26.08.2021: Während die Welt durch Afghanistan abgelenkt ist, bombardiert die Türkei yezidische Siedlungsgebiete im Irak und Gebiete der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens ++ USA, Russland, EU, NATO - alle schweigen zu den Kriegsverbrechen der Türkei ++ das Schweigen der internationalen Gemeinschaft und der Garantiestaaten des Waffenstillstands in Nordostsyrien ermutigt den türkischen Staat seine Angriffe zu verstärken
Während die Welt von den dramatischen Entwicklungen in Afghanistan abgelenkt ist, bombardiert die Türkei yezidische Siedlungsgebiete im Irak und Gebiete der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens. Mit den Luftangriffen auf das yezidische Kerngebiet Sindschar im äußersten Nordwesten des Irak versuche das NATO-Mitglied Türkei unter der Führung des islamistischen Autokraten Recep Tayyip Erdoğan den Irak weiter zu destabilisieren, sagt Dr. Kamal Sido, Nahostreferent Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).
Im August 2014 überfiel die Terrormiliz Islamischer Staat die Yeziden in Sindschar und verübte einen Völkermord an der Bevölkerung, Tausende Frauen und Mädchen wurden verschleppt. Einheiten der Arbeiterpartei Kurdistans PKK kämpften einen Korridor frei, über den Zehntausende Yezid*innen gerettet wurden. ″Die PKK hat uns vor dem Untergang bewahrt, warum sollten die jetzt abziehen müssen?", fragt sich Kamal Haidar Suleiman, ein ehemaliger Soldat der irakischen Armee. "Die haben uns aus den Händen des IS errettet, haben die Leute auf ihren Schultern über den Berg getragen. Sonst hat uns niemand geholfen, keiner war da. Nur die PKK.″ [1]
Die PKK hat inzwischen längst ihre Einheiten aus Sindschar abgezogen, die Verteidigung haben die Yezid*innen mit den Selbsverteidungseinheiten YBŞ in die eigenen Hände genommen. Trotzdem nimmt die Türkei die angebliche Anwesenheit der PKK zum Vorwand für den Terror gegen die yezidische Bevölkerung.
NATO toleriert türkische Angriffe
Viele Angehörige der yezidischen Religionsgemeinschaft seien wütend auf die NATO-Regierungen, die diese erneuten türkischen Luftangriffe auf die yezidische Minderheit stillschweigend hinnehmen, sagt Kamal Sido. ″Der irakische Luftraum wird weitgehend von den USA kontrolliert. Ohne Zustimmung der USA können keine Flugzeuge eindringen – es wäre also ein Leichtes, die Aggression zu unterbinden″, äußert Sido. Doch der türkische Kriegsminister Hulusi Akar kann sich öffentlich damit brüsten, dass zwanzig Kampfjets sogar die 200 Kilometer von der Türkei entfernte irakische Region der Asos-Berge an der Grenze nach Iran (Ostkurdistan) bombardierten.
Sido weiter: ″Doch offenbar will die NATO die religiösen Minderheiten im Irak genauso wenig vor der Türkei beschützen wie die Menschen im benachbarten Syrien.″ Auch dort würden ethnische und religiöse Minderheiten wie kurdische, assyro-aramäische, armenische, christliche, yezidische oder alevitische Gruppen täglich Opfer von Angriffen türkischer Truppen oder ihrer radikalislamistischen Söldner. ″Diese Angriffe im Irak wie in Syrien sollen eine Atmosphäre der Angst schaffen. Immer mehr Menschen sollen zur Flucht aus der Region getrieben werden. So will Erdoğan seine Einflusssphäre vergrößern″, erklärt Sido zu der Strategie des türkischen Staates, die darauf abzielt, mit ständigem Bombenterror, Wasserentzug, Entführungen etc. die Region zu entvölkern, seine Besatzung auszuweiten und einen demografischen Wandel in den besetzten Gebieten herbeizuführen.
