22.03.2022: Vor der Wahl wollten die Grünen "nicht zwischen guten und schlechten Diktatoren unterscheiden". Jetzt ist alles anders. ++ Wirtschaftsminister Habeck in Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten ++ Schulterschluss der Ampel mit Erdoğan ++ Hausdurchsuchungen, Passentzug, Auslieferungen und Repression in Deutschland gegen kurdische Oppositionelle
Freundschaft mit den Scheichs
Vor der Wahl wollten die Grünen "nicht zwischen guten und schlechten Diktatoren unterscheiden". Jetzt ist alles anders. Am Wochenende flog Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis90/Die Grünen) nach Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate, beide Länder gute Kunden der deutschen Rüstungsindustrie. Ziel der Reise: Russische Gasimporte nach Deutschland durch langfristige Energiegeschäfte mit dem Nahen Osten zu ersetzen.
"Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Frage der Energiesicherheit auch in das Zentrum der internationalen Diskussion gerückt. Wir müssen mehr denn je für eine globale Energiewende werben und aktuell die Diversifizierung von Erdgasquellen vorantreiben. … Für beides sind unsere Partner in Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten von zentraler Bedeutung", verkündet Habeck auf der Internetseite seines Ministeriums.
Nach einem Treffen mit dem Emir von Katar, Tamim bin Hamad Al Thani, sagte der Grünenpolitiker, es sei "großartigerweise" fest vereinbart worden, eine langfristige Energiepartnerschaft einzugehen. Die Unterstützung des Emirs sei über die Maßen stark gewesen und stärker als erwartet. Die Unternehmen, die mit nach Katar gekommen seien, würden nun mit der katarischen Seite tief in Vertragsverhandlungen einsteigen, sagte Habeck, der sich selbst als "Türöffner" für die Wirtschaft bezeichnet und von einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation begleitet wird. Darunter der Chef des Energiekonzerns RWE, Markus Krebber, und die Chefin des Stahl- und Rüstungskonzerns Thyssenkrupp, Martina Merz.
"Ein WM-Spiel kostet mindestens 234 Menschenleben."
ZDF
Katar steht international wegen der katastrophalen Arbeitsbedingungen für Arbeitsmigrant*innen in der Kritik.
Vergangenes Jahr berichtete die britische Zeitung "Guardian", dass mehr als 6.500 Arbeitsmigrant*innen aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch und Sri Lanka in Katar gestorben sind, seit das Land vor zehn Jahren den Zuschlag für die Fußballweltmeisterschaft erhalten hat. Die tatsächliche Zahl der Todesfälle sind sogar noch höher, da bei anderen Herkunftsländern, etwa den Philippinen oder Kenia, keine Daten erhoben wurden. Nach Recherchen des ZDF sind seit Vergabe der WM nach Katar mindestens 15.000 Arbeitsmigrant*innen ums Leben gekommen. "Oder um es mit anderen Worten zu sagen: Ein WM-Spiel kostet mindestens 234 Menschenleben." Vor etwas mehr als einem halben Jahr hatte im Zuge ihres Wahlkampfes die jetzige Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) noch verlangt, dem Golfstaat Katar die Fußball-Weltmeisterschaft zu entziehen, weil dort "Arbeitsmigranten praktisch zu entrechteten Leibeigenen ihrer katarischen Arbeitgeber" gemacht werden.
Jemen: Sieben Jahre Krieg und die "größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit"
Bundeswirtschaftsminister Habeck sagte zum Problem der Missachtung von Menschenrechten und der Beteiligung am Krieg im Jemen: Zwischen einem "nicht demokratischen Staat, bei dem die Situation der Menschenrechte problematisch ist, und einem autoritären Staat, der einen aggressiven, völkerrechtswidrigen Krieg vor unserer Tür führt, gibt es noch mal einen Unterschied."
"Die Kriegstoten der Scheichs zählen der Ampel-Regierung ganz offensichtlich weniger oder nichts im Unterschied zu den Kriegstoten Putins"
Sevim Dagdelen, DIE LINKE
"Die Kriegstoten der Scheichs zählen der Ampel-Regierung ganz offensichtlich weniger oder nichts im Unterschied zu den Kriegstoten Putins im Zuge der Ukraine-Invasion. Das zeugt von rassistischer Ignoranz und einem offensichtlich rein taktischen Verhältnis zu Menschenrechten in Regierungsverantwortung", meint die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (DIE LINKE) zu der Anbiederung der Bundesregierung an die Autokraten am Golf.
Dagedelen erinnert daran, dass die Vereinigten Arabischen Emirate, bei denen jetzt grüner Wasserstoff gekauft werden soll, – auch dank deutscher Waffenexporte – zusammen mit Saudi-Arabien führend verantwortlich sind für die laut UNO größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit, den seit sieben Jahren andauernden Krieg im Jemen mit mehreren hunderttausend Toten, darunter 10.000 Kinder, und Millionen Flüchtlingen. Katar war bis 2017 unter dem Kommando der saudischen Kopf-ab-Diktatur am Krieg gegen die Zivilbevölkerung im Jemen beteiligt.
