Der Kampf hat die Repression besiegt
20.05.2021: Schiffbruch für Rechte und Ultrarechte bei der Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung und bei Kommunalwahlen ++ Lager von radikaler Linken bis Mitte-links kann neue, anti-neoliberale Verfassung schreiben ++ KP Chiles verdoppelt Stimmen bei Kommunalwahlen ++ kommunistische Bürgermeisterinnen in Hauptstadt Santiago und in Lo Espejo ++ kommunistischer Kandidat für Präsidentschaftswahl im Herbst liegt in Führung
"Niemand hat mit einem solchen Ergebnis gerechnet, diejenigen, die das jetzt sagen, lügen. Natürlich haben viele von uns davon geträumt", sagte Tomás Hirsch, Abgeordneter der Acción Humanista Chile und einer der Koordinatoren der Liste Apruebo Dignidad, einer mit der Frente Amplio und der Kommunistischen Partei Chiles gebildeten Koalition.
Die Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung und der Bürgermeister, Gemeinderäte und Gouverneure am 15. und 16. Mai 2021 wurden zu einer Niederlage für den rechten Flügel des Landes und generell für die traditionellen Parteien.
Die chilenische Rechte, vereint in einer einzigen Liste "Vamos por Chile", kam nur auf 37 von 155 Sitzen. Das Ziel der Rechtskoalition, die von den Pinochetist*innen bis zu Präsident Piñera reichte, war es, ein Drittel der verfassungsgebenden Versammlung, mindestens 52 Abgeordnete, zu gewinnen, um während der Ausarbeitung der neuen Verfassung ein Veto einlegen zu können. Jetzt kann sie die Ausarbeitung der neuen Verfassung nicht mehr blockieren.
Der Kampf hat die Repression besiegt
In die Verfassungsgebenden Versammlung wurden 28 Vertreter*innen der linken Koalition Apruebo Dignidad ("Ich stimme der Würde zu") gewählt, 25 der Lista del Apruebo (Mitte links) und 48 unabhängige Kandidat*innen, von denen die meisten die Bewegungen repräsentieren. Dazu kommen 17 Vertreter*innen der indigenen Gemeinschaften.
Das frisch gewählte Präsidium von Apruebo Dignidad Vereint mit dem Volk und den transformatorischen Kräften, um ein neues Chile zu erobern. Venceremos! |
"Es ist klar, dass das Erreichen von mehr als der Zweidrittel-Mehrheit es nicht nur ermöglichen sollte, die undemokratischsten Teile der jetzigen Verfassung zu streichen, sondern sie auch in eine moderne Verfassung mit einer Zukunftsvision zu verwandeln. Es ist die erste Verfassung der Welt, die von einer Versammlung mit der gleichen Anzahl von Männern und Frauen und mit einer starken Vertretung der indigenen Gemeinschaften geschrieben wird", sagte Tomás Hirsch.
Der Kampf hat die Repression besiegt, fasst der humanistische Abgeordnete das Ergebnis zusammen.
Ausgangspunkt der Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung, auf die sich die Rechtsregierung von Sebastián Piñera widerstrebend einlassen musste, waren die massiven Proteste, die am 18. Oktober 2019 einsetzen. Der meist gerufene Slogan hieß damals: "Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre!" Gemeint war nicht der Auslöser der Proteste, die Preiserhöhung des U-Bahn-Tickets um 30 Pesos, sondern um die Tatsache, dass eine Verfassung, die 1980 von der Pinochet-Diktatur (1973-1990) verankert wurde, auch 30 Jahre nach deren Ende immer noch in Kraft und damit das neoliberale Modell verfassungsmäßig festgeschrieben ist.
Die Verfassung von 1980, mit der Pinochet das neoliberale System in Chile für alle Zeiten festschreiben wollte, ist bald Geschichte!
Das Lager von radikaler Linken bis Mitte-links steht nun vor der Aufgabe, sich auf den Text einer neuen Verfassung zu einigen, die dem neoliberalen Modell das Aus versetzt – ein Modell, das im Gefolge des Putsches von Augusto Pinochet gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende 1973 zementiert wurde. Die neue Verfassung hat hohe Ziele: Schluss mit dem privaten Rentensystem, der Privatisierung von Bildung und Gesundheitssystem und der rücksichtslosen Ausbeutung der Natur. Stattdessen ein Leben in Würde für alle – per Verfassung garantiert!
Die Verfassungsgebende Versammlung hat nun ein Jahr lang Zeit, um den Text zu formulieren, ehe in einem weiteren Referendum darüber abgestimmt wird. Noch ist es ein gutes Stück Weg zu gehen, bis zu einer neuen Verfassung und noch länger, bis sie real zur Geltung kommt. Aber mit den Wahlen zum Konvent ist klar: Die Verfassung von 1980, mit der Pinochet das neoliberale System in Chile für alle Zeiten festschreiben wollte, ist bald Geschichte!
