22.05.2023: Notstand in der Emilia Romagna ++ inmitten der Wassermassen gibt es immer mehr Menschen, die kaum etwas zu trinken haben ++ Legambiente: "Es ist die Klimakrise und die neue Normalität" ++ beispiellose Solidarität
Die vorläufige Bilanz der Überschwemmungen in der Emilia-Romagna ist verheerend. Zwischen Bologna und der Adria traten alle Flüsse über die Ufer und in den von der Flutkatastrophe betroffenen 42 Gemeinden mussten rund 40.000 Menschen ihre Häuser verlassen. In den Berggebieten der Romagna wurden zudem mehr als 200 Erdrutsche gezählt.
In vielen Teilen der Region brachen die Trinkwasser- und Stromversorgung zusammen; mindestens 50.000 Menschen waren mehrere Tage ohne Strom, und noch immer sind Tausende von Haushalten ohne Strom. Dörfer in den Tälern des Apennin mit insgesamt Zehntausenden Bewohner:innen sind bis heute von der Außenwelt abgeschnitten, weil die Straßen weggerutscht oder verschüttet sind. Die Regale in den Lebensmittelläden sind inzwischen leer und inmitten der Wassermassen wird das Trinkwasser knapp.
Faenza, Cesena, Forlí, Ravenna und andere mittelgroße Städte an der Via Emilia standen unter Wasser, und viele andere Kleinstädte im Herzen der Romagna wurden nicht nur vom Schlamm überflutet, sondern waren auch auf sich allein gestellt und nicht einmal telefonisch erreichbar. Gegenüber dem TV-Sender RAI erklärte ein Mann, nachdem er von der Feuerwehr aus den Fluten gerettet war, dass der Schlafanzug, den er am Leibe trägt, das Einzige sei, was ihm geblieben ist; Haus, Einrichtung, Auto, ... alles was er und seine Frau sich in 20 Jahren aufgebaut hätten, sei von den Fluten weggespült worden.
RAI berichtet am heutigen Montag über den Einsatz der Freiwilligen Feuerwehr aus Südtirol in Forlí:
"Gestern ist der Truppe von Einsatzleiter Alois Steger ein Straßenzug in Forlì zugewiesen worden. Dort haben die Feuerwehrmänner aus Südtirol Wasser aus einem Gebäude mit Transformatoren gepumpt. Anschließend haben Elektriker den Verteiler repariert. Heute dürfte der Straßenzug wieder Strom haben. Die Hilfsbereitschaft ist nach wie vor groß. Viele Freiwillige sind jung. Sie helfen auf vielerlei Weise mit. Wenn die Feuerwehrmänner einen Keller ausgepumpt haben, sind meist mehrere Leute da, die beim Auf- und Ausräumen helfen.
Für die nächsten Tage ist sonniges Wetter vorhergesagt. Das werde dazu führen, dass der Schlamm schnell trocknet. 'Dann wird er hart und ist nur noch schwer zu entfernen', sagt Steger.
Die Zerstörung ist jedoch gewaltig. Steger berichtet, dass allein im Straßenzug, für den er zuständig ist, 100 Autos über zwei Meter unter Wasser waren. Diese und die Einrichtung der überfluteten Häuser seinen verloren. Die Bevölkerung sehe, dass es wieder aufwärtsgeht und habe Zuversicht geschöpft. Viele hätten jedoch nicht realisiert, was sie alles verloren haben." [1]
Von Ravenna wurden Wasserstände von bis zu sieben Metern gemeldet. Rund um Ravenna wurden zahlreiche Dörfer vollständig evakuiert. Dort spitzte sich auch am Wochenende die Lage weiter zu. Auch die Evakuierungen gingen weiter, sowohl in kleineren Orten als auch in den Städten Ravenna und Forlì. Für die anderen Städte gilt nach wie vor der allgemeine Hinweis, sich in die obersten Stockwerke der Gebäude zu begeben.
Der Zugverkehr in der Region Ravenna, Rimini, Forlí, Faenza ist immer noch unterbrochen und wird erst im Laufe der Woche schrittweise wieder aufgenommen. Die verkehrsmäßige Hauptschlagader der Region, die Autobahn A14, war überflutet und wurde in einem arbeitsmäßigen Gewaltakt wieder befahrbar gemacht.
Bisher kamen in den Fluten 15 Menschen ums Leben. Vermutlich nur der raschen Ausrufung des "Roten Alarms", der unter anderem die Schließung aller Schulen und Universitäten zur Folge hatte, ist es zu verdanken, dass die Zahl der Todesopfer nicht noch höher ist.
Da es nach einem Starkregen bereits Anfang Mai zu Überflutungen gekommen war, waren die Verantwortlichen gewarnt. Nachdem Meteorologen die aufkommende schwere Wetterstörung vorgesagt hatten, wurde der "Alarmstufe Rot" ausgelöst. Die am stärksten gefährdeten Gebiete wurden evakuiert und auch sonst wurden die Menschen aufgefordert, sich in die oberen Stockwerke der Häuser zu begeben. Nach dieser Aufforderung durch die Behörden verließen Tausende von Menschen ihre Häuser.
