26.10.2023: "Kurdinnen erleben als Geflüchtet in vielen Ländern anhaltende und systematische Diskriminierung. Kurdische Gebiete wurden in den letzten Monaten vermehrt durch Länder wie beispielsweise der Türkei angegriffen" heißt es im Programm zu den Kurdischen Kulturwochen in Kiel. Ein randvolles Programm mit Ausstellungen, Musik, Theater, Tanz, Kochkursen, Filmen, Lesungen, Vorträgen und Diskussionsangeboten zur Region Kurdistan trug zum "Schwinden der 'Rassistischen Wand'" bei.
Es gehört schon ein großes Selbstverständnis zum Thema dazu, sich in der aktuellen Zeit mit Veranstaltungen über zwei Monate lang der kurdischen Kultur zu nähern.
Immerhin wurde der öffentliche Blick politisch und medial in der Vorbereitungszeit für diese Kulturwochen auf den Krieg in der Ukraine gelenkt. Dies so sehr, dass andere Kriege, Krisen und Konflikte in der Welt fast ausgeblendet wurden.
Zeitgleich mit dem Beginn der "Kurdischen Kulturwochen" gab es den Angriff der mörderischen Hamas auf israelische Gebiete, die Antwort Israels mit einem nun offenen Krieg gegen Gaza und die palästinensische Bevölkerung. Es brachte zudem den jahrzehntelangen Kampf der Palästinenser*innen gegen die Unterdrückung und Siedlungspolitik Israels wieder in den Fokus, ebenso wie den notwendigen Kampf gegen den Antisemitismus.
Das Projekt der ZBBS SH (Zentrale Bildungs- und Beratungsstelle für Migrant*innen) und der Heinrich-Böll-Stiftung SH in Kooperation mit der LH Kiel führt nach den "Kulturwochen-Kiel " in den vergangenen Jahren zu Afghanistan, Syrien und Iran, nun die "kurdischen Kulturwochen" durch. Unterstützung kommt von mehr als zwanzig weiteren Organisationen, die thematische Veranstaltungen durchführen.
Dass ein randvolles Programm mit Ausstellungen, Musik, Theater, Tanz, Kochkursen, Filmen, Lesungen, Vorträgen und Diskussionsangeboten zur Region Kurdistan und dem Leben der Menschen dort überzeugen kann, spricht für alle veranstaltenden Organisationen und die angebotenen Themen. Dass die Bombardierungen des Erdoğan-Regimes inzwischen wieder fast täglich gegen Nord- und Ostsyrien im Schatten der oben genannten Kriege weitergehen, macht Solidarität notwendig.
Festgestellt wird im Programm zu den Kurdischen Kulturwochen:
"Kurdinnen erleben als Geflüchtet in vielen Ländern anhaltende und systematische Diskriminierung. Kurdische Gebiete wurden in den letzten Monaten vermehrt durch Länder wie beispielsweise der Türkei angegriffen. Recep Tayyip Erdogan benutzt in Bezug auf seine Ziele Wörter wie 'Ausrotten'. Auch das iranische Regime geht besonders hart gegen die aktuellen Proteste in kurdischen Gebieten vor. Dennoch wissen viele Personen der deutschen Mehrheitsgesellschaft kaum etwas über die prekären Lebenssituationen von Kurdinnen."
"Wenn Kulturen miteinander bekannt werden, dann schwindet die Rassistische Wand, vor der wir stehen, immer mehr."
Ayşe Fehimli, Mitglied im Kurdischen Frauenverein Jiyana Jin e.V.
Zwei Veranstaltungen, durchgeführt vom Kurdistan Solidaritätskomitee Kiel, Defend Kurdistan Kiel und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Schleswig-Holstein, informierten über die politische Situation, in der die kurdische Bevölkerung lebt. Über die Unterdrückung, die Möglich- und Unmöglichkeit einer gesellschaftlichen Teilhabe, sowie über den Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit mehr zu erfahren, kann ein Beitrag zum Verstehen der hier lebenden Kurd*innen und zum Schwinden der von Ayşe Fehimli genannten "Rassistischen Wand" sein. Dieses Angebot zur Information und Diskussion wurde mit dem Besuch von Interessierten in vollbesetzten Sälen angenommen.
"Nach dem Sieg Erdoğans und der AKP – Die Situation der Kurd:innen nach den Wahlen in der Türkei"
Die Situation der Kurd*innen nach den Wahlen in der Türkei analysierte Kerem Schamberger, Kommunikationswissenschaftler und Autor.