Auf kommunaler Ebene hat der Wandel bereits begonnen
Die Rechte und Ultrarechte hat nicht nur bei der Wahl der verfassungsgebenden Versammlung Schiffbruch erlitten. Nicht anders war es bei den Kommunalwahlen, wo die Rechten abstürzten, während die wichtigsten Gemeinden des Landes, beginnend mit Santiago de Chile, von Kandidat*innen der Linken - der Frente Amplio oder der Kommunistischen Partei - gewonnen wurden. Das Führungsmitglied der KP Chiles, Marcos Barraza, sagte, dass auch auf kommunaler Ebene die anti-neoliberalen Positionen an Raum gewonnen haben, insbesondere die Kommunist*innen, die ihre Anzahl an Ratsmitgliedern verdoppelt haben.
Valparaíso, die zweitwichtigste Stadt des Landes, wird künftig von Rodrigo Mundaca, Umweltaktivist und Kandidat der Frente Amplio, regiert werden.
Irací Hassler von der Kommunistischen Partei ist die neue Bürgermeisterin von Santiago, der Hauptstadt Chiles: Frau und Kommunistin, ein Novum für die Hauptstadt eines Landes, das immer noch stark vom Machismus geprägt ist.
Unmittelbar nach ihrer Wahl erklärte die neue Bürgermeisterin: "Wir hoffen, dass das, was heute in Santiago passiert, das Vorspiel für das ist, was auf nationaler Ebene passieren wird. Heute haben wir eine historische Chance. In diesem sehr wichtigen Moment werden wir eine neue Verfassung bekommen und wir werden auch eine Transformation in den Stadtteilen der Gemeinde Santiago vornehmen, um unsere Würde und das buen vivir zu erobern - in diesem historischen Moment der Transformation. Wir werden eine Kommune für die Menschen bauen. Wir sind gut in Schwung."
In Richtung der Regierung sagte Irací Hassler am Montag, dass Präsident Piñera zurücktreten sollte: "Ich glaube, dass Piñera heute ein Problem für das Land ist und sein Verbleiben eine permanente Provokation erzeugt. Ich denke, der Präsident hätte schon vor langer Zeit zurücktreten sollen, ich denke, die verfassungsrechtliche Anklage sollte auch ein Werkzeug sein, um ihn herauszuholen", sagte sie.
Siebzehn Aktivist*innen der Kommunistische Jugend Chiles wurden gewählt - in die Verfassungsgebende Versammlung, als Bürgermeister, als Kommunalabgeordnete |
Lautaro Carmona: Die Stimmen für die KP haben sich verdoppelt
"Wir dürften eine der am stärksten vertretenen Parteien sein, wenn wir das an der Wahl der Stadträte messen", sagte der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Lautaro Carmona, und verweist auf die Wahl von sieben Bürgermeister*innen in strategischen Gemeinden und von 10 Konventsmitgliedern unter Berücksichtigung von Unabhängigen, die mit der KP kandidierten. Die Kommunist*innen steigerten ihre Stimmenzahl auf 560.000 und konnten so im nationalen Durchschnitt ihren prozentualen Stimmenanteil mehr als verdoppeln.
In sieben Gemeinden, darunter drei sehr wichtige - Santiago, Lo Espejo und Recoleta -, stellt die KP künftig die Bürgermeister*innen; 157 Kommunist*innen wurden in die Stadt- bzw.- Gemeinderäte gewählt.
"Ich habe keinen Zweifel daran, dass es eine direkte Beziehung zwischen dem politisch-sozialen Kampf und dem politisch-elektoralen Kampf gibt, der die Notwendigkeit der Überwindung des neoliberalen Systems in den Mittelpunkt stellt und tiefgreifende Veränderungen, strukturelle Veränderungen und eine neue Verfassung fordert. Ein politisch-elektoraler Kampf erzeugt keine Veränderungen, wenn er nicht mit anderen Räumen des politisch-sozialen Kampfes verbunden ist. Es ist ein Irrtum der politischen Kultur, sich vorzustellen, dass ein Bleistift und ein Stück Papier die demokratischen Prozesse substanziell verändern, das ist ein Ausdruck, der manchmal ein Tropfen ist, der das Glas zum Überlaufen bringt, aber die Prozesse werden von den Menschen schon lange vorher gelebt."
Lautaro Carmona, Generalsekretär der Partido Comunista de Chile, El Siglo, 20.5.2021
Marcos Barraza meint, dass der Sieg in Santiago die Präsidentschaftskandidatur des Kommunisten Daniel Jadue stärkt. Die Wahl in Santiago, in der ungefähr Drittel der Bürger*innen Chiles leben, habe die "Dimensionen einer nationalen Regierung" und dieser Sieg würde den antikommunistischen Diskurs, dass die Menschen bei solch entscheidenden Wahlen nicht für die Kommunist*innen stimmen würden, demontieren.
"Heute beginnt die Möglichkeit eines realen Wandels in Chile", sagte der kommunistische Präsidentschaftskandidat Daniel Jadue am Sonntagabend, nachdem er zum Bürgermeister von Recoleta gewählt wurde.
Das Wahlergebnis liefert eine Steilvorlage für die kommenden Präsidentschaftswahlen im November 2021, bei der Jadue laut Umfragen derzeit als Favorit gilt.
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