Bei einer von der UN vergangene Woche organisierten Geberkonferenz für den Jemen kam nur ein Drittel der erhofften 3,9 Milliarden Euro an Finanzzusagen zusammen. Das "große Loch bei der Finanzierung lebensrettender Maßnahmen", von dem der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths bei der Eröffnung der Konferenz sprach, konnte nicht gestopft werden. 13 Millionen Menschen im Jemen sind vom Hungertod bedroht, warnt der Chef des UN-Welternährungsprogramms (WFP) David Beasley. Rund 2 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt und dadurch besonders anfällig für Krankheiten. Der russische Einmarsch in die Ukraine werde auch für viele Einwohner des Jemen weitreichende Konsequenzen haben, da das Land fast vollständig von Lebensmitteleinfuhren abhänge. So stamme ein Drittel der Weizenimporte aus der Ukraine.
"Wenn wir, wie es heißt, durch Öl- und Gasimporte aus Russland den Krieg Putins in der Ukraine finanzieren, finanzieren wir dann jetzt mit Gas- und Wasserstoffimporten aus Katar und den Emiraten den Krieg im Jemen?"
Sevim Dagdelen, DIE LINKE
Die "starke deutsch-türkische Partnerschaft"
Der Krieg Russlands um die Ukraine schweißt die Bundesregierung auch mit der Diktatur von Recip Erdoğan noch fester zusammen. Der Nato-Partner Türkei kann im Windschatten des Ukrainekrieges noch so viele Bomben in Nord- und Ostsyrien sowie im Nordirak abwerfen und dschihadistische Terrorbanden fördern, er entfernt sich aus Berliner Sicht nicht von der "Weltgemeinschaft". Im Gegenteil: Die "starke deutsch-türkische Partnerschaft" wird noch fester.
Bundesrepublik: Verschärfte Repression gegen Kurd*innen
Als Zeichen der engen Verbundenheit mit dem Diktator im "Weißen Palast" in Ankara, verschärft die Bundesregierung die Repressionen gegen kurdische Oppositionelle und ihre Sympathisant*innen.
Passentzug und Ausreiseverbot
So sind dem Berliner Aktivisten U. seine Ausweisdokumente entzogen und ein Ausreiseverbot erteilt worden. Er hatte die Demonstration "PKK-Verbot aufheben! Krieg beenden, politische Lösung fördern!" vom 27. November 2021 in Berlin angemeldet. Jetzt wird er als Sicherheitsrisiko für Deutschland eingestuft, dem das Verlassen der Bundesrepublik verboten ist.
In der Begründung des Ausreiseverbotes heißt, dass seine "Aktivitäten … erheblich die Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, indem sie u. a. die auswärtigen Beziehungen oder auch das internationale Ansehen der Bundesrepublik Deutschland gefährden".
Hausdurchsuchungen und Auslieferung an die türkische Diktatur
Ausgerechnet am Freitag, den 18. März., dem internationalen "Tag der politischen Gefangenen“ durchsuchte die Münchner Polizei die Wohnung von Azad Bingöl. Azad Bingöl ist Mitglied im Migrationsbeirat der Landeshauptstadt München. Er engagiert sich für einen Abschiebestopp von Kurd*innen in die Türkei. Aktuell geht es um den von einer Auslieferung in die Türkei bedrohten Heybet Şener.
Anfang Februar konnte die Abschiebung von Heybet Sener, den in der Türkei eine mehrjährige Haftstrafe wegen seiner politischen Betätigungen erwartet, verhindert werden. (siehe kommunisten.de: "Abschiebung in Türkei in letzter Minute gestoppt")
Doch die bayerische Polizei gibt keine Ruhe. Das Ziel der Hausdurchsuchungen bei Azad Bingöl und dem Bruder von Heybet Sener am Freitag war, Heybet Sener in Abschiebehaft zu nehmen. Bingöl weist darauf hin, dass die Abschiebung von Heybet Sener rechtswidrig vollzogen werden soll, denn der juristische Prozess - das Widerspruchsverfahren gegen die Ablehnung seines Asylfolgeantrags - ist noch nicht abgeschlossen. Laut dem Durchsuchungsbeschluss soll Sener am 7. April 2022 abgeschoben werden. Sener wurde in den Wohnungen nicht angetroffen.
Wenige Tage vorher, am 16. März, war es in diesem Zusammenhang zu einem Polizeiauftritt im Petitionsausschuss des bayerischen Landtages gekommen. Bingöl hat eine Petition für das Bleiberecht Seners initiiert, die an diesem Tag im Pettionsauschuss behandelt wurde. Zwei Polizisten der Landespolizei kamen in die Sitzung, um Heybet Şener dort anzutreffen und auf Gesuch der Ausländerbehörde Erding für eine erneute Abschiebehaft festzunehmen.
https://twitter.com/AzadBingoel/status/1504164760593612802 |
"Ein beisspielloser Angriff auf die Immunität des Landtages und eine Methode, die man aus einem autoritären Polizeistaat kennt, wie es beispielsweise die Türkei ist", empört sich Azad Bingöl. Das sei nur einer der zahlreichen Fälle, mit denen die Unterstützung von kurdischen Geflüchteten untergraben werden solle und die zeigen, wie die deutschen Behörden sich zum Büttel der Erdoğan-Diktatur machen.
"In aller Klarheit muss gesagt werden: Die deutsche Abschiebepolitik und die Gerichte liefern schutzsuchende Kurd*innen und in diese systematische Folter aus. Das ist ein offener Bruch mit universellen Menschenrechten und eine unakzeptable Doppelmoral. Diese politischen Auslieferungen von Kurd*innen in die Türkei geschehen in enger Zusammenarbeit mit dem türkischen Staat und hängen mit übergeordneten politischen, militärischen und wirtschaftlichen Interessen mit dem NATO-Partner Türkei zusammen."
Azad Bingöl