Trotz der Krisen und Kriege, in denen sich die Türkei befindet, hat die AKP die Wahl gewonnen. Weshalb die Hoffnungen des linken Wahlbündnisses auf einen Wechsel der Regierung in der Türkei sich nicht erfüllt hat, ist eine der Fragen, die gestellt wurde.
In seiner Analyse zeigte der Referent zunächst einen Blick in die Geschichte der türkischen Republik seit 1923. Dabei wies er auf den mit der Gründung erfolgten Versuch hin, als ideologische Grundlage des Staates die "Homogenität des Staatsvolkes" herzustellen. Dargestellt wird diese in dem Spruch: "Tek Vatan, Tek Millet, Tek Bayrak, Tek Devlet", also "Ein Vaterland, ein Volk, eine Fahne, ein Staat" und man könnte ergänzen: "eine Sprache und eine Religion", so Schamberger. "Alles, was nicht in das Identitätsbild des neuen türkischen Prototyps passte, wurde entweder vertrieben, assimiliert oder ermordet." In dem zur Wahl im Mai 2023 geführten Wahlkampf wurden kurdische Aktivist*innen vom Erdoğan-Regime durch Festnahmen ausgeschaltet.
Hinzu kommt die ökonomische Ebene. Die Enteignungen der ArmenierInnen, aber auch der kurdischen Bevölkerung, die Zwangsumsiedelungen, das Verbot der kurdischen Sprache, kurdischer Namen und kurdischer Kultur machten eine politische Beteiligung für diese Bevölkerungen unmöglich.
Gegen diese türkische Politik entwickelte sich der Widerstand der Kurd*innen.
Als Reaktion auf die Unterdrückung und um geeint und organisiert dagegen zu kämpfen, wurde 1978 die PKK gegründet. Seitdem gab es einige Friedensprozesse, die jedoch von der AKP beendet wurden. Es war ihre Reaktion auf den Wahlsieg der Partei der kurdischen Freiheitsbewegung HDP im Juli 2015 in Istanbul.
Die daraufhin einsetzende Selbstermächtigung der kurdischen Bevölkerung über die von ihnen bewohnten Gebiete, wird seit 2015 mit brutaler Gewalt des türkischen Militärs unterdrückt.
In dieser Situation haben die Wahlen im Mai stattgefunden. Dazu kam das Erdbeben, das von Erdoğan genutzt wurde, um Zustimmung für sich zu holen.
Dezidiert beschrieb Kerem Schamberger die Wahlen und blickt auf das Ergebnis: "70% der Stimmen an rechte, nationalistische Parteien gegangen: AKP + MHP + IYI Partei + Zafer Parti + Teile der CHP – also an Repräsentanten des türkischen Nationalismus in unterschiedlichen Ausprägungen. Mal mehr mal weniger islamistisch. Davon fast 25% an offen faschistische Kräfte. Der türkische Nationalismus in all seinen Ausprägungen ist der Gewinner der Wahlen. Wieder einmal … Das Bündnis der Arbeit und Freiheit kommt auf 10,5% und 65 Abgeordnete, davon 4 von der TIP (2018: 67 Abgeordnete und 11,7%)."
Westliche Regierungen und Parteien, wie auch Olaf Scholz, gratulierten Erdoğan umgehend zum Wahlsieg. Dass dies trotz der auch im Wahlkampf bekannt gewordenen Verhaftungen von Kritiker*innen der Erdoğan-Regierung erfolgte, nimmt dieser als Legitimation und setzt seine Politik der Unterdrückung und Gewalt fort.
Diese erschwert die Diskussionen in den kurdischen Gebieten über das gemeinsame Vorgehen nach den Wahlen. Dabei, so Schamberger, muss die "Konzentrierung auf Aufbau gesellschaftlicher Gegenmacht und einem gegenhegemonialen Projekt: Linke Kräfte, gewerkschaftliche Verankerung, Verankerung in den Städten und Stadtteilen" folgen.
"Es muss eine Gegenhegemonie von unten aufgebaut werden. Ganz im Gramscianischen Sinne. Weg von reiner Fixierung auf Wahlen – insbesondere Parlament und Präsidentschaftswahlen - … auch (um) dem türkischen Nationalismus entgegenzuwirken. Darum muss es jetzt in der vor uns liegenden Phase gehen – auch um so einen Grundstein zu legen, die 'kurdische Frage' von unten zu lösen. Das ist nicht einfach, vor allem wenn man sich die aktuelle Weltkonjunktur ansieht – aber versuchen muss man es trotzdem."
