Deutschland

Gemeinnuetzigkeit chang org24.03.2021: Die Bundesregierung "verfolge mit großer Sorge das Vorgehen der Behörden gegen Nichtregierungsorganisationen", erklärte Regierungssprecher Seibert. Und weiter: "Wir erwarten, dass die bewährte Arbeit" dieser Nichtregierungsorganisationen "reibungslos fortgesetzt werden kann. So reibungslos, wie das in vielen anderen Ländern weltweit möglich ist." [1]

Die Bundeszentrale für politische Bildung bpb schreibt, dass unabhängige, regierungskritische Nichtregierungsorganisationen NGOs "Ziel staatlichen Drucks" seien. Der Staat versuche "NGOs auch institutionell in 'gute' und 'böse' einzuteilen" und "gefährdet die Existenz unabhängiger und staatskritischer NGOs". [2]

Und die FDP-Fraktion fragt die Bundesregierung in Form einer Kleinen Anfrage am 12. März 2021, welche "konkreten Initiativen" die Bundesregierung "zur Unterstützung und dem Schutz" der Zivilgesellschaft "angesichts der verschärften Einschränkungen ihrer Tätigkeiten" ergreife. [3]

Geht es um Change.org, Attac, Campact, VVN-BdA?

Denn nun hat es nach Attac, dem Demokratischen Zentrum Ludwigsburg, Campact und der antifaschistischen Vereinigung VVN-BdA auch Change.org erwischt. Das Berliner Finanzamt hat der Petitionsplattform die Gemeinnützigkeit aberkannt. Begründet wird die Aberkennung laut Change.org damit, dass die Kampagnenplattform den Start von Petitionen an Konzerne wie Nestlé, Amazon oder Shell nicht mit Gebühren belegt oder verhindert. Der gemeinnützige Vereinszweck "Förderung des demokratischen Staatswesens" decke nur Petitionen an staatliche Stellen ab, nicht aber an Unternehmen, meint das Finanzamt.

Mit der Aberkennung der Gemeinnützigkeit sollen die unabhängigen und regierungskritischen Nichtregierungsorganisationen finanziell stranguliert und zum Aufgeben gezwungen werden.

"Das Engagement gegen die Macht von transnationalen Konzernen, die ganz real demokratische Gestaltungsspielräume einschränken, soll angeblich nicht gemeinnützig sein – Lobbying von Wirtschaftsverbänden wie der Stiftung Familienunternehmen aber schon?", meint Maria Wahle vom Attac-Koordinierungskreis. "Das verstärkt die Schieflage zwischen Konzernmacht und Zivilgesellschaft. Die Spielräume für kritisches bürgerschaftliches Engagement schrumpfen weiter."

"gute" und "böse" NGOs

GemeinnuetzigkeitIm Unterschied zu diesen regierungs- und unternehmenskritischen NGOs haben die dem Finanzminister unterstehenden Finanzämter keine Probleme mit der Gemeinnützigkeit von knallharten Lobbyorganisationen der Industrie, des Militär-Industrie-Komplexes sowie von CDU, CSU oder FDP. Diesen bleibt das Privileg der Gemeinnützigkeit selbstverständlich erhalten. Atlantik-Brücke, Stiftung Münchner Sicherheitskonferenz (gemeinnützige) GmbH, Wirtschaftsrat der CDU, Bildungseinrichtungen und Stiftungen des Deutschen Bundeswehrverband e.V., Bertelsmann-Stiftung – alle gemeinnützig. Die Gesellschaft für Wehrtechnik e.V. setzt sich seit 61 Jahren als gemeinnützig anerkannter Verein für die Interessen der Rüstungsindustrie ein.

Mit am aktivsten in der "Volksbildung" ist die "Initiative Neue Sozial Marktwirtschaft" (INSM), INSM Grundrenteeine Tochtergesellschaft des Instituts der deutsche Wirtschaft (IW) Köln, das wiederum von den beiden Industrieverbänden BDI und BDA finanziert und kontrolliert wird. Die INSM arbeitet wie viele andere mit der Formel "verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke". Dabei sind die Zwecke unverhüllt privatkapitalistische Zwecke.