"Die Klimakrise ist unsere Gegenwart"
Luca Mercalli
Erschwerend war, dass der ausgedehnte Starkregen ein Gebiet betraf, auf dem bereits vor zwei Wochen hohe Regenmengen gefallen waren. Die bereits mit Wasser gesättigten Böden konnten kaum mehr weitere Mengen aufnehmen, wodurch ein hoher Teil in die Bäche und Flüsse abfloss, was dann in der Ebene eine Katastrophe verursachte. Gemeinsam mit dem Adria-Meeressturm, der Meerwasser in die Flussmündungen drückte, wodurch das Abfließen des Flusswassers erschwert wurde, trugen alle zusammentreffenden Gegebenheiten dazu bei, dass die Unwetterkatastrophe in ein Desaster mündete.
In einem Interview, das er der Turiner Tageszeitung La Stampa gab, erklärt der Meteorologe Luca Mercalli, dass die Flutkatastrophe "auf extreme Ereignisse zurückzuführen ist, die im Zusammenhang mit der globalen Klimaerwärmung stehen". Je mehr und schneller sich die Erdatmosphäre erwärmt – so Luca Mercalli – desto häufiger und intensiver werden diese Wetterphänomene auftreten. "Es gibt einfach mehr Energie in der Atmosphäre, was zur Folge hat, dass die Winde und die Regenfronten stärker werden. Auf globaler Ebene müssen wir das Risiko eindämmen, dass sich die Lage weiter verschlimmert, aber das, was geschehen ist, ist bereits unsere Gegenwart", zieht der angesehene Meteorologe ein wenig hoffnungsvolles Fazit.
Schäden in Milliardenhöhe
Der Gouverneur der Emilia-Romagna, Stefano Bonaccini, weist darauf hin, dass "wir hier von Schäden in Höhe von einer Milliarde Euro nur für die Tragödie vom 2. und 3. Mai sprechen, als in 36 Stunden das Wasser von vier Monaten fiel. Jetzt ist an vier Tagen so viel Regen gefallen wie sonst in einem Jahr". Bonaccini vermutet, es werde einige Milliarden Euro für den Wiederaufbau brauchen. Allein in der Emilia Romagna seien mehr als 400 Straßenverbindungen beschädigt oder unterbrochen, mehr als 60 Gemeinden seien von Erdrutschen betroffen, sagte der Regionalpräsident. Bonaccini verglich die Verwüstung in der Emilia Romagna mit der Wirkung eines Erdbebens.
"Es ist kein unvorhersehbares Erdbeben, es ist kein schlechtes Wetter, es ist eine Klimakrise"
Davide Ferraresi
"Es ist die Klimakrise"
"Es ist kein unvorhersehbares Erdbeben, es ist kein schlechtes Wetter, es ist eine Klimakrise", entgegnet der Emilia-Romagna-Präsident der Umweltorganisation Legambiente, Davide Ferraresi. Jetzt sei es mehr denn je an der Zeit, die Situation ernst zu nehmen und entsprechend zu handeln.
"Genug der Schizophrenie in der Klimapolitik, wir brauchen einen Anpassungsplan mit sofortiger Wirkung", heißt es in einer Presseerklärung der Legambiente unter der Überschrift "Es ist kein Erdbeben, es ist der Klimawandel". Inzwischen erlebe das Land "365 Tage im Jahr Notstand" mit sich wechselnden Dürren und Überschwemmungen. "Ereignisse, wie sie in den letzten Tagen aufgetreten sind, werden aufgrund der globalen Erwärmung immer intensiver und heftiger, und Italien ist eines der am stärksten gefährdeten und anfälligen Länder."
Legambiente kritisiert, dass die Region Emilia-Romagna und die Regierung Geld in den Bau von Autobahnen investiert, dass sie keine Lösung des Problems des Flächenverbrauchs gefunden haben, das in den letzten Jahren in Form eines Ansturms neuer Logistikzentren auf unberührtes Land in der Region aufgetreten ist, und sich nicht um die Sicherheit des Territoriums kümmern.
"Acht Jahre sind vergangen, seit im Pariser Abkommen das Ziel eines maximalen Anstiegs der globalen Temperaturen um 1,5°C im Vergleich zu den vorindustriellen Temperaturen festgelegt wurde. Heute warnt der IPCC, dass die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Schwellenwert bis 2027 überschritten wird, bei 2 zu 3 liegt, und dass die nächsten fünf Sommer mit ziemlicher Sicherheit die heißesten sein werden, die jemals in der Geschichte der Menschheit aufgezeichnet wurden. Vor diesem Hintergrund hat jeder Hektar zubetoniertes Land, jede Million, die für Arbeiten mit negativen Auswirkungen auf das Klima ausgegeben wird, jede Verzögerung bei der Einführung von Anlagen für erneuerbare Energien Folgen für die Lebensqualität und die Gesundheit der Menschen. Die Wissenschaft hat auch die Lösungen aufgezeigt, die zu ergreifen sind: Reduzierung der klimaschädlichen Emissionen in allen Sektoren, angefangen beim Energiesektor, und Förderung des Anpassungsprozesses an das neue, bereits veränderte Klima. All dies muss jetzt geschehen, ohne Verzögerung und ohne Widersprüche."[2]
Beispiellose Solidarität
Gleichzeitig zeigt sich in dieser Katastrophe, dass weder Berlusconi noch die folgenden neoliberalen Regierungen das Streben nach Solidarität zerstören konnten.
