gebracht. |
Sea-Watch 3 rettet an Weihnachten 446 Menschen
Nach über einer Woche auf See und zwei Tage nach Ankunft im Hafen von Pozzallo (Sizilien) konnten am gestrigen Sonntag die letzten der 446 aus dem Mittelmeer geretteten Flüchtlinge das Rettungsschiff Sea-Watch 3 verlassen.
Unter den 446 von der Sea-Watch geretteten Schiffbrüchigen befinden sich 116 Frauen (fünf davon schwanger); 42 Kinder im Alter von zwei Wochen bis 12 Jahren; 167 unbegleitete Minderjährige im Alter von acht bis 17 Jahren. Tagelang musste die Sea-Watch bei starkem Wind und Regen vor der Küste von Catania warten, bis ihr von den italienischen Behörden Pozzallo als Hafen zugewiesen wurde.
Quelle: Facebook, Sea-Watch, 30.12.2021 https://www.facebook.com/watch/?v=473858957505947 |
"Die Kommunen an der Küste leisten wie immer ihren Beitrag, was man von der Region Sizilien, der nationalen Regierung und Europa nicht behaupten kann."
Roberto Ammatuna, Bürgermeister von Pozzallo
Der Bürgermeister der sizilianischen Gemeinde, Roberto Ammatuna, begrüßte die Ankunft des Rettungsschiffes in Pozzallo. "Sie sind willkommen. Die besten Wünsche für ein glückliches neues Jahr", erklärte er. "Die Kommunen an der Küste leisten wie immer ihren Beitrag", so der Bürgermeister, "was man von der Region Sizilien, der nationalen Regierung und Europa nicht behaupten kann. Wenn wir nicht begreifen, dass wir eine groß angelegte internationale Solidaritätsaktion mit einem zivilen Rettungsdienst auf See durchführen müssen, an dem die Hilfsorganisationen beteiligt sind, werden wir weiterhin Zeuge dieses Massakers und eines Mittelmeers sein, das sich in einen riesigen Friedhof ohne Kreuze verwandelt hat".
Mittelmeer, der tragische Tribut der Migrant*innen: fast 2.000 Opfer im Jahr 2021
Die Europäische Union hat die staatlichen Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer eingestellt. Es sind nur noch private Hilfsorganisationen wie Sea-Eye, Sea-Watch, Ärzte ohne Grenzen, Mission Lifeline, ..., die die tödliche Rettungslücke ein kleines Stück schließen und die Schiffbrüchigen retten. Allein die Rettungsschiffe von Sea-Watch haben im Jahr 2021 2420 Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Doch die zivile Seenotrettung wird blockiert und kriminalisiert. Rettungsschiffe wurden durch italienische Behörden festgesetzt und am Einsatz gehindert, Schiffe mit Geretteten an Bord müssen tagelang auf See warten, bis sie endlich einen sicheren Hafen zugewiesen bekommen.
Anstatt zu retten, finanziert die Europäische Union Milizen in Libyen und rüstet sie mit Booten aus, damit diese die Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa abfangen und in "KZ-ähnlichen Lagern" (deutsches Außenministerium) einsperren.
Im Jahr 2021 verloren mindestens 1.864 Menschen ihr Leben im Mittelmeer, 400 mehr als im Vorjahr. Seit 2014, als die Weltorganisation für Migration (IOM) ihr Monitoring "Vermisste Migranten" startete, werden 23.150 Menschen, die sich auf den Weg über das Mittelmeer machten, vermisst.
Die Zahl der von der selbsternannten "Küstenwache" in Tripolis auf dem Mittelmeer abgefangenen Migrant*innen, die aus Libyen geflohen sind, belief sich bis Weihnachten auf 32.425. Das sind fast dreimal mehr als die 11.891 des letzten Jahres. Etwa 20.000 Migrant*innen wurden von den Behörden in Tunis zurück an Land gebracht, auf Druck der Europäischen Union und der italienischen Regierung, die zu diesem Zweck Patrouillenboote zur Verfügung stellt.
In den letzten zwölf Monaten haben 144.400 ausländische Bürger*innen die See- und Landgrenzen der EU "unerlaubt" überschritten: das sind nur 0,03 % der EU-Bevölkerung.
Den Preis für den angeblichen "Notstand" und einer nicht existierenden "Invasion" zahlen diejenigen, die ihr Leben auf See verlieren oder die gewaltsam in libysche Gefängnisse zurückgebracht werden. Im Oktober sprach der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte ausdrücklich von "Kriegsverbrechen" und Menschenrechtsverstößen gegen Migrant*innen und Flüchtlinge, die "in großem Umfang von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, mit einem hohen Organisationsgrad und mit Unterstützung des Staates" begangen werden.