In ganzseitigen Anzeigen in überregionalen Zeitungen wie Süddeutsche Zeitung, FAZ, Tagesspiegel, Spiegel, und Erzeugen von Schlagzeilen in Print, TV, Funk und Internet verfolgt die "Initiative Neue Sozial Marktwirtschaft" eindeutig politische Ziele für ihre Klientel - Privatisierung und Abbau öffentlicher sozialer Sicherheitssysteme und von Arbeiter*innenrechten.

Wie die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt: NGOs werden auch institutionell in "gute" und "böse" eingeteilt und die unabhängigen und staatskritischen NGOs in ihrer Existenz bedroht.

Für die "bösen" NGOs war der Entzug der Gemeinnützigkeit von Attac der Auftakt, ein Präzedenzfall, der die ganze demokratische Zivilgesellschaft bedroht.

Das Frankfurter Finanzamt entzog Attac 2014 die Gemeinnützigkeit mit der Begründung, das Netzwerk sei zu politisch. Der Einsatz etwa für eine Finanztransaktionssteuer oder eine Vermögensabgabe diene keinem gemeinnützigen Zweck. Einen ersten Prozess 2016 gewann Attac. Im Revisionsverfahren sprach der Bundesfinanzhof (BHF) Attac jedoch 2019 die Gemeinnützigkeit ab. In einem zweiten Urteil im Januar 2021 bestätigte der BFH diese Sicht. Gegen diese letztinstanzliche Entscheidung hat Attac am 26. Februar Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingereicht.

Attac geht vor das Bundesverfassungsgericht, weil es eben nicht nur um Attac geht. "Es geht um die grundlegende Frage, wie ernst eine Gesellschaft die Mitgestaltungsmöglichkeiten und das Engagement der Bürgerinnen und Bürger nimmt. Mit der Antwort auf diese Frage steht oder fällt eine tragende Säule einer starken, lebendigen, wehrhaften Demokratie", erklärt Attac.

Wobei sich Attac und die anderen NGOs nicht auf die Bundesregierung verlassen können. Denn diese "verfolgt mit großer Sorge das Vorgehen der Behörden gegen Nichtregierungsorganisationen" nur dann, wenn es sich um russische Behörden und NGOs handelt. Im eigenen Land hält sie es mit Putin: regierungskritische NGOs sollen auch hierzulande nicht so " reibungslos" arbeiten können, "wie das in vielen anderen Ländern weltweit möglich ist."

 

Anmerkungen

[1] "Deshalb verfolge die Bundesregierung mit großer Sorge das Vorgehen der russischen Behörden gegen Nichtregierungsorganisationen." betonte Seibert und forderte: "Wir erwarten, dass die bewährte Arbeit der deutschen politischen Stiftungen in Russland - die ja oft schon viele Jahre in Russland wirken - reibungslos fortgesetzt werden kann. So reibungslos, wie das in vielen anderen Ländern weltweit möglich ist." [Mittwoch, 27. März 2013, https://archiv.bundesregierung.de/archiv-de/grosse-sorge-um-stiftungen-426936#]

[2] "Unabhängige russische NGOs sind seit Präsident Putins Amtsantritt Ziel staatlichen Drucks. Die Auseinandersetzung mit diesem Druck hat bei den NGOs zu einer schrittweisen und beindruckenden Professionalisierung beigetragen, die wiederum geholfen hat, trotz dieses Drucks nicht nur zu überleben, sondern auch ihre Arbeit weiter machen zu können. Das vor knapp zwei Jahren in Kraft getretene sogenannten 'NGO-Agentengesetz' stellt die NGOs vor eine neue, harte Probe. Zudem versucht der Staat erneut, NGOs auch institutionell in 'gute' und 'böse' einzuteilen. Dieser neue Versuch, NGOs unter direkte staatliche Kontrolle zu bringen, gefährdet die Existenz unabhängiger und staatskritischer NGOs in Russland." [30.10.2014, https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/194051/analyse-ngos-in-russland

[3] "Welche konkreten Initiativen ergreift die Bundesregierung zur Unterstützung und dem Schutz der russischen Zivilgesellschaft angesichts der verschärften Einschränkungen ihrer Tätigkeiten?" [Kleine Anfrage der FDP-Fraktion am 12.3.2021, https://dserver.bundestag.de/btd/19/275/1927534.pdf]


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