Türkei bombardiert Krankenhaus
Bei mehreren aufeinanderfolgenden Luftangriffen der türkischen Armee auf das Krankenhaus im Dorf Sikêniyê sind am Dienstag vergangener Woche (17.8.) acht Menschen ums Leben gekommen, vier weitere wurden verletzt. Bei den Todesopfern handelt es sich um Kämpfer der ezidischen Widerstandseinheiten YBŞ und Gesundheitsbedienstete. Die Verwundeten sind ebenfalls Angestellte der medizinischen Einrichtung.
Nach dem Angriff, als die Menschen den Verletzten und Sterbenden zu Hilfe eilten, bombardierte die Türkei das Gebiet noch zweimal und verletzte neun weitere Menschen, die versuchten, Hilfe zu leisten.
Eine Frau vor den Trümmern des Krankenhauses: ″Nach dem IS sind wir in unsere Heimat zurückgekehrt und jetzt bombardiert uns der türkische Staat. Was wollen sie von uns Eziden? Die ganze Welt verschließt die Augen vor der Grausamkeit, die uns angetan wird. Es wird von Menschenrechten gesprochen, aber wir Eziden werden ermordet und niemand sagt etwas dazu. Das ist scheinheilig.″ (Quelle: https://anfdeutsch.com/kurdistan/ezidinnen-protestieren-vor-bombardiertem-krankenhaus-27873) |
Einen Tag zuvor wurde im Zentrum von Sindschar City das Fahrzeug einer diplomatischen Delegation von einer türkischen Drohne angegriffen. Der gezielte Anschlag richtete sich gegen den YBŞ-Kommandanten Seîd Hesen (Saeed Hassan) und dessen Neffen Îsa Xwedêda, die auf dem Weg zu einem Treffen mit dem irakischen Ministerpräsidenten Mustafa al-Kadhimi waren. Beide Männer kamen ums Leben, drei weitere Delegierte - Qasim Simo, Shamir Abbas Berjes und Mirza Ali - wurden verletzt. Alle sind Yeziden und irakische Staatsbürger, die seit 2014 gegen den sogenannten Islamischen Staat kämpfen.
Die Explosion des Anschlags verletzte auch drei Zivilist*innen - Mahir Mirza Ali, Media Qasim Simo und Shamil Abbas Brgis -, die für GCS (Global Clearance Solutions) tätig waren. GCS ist eine NGO, die sich auf die Minenräumung in Kriegsgebieten spezialisiert hat, und die Mitarbeiter*innen waren dabei, ein nahe gelegenes Gebäude von Minen zu befreien, die der IS bei seinem Abzug aus der Stadt hinterlassen hatte.
Kriegsverbrechen vor den Augen der Welt
Das Gesundheitskomitee der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans KCK verurteil die Angriffe als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und kritisiert das Schweigen der Weltöffentlichkeit. ″Durch den Angriff auf die Dorfklinik als einem Ort, der eindeutig kein militärisches Ziel darstellt, sowie auf ein ziviles Fahrzeug wurden vor den Augen der gesamten Welt Kriegsverbrechen begangen. Dabei handelt es sich nicht um die ersten Schandtaten der Türkei.″
Ankara führt nicht nur gegen Führungskräfte der Yeziden gezielte Mordanschläge aus. Mit Kampfdrohnen greift das NATO-Mitglied Türkei gezielt Einrichtungen und Fahrzeuge der Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF), den Verteidigungseinheiten der Autonomen Selbstverwaltung sowie zivile Ziele an, bei denen laut Angaben der Militärführung fünf Kämpfer*innen ihr Leben verloren und eine bisher unbekannte Anzahl von Menschen verletzt wurde.