Überall sieht man junge Leute mit Spaten und Schaufeln, die sich abwechseln, um denen zu helfen, die im Erdgeschoss oder in den mit Schlamm gefüllten Kellern leben. Alle telefonieren mit Freunden und Verwandten, um herauszufinden, wie sie helfen können, auch weil einige Gebiete völlig trocken und andere noch überschwemmt sind. In den Bergdörfern bringen sie den von der Außenwelt abgeschnittenen Menschen über Kilometer zu Fuß oder mit Mountainbikes Lebensmittel und Trinkwasser; mit Traktoren und Schaufeln rücken sie aus, um die Schlammlawinen von den Straßen zu räumen.
Organisiert wird die Arbeit von Zehntausenden von Freiwilligen durch die Kommunen, den Zivilschutz oder von Organisationen wie der "Platform di intervento sociale" (Plat) in Bologna. Es sind dieselben Leute, die manchmal von der Polizei zusammengeschlagen werden, weil sie für das Recht auf Wohnung und soziale Integration kämpfen, die jeden Tag mit mehrere Autos mit freiwilligen Helfern losfahren, beladen mit Material wie Schaufeln, Gummistiefeln, Stromgeneratoren, Wasserpumpen und Trinkwasser. Innerhalb weniger Stunden hatte der von Plat eröffnete Telegramm-Kanal bereits 1.300 Abonnent:innen. Jeder ist bereit, zu helfen. Es werden Fotos und Videos direkt aus den überschwemmten Gebieten gepostet, aber vor allem gibt es die nötigen Informationen, damit die Hilfe konkret und ohne Energieverschwendung gelenkt werden kann. Es ist eine gigantische und unglaublich effiziente Koordination der Solidarität: Technik und Schaufeln.
Maria Elena Scavariello, eine Plat-Aktivistin, die sich mit Wohnrechten und Rechtsfragen befasst, sagte: "Gestern, als unsere Freiwilligen nach Bologna zurückgekehrt waren, bildete sich in der Zentrale eine spontane Versammlung, mehr als hundert Leute, die sich alle einig waren: Es ist nicht nur das schlechte Wetter, es ist der Klimawandel."
Der nächste Schritt von Plat wird eine Bürgermobilisierung sein, die für Dienstag, den 23. Mai, anlässlich der Sitzung des Ministerrats organisiert wird. Und dann eine Volksversammlung im Herzen der Stadt, auf der Piazza Maggiore, um über das Umweltproblem zu diskutieren und der Regierung, sowohl der nationalen als auch der städtischen, zuzurufen, dass sofortige Maßnahmen erforderlich sind.
Ein weiteres Beispiel für den Einsatz von Freiwilligen in den betroffenen Gebieten ist das von BRIGATE SOLIDARIETA' ATTIVA [3], die einen Link aktivieren, um ehrenamtliche Anmeldungen für junge Menschen zu sammeln, die bereits vor Ort sind, um den Menschen vor Ort zu helfen. Auf dem Meldeformular heißt es: " Das betroffene Gebiet ist groß, und die Situationen, mit denen wir konfrontiert werden, sind sehr unterschiedlich. Wir werden gemeinsam in einer langen Arbeit an der Seite der Bevölkerung stehen.
Vereint sind wir alles, geteilt sind wir nichts!"
Vorwärts Brigaden!"
"Wir von Ultima generazione sind bereits in der Emilia Romagna und schaufeln Schlamm. Wir sind unter den Menschen, die helfen. Gewöhnliche Bürger ohne Fahnen, wir suchen nicht nach Sichtbarkeit."
Diese Erklärung ist eine Antwort auf den faschistischen Senatspräsident La Russa, der die jungen "Rebellen" aufgefordert hatte, die Schaufel in den Schlamm der Emilia Romagna zu stecken. Weiter heiß es: "Seien Sie versichert, dass unter den Jungen und Mädchen, die Romagna Mia sangen [Anm.: siehe Video oben], während sie Schaufeln in der Hand hielten, viele waren, die gegen den 'Klimawandel' mobilisierten! Sie sind immer noch bereit, Blockaden zu errichten, um vor den Gefahren zu warnen, denen wir immer noch ausgesetzt sind. Sie sind es gewohnt, von den Politikern und der Presse verspottet zu werden, aber sie werden weitermachen."
Text: Leo Mayer, z.Zt. Emilia-Romagna
Anmerkungen
[2] Legambiente, 18. Mai 2023: Non è un terremoto, è il cambiamento climatico
https://www.legambiente.emiliaromagna.it/2023/05/18/non-e-un-terremoto-e-il-cambiamento-climatico/
[3] BRIGATE SOLIDARIETA' ATTIVA
https://www.facebook.com/BrigateSolidarietaAttiva