Gedenkveranstaltung für einen Kämpfer aus Kiel in Rojava
In dem zwei Tage später durchgeführten Gedenken an Konstantin Gedig - Sehid Andok Cotkar wurde noch einmal deutlich, wie brutal die um ihre Rechte kämpfende kurdische Bevölkerung und ihre internationalen Unterstützer*innen unterdrückt werden.
Konstantin war ein junger Landwirt aus Schleswig-Holstein, der sich 2016 der YPG im Kampf gegen den IS angeschlossen hatte. Bei der Verteidigung der syrischen Grenzstadt Serêkaniyê (Raʾs al-ʿAin) wurde Andok Cotkar am 16.10.2019 durch die türkische Luftwaffe getötet.
Die zum Beginn der Veranstaltung durchgeführte Schweigeminute für Andok Cotkar sowie alle gefallenen Kämpfer:innen für ein freies Kurdistans wurde auf Wunsch von Konstantins Eltern ausdrücklich auch dem am 15. Juni 2023 in Xakurke gefallenen internationalistischen Guerillakämpfer Thomas (Azad Şerger) aus Bayern gewidmet.
Die Eltern von Konstantin besuchten im März 2023 Nordostsyrien/Rojava um mit den Menschen zu sprechen, die mit ihrem damals 24-jährigen Sohn gekämpft haben. Auf der Gedenkfeier teilten sie ihre Erlebnisse und Eindrücke dieser Reise in einem Vortrag mit Fotos und berichteten über Gespräche und Begegnungen. Über die Reise gibt es eine Dokumentation, in der die auf 2500 km besuchten Stationen im Film festgehalten sind, die politischen und humanistischen Beweggründe zur Unterstützung der kurdischen Freiheitsbewegung.
Konstantins Eltern Ute Ruß und Thomas Gedig
In vielen Grußworten wurde an diesem Tag der Kämpfe und den Gefallenen gedacht. In einer Videobotschaft betonte Mazlum Abdi, der Generalkommandant der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), das Ansehen und die Ehrung, die internationalistischen Freiwilligen in Nord- und Ostsyrien widerfährt.
Internationalist*innen berichteten live aus Rojava per Video über die aktuellen Angriffe des türkischen Militärs, vor allem auf zivile Infrastruktur und Bevölkerung in den letzten Wochen. "Der Widerstandsgeist der Bevölkerung ist ungebrochen" lautet die Aussage. Aber sie machten auch deutlich, wie wichtig die internationale Solidarität ist.
Kerem Schamberger wies in seiner Rede zum Gedenken auf die Errungenschaften der Rojava-Revolution hin. Er erinnerte daran, dass grundsätzliche Alternativen zum bestehenden kapitalistischen System immer mit brutaler Gewalt bekämpft werden: "Die Pariser Kommune 1871, die Arbeiter- und Soldatenräte in Russland 1917, die Spanische Republik 1936 und die sozialistische Regierung von Salvador Allende in Chile, die vor genau 50 Jahren durch einen faschistischen Putsch gestürzt wurde. Veränderung sollte als Ding der Unmöglichkeit erscheinen.
Doch Konstantin hat als Internationalist den Beweis verteidigt, dass die Emanzipation des Menschen und der Gesellschaft möglich ist."
Wir verharren in der Defensive, sind oft überwältigt von dem derzeitigen Rechtsrutsch und nicht in der Lage eine Utopie zu entwerfen und sie zu leben, sagte Schamberger und endete mit Pablo Neruda: " Nur mit brennender Geduld werden wir die strahlende Stadt erobern, die allen Menschen Licht, Gerechtigkeit und Würde schenken wird."
txt: Bettina Jürgensen
Auf den Spuren kämpfender Kinder – Dokumentarfilm
siehe auch
- Kurdische Kulturwochen Kiel, Okt und Nov 2023
https://kulturwochen-kiel.de/2023 - ANF, 23.10.2023: Würdiges Gedenken zum vierten Todestag von Andok Cotkar
https://anfdeutsch.com/aktuelles/wurdiges-gedenken-zum-vierten-todestag-von-andok-cotkar-39524 - ANF, 23.10.2023: Kurdische Kulturwochen: Ausstellungseröffnung „Frühling der Frauen“
https://anfdeutsch.com/frauen/kurdische-kulturwochen-ausstellungseroffnung-fruhling-der-frauen-39528