Unter den Toten und Verletzten sind lang gediente und bekannte Kommandant*innen der Frauen- und Volksverteidigungseinheiten YPJ und YPG. Sie leisteten einen entscheidenden Beitrag im Kampf um die territoriale Zerschlagung des selbst ernannten Kalifats des »Islamischen Staates«. So verlor der YPG-Kommandant Rênas Roj am 19. August auf dem Weg zwischen den beiden nordsyrischen Städten Qamischlo und Hasakeh sein Leben, als die Lenkrakete einer türkischen Kampfdrohne sein Fahrzeug traf.
Nur vier Stunden später waren in der Innenstadt Til Temirs Detonationen zu hören, als auch hier türkische Bomben das Zentrum für Außenbeziehungen des christlich-kurdisch-arabischen Militärrates der Stadt in Schutt und Asche legten. Unter den Trümmern starben neben der YPJ-Kommandantin Sosin Bîrhat drei weitere Kämpfer*innen der lokalen Selbstverteidigungsmilizen. Hinzu kommt die Bombardierung des assyrischen Dorfes Til Shanan im Nordosten von Til Temir sowie die Bombardierung von Autos von Personen aus Politik, Militär und Administration in Kobanê und Qamişlo.
Seit Anfang April führt die Türkei einen Invasionskrieg in den von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) kontrollierten Gebieten in Südkurdistan. Bei ihren bislang erfolglosen Angriffen setzt die türkische Armee wieder Giftgas und andere chemische Kampfstoffe ein, um in die Stellungen der Guerillaeinheiten vorzudringen. Weder von Seiten der Europäischen Union, der deutschen Regierung, den NATO-Partnern der Türkei oder den Mainstream-Medien ist Kritik an diesen Kriegsverbrechen zu hören.
Türkei nutzt Afghanistan-Krise
Das Schweigen der internationalen Gemeinschaft und der Garantiestaaten des Waffenstillstands in Nordostsyrien, den Vereinigten Staaten von Amerika und Russland, ermutigt den türkischen Staat, seine Angriffe zu verstärken und die gesamte Region von Efrîn bis Şehba, von Til Temir bis Ain Issa und auch die sich selbst nach dem Modell von Rojava organisierende Shengal-Region (Sindschar) zum militärischen Angriffsziel zu machen.
″Die Vorzeichen stehen auf Eskalation. Die Türkei will die gegenwärtige Afghanistan-Krise nutzen, um ihre Besatzungskriege in Kurdistan auszuweiten. Womöglich wird das AKP-Regime dabei versuchen, die Zustimmung der internationalen Mächte zu erkaufen. Erdoğan hat bereits mehrfach unterstrichen, den Flughafen von Kabul absichern und damit eine Aufgabe übernehmen zu wollen, vor der sich andere internationale Akteure derzeit scheuen. Dazu passt auch das Kooperationsangebot der AKP-Regierung gegenüber den Taliban. Und auch wenn aufgrund der rassistischen Hetzjagden gegenüber syrischen Geflüchteten in der Türkei die AKP derzeit signalisiert, keine afghanischen Flüchtlinge aufnehmen zu wollen, könnte diese Angelegenheit am Ende zur Verhandlungssache mit der EU werden. Soll der türkische Staat abermals Deutschland und die EU vor einer »Flüchtlingswelle« schützen, wird die Türkei mit Sicherheit neben großzügigen Finanzhilfen auch eine politische Zustimmung zu neuen Besatzungsoffensiven in Kurdistan einfordern. Das wissen auch die EU-Staaten, die mit ihrem Schweigen angesichts der Kriegsverbrechen der letzten Tage in Kurdistan bereits ihre Zustimmung hierfür signalisieren″, schreibt Müslüm Örtülü bei Civaka Azad. [2]
Fotos: ANF News https://anfdeutsch.com/
Anmerkungen
[1] ARD, 26.06.17: ″Irak: Kurden gegen Kurden″
https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/sendung/irak-pkk--jesiden-100.html
[2] Civaka Azad, 23.08.21: ″Türkische Drohnenangriffe im Schatten des Afghanistan-Konflikts″
https://civaka-azad.org/tuerkische-drohnenangriffe-im-schatten-afghanistan-konflikts/